Das Yorkshire-Schwein Teresa (13 Jahre alt) wurde auf dem Weg ins Schlacht­haus gerettet und lebt nun auf einem Gnadenhof.

«Wir schaden Tieren nicht aus Notwendigkeit, sondern aus Profit­interesse, Gewohnheit und Ignoranz»

Darf der Mensch Tiere essen, weil er ihnen kognitiv überlegen ist? Das ist die falsche Frage, sagt die Philosophin Friederike Schmitz. Und sie erklärt, warum der Begriff «Tierwohl» sie in Rage versetzt.

Ein Interview von Daniel Graf, Bettina Hamilton-Irvine (Text) und Isa Leshko (Bilder), 08.10.2022

Synthetische Stimme
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Wir stellen die richtigen Fragen. Nicht nur wenn es ums Tierwohl geht. Lernen Sie die Republik jetzt 21 Tage lang kostenlos und unverbindlich kennen:

Frau Schmitz, setzen sich nicht­vegane Freundinnen noch gemeinsam mit Ihnen an einen Esstisch?
(lacht) Ja, das tun die. Wobei wir bei engen Freundinnen die Vereinbarung haben, dass alle dann mindestens vegetarisch essen. Natürlich sind die unter­schiedliche Ernährungs­weise und die jeweiligen Über­zeugungen dahinter eine Differenz, die oft schmerzhaft ist. Und es ist schön, wenn das dann in dem Moment nicht so präsent ist.

Das heisst, Sie versuchen aktiv zu vermeiden, dass es Streit gibt beim Essen über das Essen?
Ja, und dafür zu sorgen, dass diese Differenz nicht so deutlich wird. Denn ich finde es schon traurig, dass Menschen, die ich sehr schätze und die mir wichtig sind, in dieser Hinsicht eine andere Einstellung haben. Dass das, was mich so bewegt, das Leid der Tiere und die Folgen der Tier­haltung, diese Menschen eben nicht so bewegt. Das kann auch für eine gewisse Entfremdung sorgen.

Haben Sie aufgegeben zu versuchen, diese Freunde zu überzeugen?
Teils, teils. Bei den meisten ist es allerdings kein Überzeugungs­problem. Die engen Freunde, die über das Thema schon viel gehört haben, wissen eigentlich, was das Richtige wäre, sie setzen es halt nur nicht praktisch um. Es ist ihnen nicht wichtig genug. Verteidigt wird das Fleisch­essen von niemandem.

Spielen wir mal eine Standard­situation durch. Wenn man im Restaurant vegan bestellt und auf Nachfrage sagt, man sei Veganerin oder Vegetarier, dann sagen Fleisch­esser häufig unaufgefordert: «Ich esse auch nur noch ganz wenig Fleisch und wenn, dann nur Bio.» Was antworten Sie in so einem Moment?
Zunächst einmal zeigt das, dass die Leute erkennen, dass es ein Problem gibt, und ihr eigenes Verhalten nicht einfach unreflektiert gutheissen. Das ist ein Punkt, an den man anknüpfen kann. Ich würde nachfragen, was ihre Motive sind, um zu sehen, inwiefern diese vielleicht auch woanders hinführen könnten, wenn man sie ernst nähme. Dann würde ich auch darauf hinweisen, dass Bio nicht so ist, wie man sich das vorstellt. Ich selber habe auch so angefangen, mit weniger Fleisch. Bis ich gemerkt habe, dass bei Bio die Tiere auch nicht über die grüne Wiese laufen oder länger oder deutlich besser leben. Deswegen habe ich mich entschieden, vegan zu leben.

Sie sagen also, Bio ist gar nicht viel besser als konventionell?
Ja.

Jetzt übertreiben Sie.
Die Bio-Vorschriften geben den Tieren zwar ein bisschen mehr Platz und Auslauf, aber gemessen an den Bedürfnissen der Tiere und dem, was sie machen würden, wenn sie könnten, ist das minimal. Schweinen steht zum Beispiel in der Schweiz weniger als ein Quadrat­meter Auslauf pro Tier zu. Und dieser Auslauf ist keine Wiese, wo sie wühlen oder irgendwas Interessantes machen könnten, sondern typischer­weise einfach ein Aussen­bereich mit betoniertem Boden und ein bisschen Stroh vielleicht. Da können sie ganz zentrale Bedürfnisse nicht ausleben. Auch bei der Bio-Haltung werden Tiere krank, sie ziehen sich Verletzungen zu und werden nach kurzem Leben getötet. Viele zentrale Bedingungen sind sehr ähnlich oder gleich. Insgesamt ist Bio zwar nicht immer genauso schlecht, aber für die Tiere letztlich kaum weniger schlimm.

Zur Person

Alice Baldwin

Die deutsche Philosophin Friederike Schmitz, 40, beschäftigt sich als Autorin und Referentin vor allem mit den Schwer­punkten Ethik der Mensch-Tier-Beziehung sowie landwirtschaftliche Tierhaltung und Agrarwende. Dieser Tage erscheint ihr neues Buch «Anders satt. Wie der Ausstieg aus der Tier­industrie gelingt».

Gerade in der Schweiz ist das Bild von der Landwirtschaft stark geprägt vom Postkarten­idyll mit der Kuh auf der Alp. Glückliche Kühe, heisst es dann. Und tatsächlich hat es so eine Kuh auf der Alp doch besser als im Massentierhaltungs­stall, oder?
Ja, klar. Aber sie hats deswegen immer noch nicht gut. Viele Aspekte ihres Lebens sieht man in diesem Bild nicht. Zum Beispiel, dass die Kühe auf der Alp häufig nicht diejenigen sind, die gerade Milch geben, sondern eben Jungtiere. Man sieht auch nicht, dass auch Weide­kühen die Kälber weggenommen werden, dass sie nach einem kurzen Leben trotzdem in den Transporter gezwungen, zum Schlacht­hof gefahren und da brutal getötet werden. Deswegen ist das Bild auf der Weide unvollständig und irreführend.

Was ist eigentlich mit Fisch? Gar nicht so selten machen Menschen, die eigentlich vegetarisch oder vegan leben, Ausnahmen beim Fisch. Wie erklären Sie sich das?
Dadurch, dass die Fische weiter weg sind, auch emotional. Man fühlt mit ihnen weniger mit. Sie sehen so anders aus, und es war lange umstrittener als bei anderen Tieren, ob Fische empfindungs­fähig sind. Für viele Menschen ist weniger sichtbar, dass auch Fische leiden. Zudem haben viele nicht die Methoden vor Augen, wie Fische gefangen, getötet und teilweise auch gehalten werden. An den Bildern aus den Massentierhaltungs­ställen kommt man ja kaum mehr vorbei. Aber bei der Fischerei denken viele Menschen an kleine Fischer­boote und Angeln – das stellt man sich nicht so schlimm vor, wie es ist.

Wie sieht denn diese Realität aus, die wir uns so falsch vorstellen?
Sehr brutal und leidvoll. Die Fische werden in grossen Mengen aus dem Meer gezogen, in den Netzen ersticken sie häufig, beim Hochziehen der Netze können durch den Druck­unterschied die Schwimm­blasen platzen, die Augen treten aus den Höhlen. Und wenn die Fische dann auf den Booten sind, greifen keinerlei Tierschutz­vorschriften. Entweder ersticken sie langsam oder sie werden sogar lebendig aufgeschlitzt und ausgenommen. Eine Tierschutz­organisation hat kürzlich Videos von Fischer­booten aufgenommen, auf denen man sieht, wie brutal mit den Tieren umgegangen wird. Viele werden einfach platt getreten und wieder durch die Luken zurück ins Meer gestossen. Man geht mit den Tieren um wie mit Waren oder Abfall. Dabei empfinden Fische natürlich Schmerzen, Angst und Qualen, und deswegen ist das für mich überhaupt nicht zu recht­fertigen.

Das Appaloosa-Pferd Buddy (28 Jahre alt) wurde von einem Tierheim übernommen, das ihn nicht mehr weiter pflegen konnte. Das Pferd litt unter einer schmerzhaften Regenbogenhautentzündung und war bereits erblindet. Um seine Schmerzen zu lindern, wurden seine Augen entfernt.
Das Finnschaf Zebulon (12 Jahre alt) wurde von einem Hof gerettet, gegen den eine Untersuchung wegen Tier­quälerei lief. In den ersten acht Monaten seines Lebens wurde es in einem kleinen Käfig gehalten, deswegen leidet es noch heute an einer Arthritis.

Zu den Bildern

Die Bilder zu diesem Interview stammen aus der Serie «Allowed to Grow Old» der US-Fotografin Isa Leshko. Während fast zehn Jahren reiste sie zu verschiedenen Tier-Gnaden­höfen, um ihre alternden Bewohner zu fotografieren. Leshko nahm sich Zeit für die Aufnahmen; ihr Ziel war es, das Wesen der Tiere und ihre Lebens­geschichte einzufangen.

Jetzt könnte man vielleicht argumentieren: Wir können doch nicht auf tierische Ernährung verzichten, weil diese lebens­wichtige Stoffe enthalten. Fische zum Beispiel sind ja wichtige Omega-3-Quellen.
Hierzulande und heute können wir alle diese Stoffe, die in Tier­produkten drin sind, auch ander­weitig gut bekommen. Omega-Fett­säuren zum Beispiel kann man auch über Leinöl, Walnüsse oder Algen aufnehmen. Die Nährstoffe, die die Tiere in sich tragen, kommen ja auch irgendwo her, und häufig kann man sie direkt von den Pflanzen aufnehmen. B12, der einzige Stoff, den man auf jeden Fall supplementieren sollte als Veganerin, wird den Mast­schweinen auch häufig zusätzlich ins Futter gemischt. Dann finde ich es albern, zu sagen: Jetzt muss ich das Schwein essen für das B12, obwohl das Schwein es selber künstlich bekommen hat.

Im Netz boomen Tier­videos, in denen man beobachten kann, welche Lebens­freude Tiere ausstrahlen, wenn sie nicht auf engstem Raum gefangen gehalten werden, sondern Freiraum haben zum Spielen. Wie sie fürsorglich teilen und Sozial­verhalten zeigen. Wie hart ist eigentlich die Grenze zwischen Mensch und Tier?
Es sind graduelle Unterschiede. Es gibt nicht die Grenze, sondern Unterschiede oder Gemeinsamkeiten je nach Fähigkeit. Aber gerade bei vielen Eigenschaften, die moralisch zählen, sind die Unterschiede noch nicht mal graduell. Bei der Intensität von Schmerz etwa: Ich glaube nicht, dass es mir mehr wehtut, wenn ich mich verletze, als dem Schwein. Nun wird in Bezug auf die kognitiven Fähigkeiten oft die Vernunft als kategorialer Unterschied betont. Dass wir eine distanzierte Haltung zu den eigenen Überzeugungen und Wünschen einnehmen können. Selbst­reflexion, der Umgang mit Gründen, überhaupt die Idee, dass es Pro- und Kontra-Argumente gibt und man sich reflektiert dazu verhält – das tun die nicht­menschlichen Tiere wohl tatsächlich nicht. Aber daraus folgt moralisch gar nicht so viel.

Das müssen Sie erklären.
Es ist natürlich hochinteressant, dass wir diese Fähigkeit zur Reflexion entwickelt haben. Aber daraus folgt nicht, dass wir ganz andere Ansprüche hätten, was ein gutes Leben ausmacht. Zu den ethisch relevanten Fähigkeiten und Eigenschaften gehören auch viele andere, die eher unsere tierliche Natur betreffen, wenn man das so unterscheiden will: Sinnes­wahrnehmung, Gefühle, Impulse und so weiter. Die philosophische Idee, dass das Zentrale am Menschen die Vernunft­natur sei, passt natürlich zu dieser starken Abgrenzung von Tieren. Aber wenn wir ehrlich sind: Vernunft, Selbst­reflexion und die Fähigkeit zu argumentieren sind zwar zentrale Aspekte unseres Lebens, aber nicht zu leiden, gute Beziehungen zu haben, Schönes zu erleben, all das ist mindestens genauso wichtig, wenn nicht wichtiger. Und das haben Tiere auch.

Sie sagen also, es ist gar nicht so wichtig, was den Menschen vom Tier unterscheidet, sondern viel wichtiger ist, was uns verbindet?
Genau.

Der Soziologe Dalton Conley antwortet auf die Frage, was den Menschen vom Tier unterscheidet: «Absolut nichts.» Er verweist darauf, dass Wale komplexe soziale Netzwerke aufbauen, Pinguine um ihre Verstorbenen trauern, Delfine Sprache benutzen etc. Müssen wir aufhören, uns Tieren gegenüber überlegen zu fühlen?
Faktisch überlegen sind wir ja. Wir können diese Tiere ausbeuten und töten. Es wäre schon ein zentraler Schritt zu einem besseren Leben für alle, nicht mehr diese Arroganz der Macht auszuüben und einen höheren Respekt für die Tiere und deren Fähigkeiten zu gewinnen. Aber statt zu fragen, ob wir etwas Besseres sind oder gleich wichtig, sollten wir vielleicht einfach sagen: Ja, wir sind alle Wesen mit Empfindungs­fähigkeit, mit Bedürfnissen und Wünschen. Die Frage ist also, wie können wir am fairsten miteinander umgehen?

Und: Wie können wir?
Empathie ist für ein anderes Verhältnis zu Tieren genauso wichtig wie Argumente. Und eigentlich haben wir alle schon Mitgefühl, eigentlich will niemand, dass Tiere leiden – genauso wie die allermeisten Menschen nicht wollen, dass andere Menschen leiden.

Die Holstein-Kuh Bessie (20 Jahre alt) war als Milchkuh auf einer Farm im Einsatz und wurde dafür immer wieder besamt. Sie wurde auf dem Weg ins Schlachthaus gerettet. Die meisten Milchkühe enden in der Fleischverarbeitung.
Hahn, namenlos, Alter unbekannt: Er stammt von einem Massentierhaltungs­betrieb.

Kognitive Überlegenheit ist für Sie also kein Faktor, wenn es um die Frage geht, ob wir Tiere nutzen oder essen dürfen?
Nein, weil es für die Tiere nicht weniger schlimm ist, was mit ihnen passiert, nur weil sie nicht in derselben Weise darüber nachdenken können wie wir. Trotzdem sollte man die Unterschiede nicht komplett leugnen. Wenn man sagt, wir sind alle gleich und wir sind auch nur Tiere – was natürlich stimmt, biologisch –, dann handelt man sich sehr leicht Einwände ein. Dann heisst es: Moment mal, diese ganze Diskussion haben wir ja nur, weil wir Menschen sind und mit Vernunft Ethik betreiben können. Und wenn wir jetzt ethische Regeln aufstellen, müssten die Tiere sich nicht auch daran halten? Diese typischen Einwände: Darf jetzt der Löwe auch nicht mehr das Zebra töten?

Was antworten Sie?
Es ist tatsächlich ein wesentlicher Aspekt, der mit dieser Vernunft­natur einhergeht, dass wir als Menschen solche ethischen Fragen danach, wie wir uns verhalten sollten, verhandeln. Das machen Tiere, soweit wir wissen, nicht. Sie kennen natürlich ebenfalls soziale Regeln, eine Rang­ordnung, Altruismus und Kooperation. Trotzdem würden wir Tiere nicht in derselben Weise für ihr Handeln verantwortlich machen, wie wir das bei Menschen tun. Das ist ein wichtiger Unterschied, den man anerkennen muss. Daraus folgt aber nicht, dass wir deswegen unsere Regeln nicht auf unseren Umgang mit ihnen anwenden sollten. Sondern eher im Gegenteil: Weil wir die Fähigkeit haben, haben wir auch eine Verantwortung. Weil wir es können, müssen wir uns überlegen, wie wir fair mit anderen umgehen.

Ergibt sich daraus auch, dass Tiere, die intelligenter oder empfindsamer sind, keine andere Behandlung verdient hätten? Paul McCartney beispiels­weise isst laut eigener Aussage «nothing with a face», also nichts, was ein Gesicht hat.
Es ist ja schon schwer, festzustellen, wer mehr und weniger empfindsam ist. Noch schwieriger wird es tatsächlich bei Insekten oder Weich­tieren, wo es kein zentrales Nerven­system gibt. Da ist es wissenschaftlich unklar, ob und wie viel diese Tiere empfinden. Dieser Aspekt ist für die ethische Diskussion relevant. Deswegen finde ich es vertretbar, zum Beispiel Insekten nicht genauso stark zu berücksichtigen wie Säuge­tiere. Die Frage ist: Was schulden wir Tieren? Oder auch: Was brauchen sie jeweils? Für Menschen­affen ist die Gefangenschaft auf begrenztem Raum sehr wahrscheinlich noch schlimmer als für andere Säuge­tiere, weil sie durch ihre höheren kognitiven Fähigkeiten auch komplexere Verhaltens­bedürfnisse haben.

Greifen wir noch einmal Ihre eigene Frage auf: Was schulden wir den Tieren?
Wir schulden ihnen faire Berücksichtigung. Dass wir ihnen nicht aus Bequemlichkeit, aus Faulheit, aus eigenen Interessen schaden, sie verletzen, sie töten, nur weil das uns in dem Moment irgendwie nützt. Natürlich wird die Frage ab einem gewissen Punkt kompliziert. Wir können gar nicht leben, ohne Tiere einzuschränken. Es gibt so viele Bereiche, wo wir, selbst wenn wir uns die grösste Mühe geben, nicht drumherum kommen, Tieren zu schaden. Sobald wir uns ein Haus bauen, müssen wir Tiere von dem Land verscheuchen. Sobald wir Land­wirtschaft betreiben, müssen wir sogenannte Schädlinge bekämpfen. Es wäre eine Illusion, zu denken, dass es ein tierleid­freies Leben gibt, es gibt nur Grade der Schädigung. Aber wir sollten versuchen, diese so weit als irgendwie möglich zu reduzieren. Heute beruht der grösste Teil der Schädigungen, die Tiere durch Menschen erfahren, nicht auf einer Notwendigkeit, sondern hat mit Profit­interessen zu tun, Bequemlichkeit, Genuss­interessen, Gewohnheit und Ignoranz.

Da wir nicht die gleiche Sprache sprechen: Kann es mit Tieren überhaupt einen Konsens geben?
Das ist ein echtes Problem: Es kann keinen expliziten Konsens geben. Und es gibt kaum ein Zusammen­leben von Mensch und Tier, das nicht irgendwie ausbeuterisch ist. Aber natürlich sind gewisse Formen von Kommunikation und Abstimmung möglich, beispiels­weise mit Hunden. Tiere sind keine Blackbox, von der man gar nichts weiss. Ein Schwein kann entscheiden, ob es drinnen oder draussen sein will, wie es den Tag verbringen will, und das kann man auch respektieren. Das Problem ist eher, dass die Tiere den Gesamt­bedingungen ihres Lebens nie zugestimmt haben. Diese Grund­frage, «Wolltet ihr überhaupt dieses domestizierte Leben mit uns?», die können sie nicht beantworten. Daraus folgt aber nicht, dass man das Zusammen­leben von Mensch und Tier komplett abschaffen muss.

Sondern?
In der Tierrechts­bewegung ist die Frage umstritten, ob es ein gutes Zusammen­leben geben kann. Sue Donaldson und Will Kymlicka, das kanadische Paar, sagen, wir sollten domestizierte Tiere in unseren Gesellschaften behalten, wir haben die Pflicht dazu. Denn wir lösen das vergangene Unrecht nicht dadurch auf, dass wir sie jetzt aus unserer Gesellschaft wieder entfernen. Insofern glaube ich nicht, dass diese grundsätzlichen Probleme dafür sprechen, dass man gar nicht mehr mit Tieren umgehen sollte. Aber man muss sehr vorsichtig sein und die eigenen Wunsch­vorstellungen und Bequemlichkeiten immer wieder hinterfragen. In der Nutztier­haltung sagen die Leute gern: Ja, das ist halt das Leben, in das sie reingeboren sind, deswegen ist es jetzt auch okay für sie. Hinter dieser Aussage steht natürlich nur das Eigen­interesse an der Nutzung.

Emotional aufgeladene Themen wie Massen­tierhaltung und Ernährung sind immer auch Auseinander­setzungen über Begriffe. Welches Wort treibt Sie zur Weissglut?
Tierwohl.

Warum? Ist doch ein schönes Wort!
Ja, das haben die Tier­haltungs-Lobbyisten gut hingekriegt, nicht? Wenn die Debatte sich darum dreht, dann ist das Problem immer zu wenig Tierwohl, und die Lösung ist mehr Tierwohl. Damit ist man stets auf der positiven Seite: Selbst wenig Tierwohl ist doch eine gute Sache. Von dem Leid der Tiere, den Schmerzen, der Angst und den Qualen, die sie ausstehen, ist keine Rede. Das ist beschönigend. Zudem: «Mehr Tierwohl» heisst dann konkret vielleicht ein paar Zentimeter mehr Platz. Mit den tatsächlichen Bedürfnissen der Tiere hat das wenig zu tun.

Wenn Sie eine Negativ-Hitliste machen müssten und Tierwohl stünde auf Platz eins, welches Wort käme direkt dahinter?
«Artgerecht» ist auch weit oben auf der Liste. Weil es sehr grosszügig verwendet wird, auch für Verhältnisse, unter denen die Tiere ihre arttypischen Bedürfnisse eben nicht ausleben können. Zum Beispiel wird die Bio-Haltung als artgerecht bezeichnet, obwohl die Schweine da nicht wühlen, nicht rennen, nicht ihre Neugier befriedigen können. Ausserdem sind Tiere nicht nur Mitglieder einer Art, sondern Individuen mit unter­schiedlichen Bedürfnissen. Bei Tieren, mit denen wir näher zu tun haben, ist uns das auch völlig klar: dass zum Beispiel nicht alle Hunde das Gleiche brauchen.

Drehen wir die Sache um: Welche Begriffe oder Slogans müssten viel häufiger in der Diskussion auftauchen?
«Tierrechte» sicherlich. Aber auch hier ist es wichtig, dass man das Tier als Individuum in den Vorder­grund stellt. Wir sollten Tiere nicht einfach deshalb wertschätzen, weil wir diese abstrakte Theorie von Tier­rechten haben, die besagt, dass sie Ansprüche haben. Und «Gerechtigkeit» ist ein zentraler Begriff, weil er die politische Dimension betont. Es geht nicht nur um persönliches Verhalten, sondern darum, wie wir uns als Gesellschaft zu den Tieren stellen.

Der Tierrechts­spezialist Gary L. Francione sagt, wir leiden an «moralischer Schizophrenie», da wir zwar alle finden, dass wir Tieren kein unnötiges Leid zufügen sollten – unser Verhalten aber unvereinbar damit ist.
Ja, wir sind sehr gut darin, unsere kognitive Dissonanz zu ignorieren. Das ist in vielen Bereichen so, nicht nur in Bezug auf Tiere, sondern auch beim Umwelt­schutz oder bei globaler Gerechtigkeit. Wir leben mit vielen Wider­sprüchen. Die meisten Menschen sind auch gegen Kinder­arbeit und kaufen trotzdem Produkte, die von Kindern hergestellt wurden.

Was antworten Sie, wenn Leute, die nicht auf Fleisch oder Milch verzichten wollen, damit argumentieren, ihr Verhalten mache ja kaum einen Unter­schied, sie könnten schliesslich nicht alle Probleme der Welt lösen?
Mir ist auch klar, dass mein persönlicher Veganismus nicht die Welt rettet. Trotzdem macht es eben einen Unter­schied, trotzdem zählt jede einzelne Handlung, weil es in der Summe viel ist – das ist ja auch beim Wählen so. Jeder, der vegan lebt, verändert auch die Normalität in seinem Umfeld und trägt dazu bei, dass sich mehr Leute mit dem Thema beschäftigen. Und wenn man sich ernsthaft damit auseinander­setzt, was mit Tieren passiert, dann möchte man irgendwann nicht mehr dazu beitragen – und zwar unabhängig davon, welche realen Auswirkungen das auf die Industrie hat.

Ihr Verhalten ändern trotzdem die wenigsten.
Die meisten Menschen haben das Leid der Tiere noch nicht richtig an sich heran­gelassen, sonst hätten sie auch eine innere Ablehnung. Wir ändern unser Verhalten häufig nicht, weil wir rational überzeugt worden sind, sondern weil wir mal wirklich hingeschaut haben und sehen: Das kann ich nicht mehr mittragen.

Seit Jahren, spätestens seit den Bestsellern von Karen Duve und Jonathan Safran Foer, ist die Debatte um die Nutzung von Tieren im Mainstream angekommen. Trotzdem ist der Anteil der Veganerinnen in der Schweiz noch unter 1 Prozent, in Deutschland etwa bei 2 Prozent. Initiativen wie zuletzt die Massentierhaltungs­initiative in der Schweiz sind krachend gescheitert, obwohl es dabei um unendlich viel kleinere Schritte ging, als Sie sich wünschen würden. Bringt die Tierrechts­bewegung die falschen Argumente oder bringt sie diese Argumente falsch vor?
Wenn ich das wüsste! Es könnte auch sein, dass es die richtigen Argumente sind, aber die Wider­stände einfach zu stark sind. Es gibt wohl leider nicht das eine Argument, das man nur noch aus dem Hut zaubern müsste und dann sind plötzlich alle überzeugt. Es gibt aber trotz allem einen langsamen Fortschritt, der sich beschleunigt und der irgendwann exponentiell wird. Je stärker diese Entwicklung, desto mehr verändert sich auch die Normalität und desto mehr Angebote gibt es beispiels­weise in Restaurants und Kantinen. Der Widerstand ist jetzt noch gross, aber je weiter man kommt, desto einfacher wird es.

Dass eine vegane Ernährung im Interesse der Tiere ist, leuchtet unmittelbar ein. Aber mal ganz egoistisch gefragt: Was hat denn der Mensch davon, wenn er auf Fleisch verzichtet?
Dass er nicht mehr ständig diese Akrobatik der Verdrängung vollziehen muss! Für mich hat es sich sehr befreiend und erleichternd angefühlt, stärker im Einklang mit den eigenen Werten leben zu können. Ich bin überzeugt, dass es für viele Leute ein Aufwand ist, sich immer wieder so abzugrenzen, dieses ganze Leid wegzuschieben. Ich vermute, oft geschieht das aus Angst vor Veränderung. Denn wenn sie das Leid an sich heran­lassen würden, dann müssten sie ihr Leben verändern. Aber die Vorteile gehen weit über dieses Selbst­verhältnis hinaus: Es geht um unsere Beziehungen zu Tieren, zur Umwelt, um das Klima und überhaupt das Verhältnis zur Natur. Ein anderes Verhältnis zur natürlichen Umwelt würde auch für die menschlichen Gesellschaften ein gutes Leben für möglichst viele ermöglichen.

Sie sprachen die gesellschaftlich-politische Dimension an. Was muss sich konkret ändern?
Es braucht nicht nur individuelle Konsum­veränderungen, sondern Massnahmen in den beiden Bereichen Agrar­politik und Ernährungs­politik, die den Abbau der Anzahl gehaltener Tiere und den Abbau des Tier­konsums vorantreiben. In der Agrar­politik könnten das zum Beispiel Ausstiegs­programme für Tierhalterinnen sein, sodass es sich diese finanziell leisten können, aufzuhören, weil sie Entschädigungen bekommen und Alternativen, von denen sie genauso gut oder besser leben können. Entsprechend muss man Subventionen umschichten und Gesetze ändern. Und bei der Ernährungs­politik muss es darum gehen, andere Angebote und Anreize zu schaffen: pflanzliche Gemeinschafts­verpflegung, Aufklärung und Kampagnen für pflanzliche Ernährung, höhere Steuern auf Tier­produkte und Vergünstigung von pflanzlichen Lebens­mitteln. Es gibt viele gute Massnahmen, aber damit wir dahin kommen, braucht es den politischen Willen, und der ist aktuell nur in sehr begrenztem Mass vorhanden. Deshalb brauchen wir stärkere soziale Bewegungen, die Veränderung einfordern und entsprechenden Druck aufbauen.

Sie sagen, der Weg ist noch sehr weit. Was lässt Sie hoffen, dass er trotzdem zum Ziel führt?
Es ist bereits sehr viel passiert. Der Diskurs hat sich schon stark verändert. Was fehlt, ist, dass daraus noch mehr reale Veränderungen werden. Ich sehe die Frage sehr verknüpft mit den anderen grossen Themen unserer Zeit: mit der Klima­frage und der Frage nach sozialer Gerechtigkeit. Überall da gäbe es auch Anlass, die Hoffnung zu verlieren, weil sich viel zu wenig verändert in Anbetracht der Dringlichkeit. Trotzdem hoffe ich auf die Veränderung, weil sie möglich ist. Und weil sich dieser Einsatz lohnt. Auch kleine Veränderungen sind besser, als wenn alles so bleibt, wie es ist. Gleichzeitig frage ich mich: Ist Hoffnung überhaupt etwas Gutes?

Sie haben Zweifel?
Es ist eine grosse philosophische Frage. Das Klima-Buch von Carola Rackete hat nicht ohne Grund den Titel «Handeln statt hoffen». Hoffnung kann auch etwas Beruhigendes haben, das einen am Handeln hindert: Es wird schon irgendwie werden, man muss nicht selbst aktiv werden. Und das ist fatal, weil es jetzt eben den aktiven Einsatz von allen braucht. Richtig ist aber auch: Man wird bestimmt nicht handeln, wenn man gar nicht mehr hofft. Wir brauchen also keine beruhigende, sondern eine aktivierende Hoffnung. In diesem Sinn könnte man auch sagen, Hoffnung ist eine Entscheidung: Ich will mich nicht damit abfinden, dass es so bleibt oder sogar schlimmer wird, und deswegen hoffe ich. Vielleicht gibt es sogar eine ethische Pflicht zur Hoffnung. Denn wenn man sich – wie gewisse Leute in der Klima­debatte – auf den Standpunkt stellt, es ist sowieso schon zu spät, dann lässt sich auch die eigene Untätigkeit rechtfertigen. Also ja, doch … ich glaube, es gibt eine Pflicht zur Hoffnung.

Die Eselin Babs (24 Jahre alt) war als Rodeo-Tier im Einsatz und wurde dabei immer wieder gefesselt, bevor sie gerettet wurde.

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