Binswanger

Freiheit ist sozial

Wir leben in hyperindividualistischen Gesellschaften – und gleichzeitig sind autoritäre politische Bewegungen im Aufwind. Wie ist das möglich? Ein neues Buch gibt Antworten.

Von Daniel Binswanger, 08.10.2022

Synthetische Stimme
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Leben wir nicht – bei allen Krisen und beängstigenden Perspektiven – in einer Epoche, die mehr Freiheiten bietet als jede andere zuvor? In der zum Beispiel die LGBTQIA+-Community einer gesellschaftlichen Anerkennung und Gleich­berechtigung viel näher gekommen ist als jemals in der bisherigen Geschichte? In der die Gleich­stellung zwischen den Geschlechtern zwar nicht durchgesetzt, aber unbestreitbar schon sehr viel weiter ist als noch vor einer Generation? Leben wir, mindestens in den westlichen Demokratien, nicht in einer Gesellschaft, die zwar kälter, härter und kompetitiver geworden sein mag, die aber auch mehr Optionen bietet für freie und sinnvolle Lebens­gestaltung?

Man wird hier kaum mit Nein antworten können, was aber zu einer seltsamen Anschluss­frage führt: Warum dann nehmen autoritäre Tendenzen zu? Warum stösst der liberale Verfassungs­staat wieder auf so zahlreiche, radikale Kritikerinnen: unter Corona-Leugnern, Putin-Versteherinnen, Verschwörungs­theoretikern aller Couleur? Warum haben extremistische Bewegungen so starken Zulauf, warum wird Giorgia Meloni voraus­sichtlich italienische Regierungs­chefin und könnte Donald Trump schon bald wieder ins Weisse Haus einziehen?

Wissen wir die eroberten Freiheiten nicht zu schätzen? Sind sie letztlich eine Über­forderung? Woher kommt die scheinbar so fundamentale Enttäuschtheit?

Die Literatur­soziologin Carolin Amlinger und der Soziologe Oliver Nachtwey sind diesen Fragen in einem neuen Buch mit dem Titel «Gekränkte Freiheit» nachgegangen. Der Untertitel des Werks liefert eine Kurz­formel für ihren Erklärungs­ansatz: «Aspekte des libertären Autoritarismus».

Es handelt sich um eine relativ dickleibige, nicht immer übersichtliche, aber stimulierende Bestands­aufnahme der politisch-sozialen Grund­entwicklungen, die unsere Epoche prägen. Die These von Amlinger und Nachtwey lautet, dass heutige Gesellschaften von einer neuen Dynamik dominiert werden oder vielmehr dominiert zu werden drohen: einem machtvollen libertären Grund­affekt, der mehr und mehr ins Autoritäre kippt.

Zunächst erscheint dies widersprüchlich. Libertäre Ideologien favorisieren einen übersteigerten, ruchlosen, manchmal mit der Anarchie kokettierenden Individualismus. Ihre Anhängerinnen haben im Prinzip das völlig falsche Profil, um sich einer Autorität zu unterwerfen. Für Amlinger und Nachtwey ist dieses scheinbare Paradox jedoch das eigentlich bezeichnende der heutigen Situation: Der starke Individualismus, die flächen­deckende Valorisierung von Eigen­verantwortung und die damit einher­gehende Entwertung von öffentlicher Regulierung und staatlicher Intervention haben die Sehnsucht nach starken Autoritäten neu angestachelt und transformiert.

Auch autoritäre Neigungen nehmen heute individualistischere Formen an: Sie gelten weniger einem «starken Mann» oder einem mächtigen Staat als einer Idee, einer extremen Ideologie, die aggressiv und apodiktisch daherkommt, einer Verschwörungs­theorie zum Beispiel. Sie formieren sich weniger in politischen Parteien und hierarchischen, stabilen Organisationen als in Ad-hoc-Bewegungen wie den Querdenkern. Sie unterwerfen sich nicht einer Autorität, auf die die eigenen Ermächtigungs­fantasien projiziert werden, vielmehr erheben sie die eigene Freiheit, die vermeintliche eigene Souveränität, den Willen, sich auf gar keinen Fall von finsteren Mächten über den Tisch ziehen zu lassen, zum neuen Mass aller Dinge. Zum Beispiel, indem man sich weigert, sich Regeln zu unterwerfen, Corona-Massnahmen zu akzeptieren. Indem man sich selber davon überzeugt, dass alle Wissenschafts- und Medien­diskurse manipulativ und unwahr sind – und man deshalb sein eigenes Wissen und «alternative Fakten» zusammen­zugoogeln beginnt. Indem man seine eigene Freiheit zu einem kuriosen Quasi-Absolutum erhebt – mit einem illiberalen, autoritären Affekt, aber in ideologischem Gleich­klang mit den individualistischen Grund­tendenzen unserer Zeit.

Darin unterscheidet sich der heutige Autoritarismus von älteren autoritären Ideologien, insbesondere vom Faschismus, auch wenn dieser weit davon entfernt ist, heute keine Rolle mehr zu spielen. Amlinger und Nachtwey greifen auch auf klassische Faschismus­theorien zurück, insbesondere auf die Forschungen der Frankfurter Schule.

Schon Horkheimer und Adorno – und im Umfeld der berühmten Studien über den «autoritären Charakter» auch andere Vertreter des Frankfurter Institutes für Sozial­forschung – sind ausgegangen von der «Dialektik der Aufklärung», das heisst von einer zutiefst wider­sprüchlichen Entwicklung der Freiheits­rechte in der modernen Gesellschaft: Sie führten einerseits zur Heraus­bildung von Demokratien und andererseits in den Faschismus.

Gemäss Amlinger und Nachtwey ist die heutige, spätmoderne Gesellschaft dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht mehr den Konformitäts­druck der Industrie- und Massen­gesellschaft der Nachkriegszeit erzeugt, sondern dass sie über Distinktions- und Wettbewerbs­zwang eine Hyper­individualisierung durchsetzt. Diese Hyper­individualisierung ist extrem anfällig für Versagen, für Enttäuschungen – für Kränkung. Es wohnt ihr deshalb ein grosses regressives Potenzial inne. Die nicht eingeholten Versprechungen der Emanzipation führen dazu, dass die Bürgerinnen sich auf unanfechtbare Bezugs­punkte zurückziehen wollen. Und das kann unter heutigen Bedingungen zunächst einmal nur bedeuten: auf sich selbst.

«Die Menschen (…) verteidigen die Freiheit, ihre Freiheit – doch dies auf eine merkwürdig apodiktische, ja geradezu autoritäre Weise», resümieren die Autorinnen.

Dieser Grundgedanke eines anhaltenden, immanenten Wider­spruchs des modernen Emanzipations­gedankens ist wichtig und fruchtbar. Er schliesst in der Tat an die frühen Faschismus­theorien der Frankfurter Schule an, auch wenn das sehr ausführliche Referat dieser historischen Theorie­diskurse bei Amlinger und Nachtwey weit über das hinausgeht, was nötig gewesen wäre, um ihre eigene Konzeptualisierung herzuleiten. Beeindruckend sind an ihrem Buch vor allem die empirischen Fallstudien, ausführliche Gespräche mit Menschen aus der Querdenker-Szene, deren Biografie und ideologisches Profil differenziert und überzeugend dargestellt werden.

Das Zentrum von Amlingers und Nachtweys eigener Theoretisierung bildet der Begriff der «verdinglichten Freiheit». Sie greifen damit explizit die Theorie der Verdinglichung des Philosophen Georg Lukács wieder auf: Die Verdinglichung der Freiheit soll besagen, dass «Freiheit» heute eine Art «Gegen­ständlichkeit» angenommen hat, nicht mehr als eine bestimmte Art der sozialen Beziehung aufgefasst wird, sondern nur noch als eine individuelle Errungenschaft. Als etwas, was der Einzelne im Konkurrenz­kampf gegen seine Mitstreiterinnen erobern muss, was ihm als Besitz­stand und persönliche Auszeichnung gehört – und von der Gesellschaft nur beschnitten und geraubt werden kann. Dabei, so Amlinger und Nachtwey, ist Freiheit eine Qualität selbst­bestimmter und produktiver sozialer Beziehungen – nicht eine Glorifizierung der Vereinzelung.

Die affirmative Vereinzelung, «ein verdinglichtes Freiheits­verständnis, das die sozialen Bindungen abwehrt», ist jedoch der Kern des neuen Autoritarismus und erklärt auch, weshalb die Mobilisierung gegen den Staat, gegen sämtliche Formen kollektiver Aktion im Namen des Gemeinwohls der neue ideologische Kerngehalt des autoritären Gedanken­guts darstellt.

Die klassischen autoritären Bewegungen leben von der Identifikation mit einem allmächtigen Führer-Staat. Heute leben sie von einem enttäuschten Hyper­individualismus, der in aggressives Ressentiment umschlägt.

Dieses Grundelement von Amlingers und Nachtweys Analyse ist wichtig – und erlaubt ihnen einen erhellenden Zugriff auf die aktuellen politischen Radikalisierungs­tendenzen, an deren widersprüchlichem Wesen die Beobachter häufig scheitern. Wir alle kennen die häufig konfusen Debatten: Haben wir es nun zu tun mit Faschismus oder mit Post­faschismus? Mit esoterischen Spinnern oder gefährlichen Rechts­extremen? Und wie schaffen es heutige Gesellschaften, gleichzeitig so hyper­individualistisch zu bleiben und so illiberal zu werden?

Allerdings zeugt auch dieses sehr lesenswerte Werk stellenweise von der dominierenden Konfusion. Es ist eher eine Bestands­aufnahme der neuen politischen Entwicklungen als ein schlüssiges Erklärungs­modell. Sind strukturelle ökonomische Faktoren oder gesellschaftliche Werte­verschiebungen für die neue Radikalisierung verantwortlich? Bei Lukács ist der Begriff der «Verdinglichung» eingebettet in einen marxistischen Theorie­rahmen. Bei Amlinger und Nachtwey ist dem selbstverständlich nicht mehr so. Der Transfer des Begriffs ist nicht illegitim. Aber wie viel Erklärungs­kraft hat «Verdinglichung» dann noch?

Teilweise scheinen sich die Autoren in ihrer ausgedehnten Kritik und Diskussionen anderer Theorie­positionen auch in Verkürzungen und Wider­sprüchen zu verheddern. So ist es einerseits ihr Kernanliegen, den Theorie­ansatz der Frankfurter Schule weiter fruchtbar zu machen, aber sie finden sich auch in erklärungs­bedürftiger Gegen­stellung zu Jürgen Habermas, deren immer noch bedeutendstem Vertreter.

Habermas hat in seinem kürzlich publizierten «Ein neuer Struktur­wandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik» die gefährdete Unter­scheidung zwischen citoyen und bourgeois als Funktions­voraussetzung für den liberalen Verfassungs­staat ins Zentrum seiner Gegenwarts­diagnose gestellt. Er betrachtet es als das Haupt­problem des heutigen öffentlichen Diskurses, dass die Grenze zwischen privater und öffentlicher Kommunikation insbesondere aufgrund der Dominanz sozialer Medien immer diffuser und durchlässiger geworden ist.

Amlinger und Nachtwey weisen das Insistieren auf dieser Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Kommunikation – allerdings in einer Kritik an Richard Sennett, nicht mit direktem Bezug auf Habermas – mit aller Entschiedenheit zurück. Sie kritisieren sie als «konservative Gesellschafts­kritik», weil sie den «emanzipatorischen Gehalt» der neuen Valorisierung von Privatheit und Authentizität nicht adäquat reflektiere. Niemand kann bestreiten, dass die Bedeutung von privaten Präferenzen, wie sie sich seit den Siebziger­jahren zunehmend durchsetzt, eine politische Errungenschaft ist. Aber müsste das nicht getrennt werden von der Frage, welche Rolle sie spielen soll in der politischen Öffentlichkeit?

Stimulierend an der «Gekränkten Freiheit» bleibt, dass sie mit der Dialektik der Aufklärung wirklich ernst machen will. Es könnte durchaus sein, so die Autorinnen, dass «wir nicht mehr zu Normalität zurück­kehren», dass der libertäre Autoritarismus eine feste Grösse der politischen Auseinander­setzung bleibt – und sich nach Corona nun am Russland-Ukraine-Krieg und zunehmend wohl auch an der Klima­politik entzünden wird.

Aber dennoch werden alle kommenden Auseinander­setzungen – wenn wir es schaffen, den öffentlichen Diskurs zu erhalten, und wenn es weiter möglich bleibt, in echten politischen Alternativen zu denken – das Potenzial für weiteren emanzipatorischen Fortschritt bergen. Entscheidend ist, dass wir Freiheit auch in Zukunft «als etwas zutiefst Soziales begreifen».

Illustration: Alex Solman

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