Was diese Woche wichtig war

Ukraine erobert Lyman, Brasilien wird den Bolsonarismus nicht los und in Gross­britannien stürzen die Tories ab

Woche 40/2022 – das Nachrichten­briefing aus der Republik-Redaktion.

Von Philipp Albrecht, Reto Aschwanden, Bettina Hamilton-Irvine, Carlos Hanimann, Boas Ruh und Jana Schmid, 07.10.2022

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Ukraine: Kiew erzielt weitere Gelände­gewinne, Russland formalisiert Annexion

Das Kriegs­geschehen: Der ukrainische Vormarsch geht weiter. Über das Wochen­ende wurde die strategisch wichtige Stadt Lyman im Osten des Landes zurück­erobert. Am Samstag hatte das russische Verteidigungs­ministerium erklärt, seine Truppen zurückzu­ziehen, um einer Einkesselung zuvorzu­kommen. Am Sonntag erklärte Präsident Wolodimir Selenski, die Stadt sei «vollständig geräumt». Nach der Einnahme Lymans liegen nun auch wichtige Ortschaften in der russisch annektierten Region Luhansk in Reichweite der ukrainischen Armee.

Auch im Süden erzielen die ukrainischen Truppen kilometer­weise Gelände­gewinne. Dort rücken die Soldaten in Richtung Cherson vor. Die Hafen­stadt im Mündungs­gebiet des Dnipro, in der sich starke russische Einheiten aufhalten, ist unter Beschuss. Entlang des Flusses haben die Russen zunehmend Mühe, ihre Stellungen zu halten, weil ihre Nachschub­wege unter­brochen sind.

Russland hat nach ukrainischen Angaben in der Nacht auf Mittwoch Ziele in der Nähe von Kiew angegriffen, und zwar mit Kamikaze-Drohnen, die vom Iran geliefert worden sein sollen. Zudem führen russische Einheiten weiter eine Offensive im Donbass fort, allerdings kommen sie dabei nur stockend voran.

Humanitäre Hilfe nach der Befreiung: Strassen­szene in Lyman am Dienstag dieser Woche. George Ivanchenko/EPA/Keystone

Die Annexion: Mit der Unterschrift von Präsident Wladimir Putin ist die russische Annexion von vier ukrainischen Gebieten seit dieser Woche formal vollzogen. Russland betrachtet Cherson, Saporischschja, Luhansk und Donezk damit als eigenes Staats­gebiet. Allerdings hat die Armee längst nicht über alle diese Gebiete die Kontrolle, aus manchen ist sie von ukrainischen Truppen wieder vertrieben worden. Trotzdem stehen sie nun unter dem Schutz der Atom­macht Russland. Putin hat erklärt, ein Angriff auf die Territorien würde wie eine Attacke gegen Russland gewertet, und hat angekündigt, das Land mit allen Mitteln zu verteidigen. Die Uno bezeichnet die Einverleibung als Bruch des Völker­rechts. Der ukrainische Präsident Selenski hat als Reaktion auf die Annexion per Dekret verfügt, dass es unter Umständen Verhandlungen mit Russland, keinesfalls aber mit Präsident Putin geben könne.

Weitere Entwicklungen: Die Nato hat erklärt, ein neu aufgebauter Gefechts­verband in der Slowakei sei nun einsatz­bereit. Eine unlängst beendete Übung habe gezeigt, dass man nun die Aufgaben zum besseren Schutz der Ostflanke erfüllen könne.

Die EU-Staaten haben sich auf ein weiteres, das achte Sanktions­paket gegen Russland geeinigt. Unter anderem billigten sie am Donnerstag die rechtlichen Rahmen­bedingungen, um einen Preisdeckel für russisches Öl einzu­führen. Diesen Preisdeckel unter­stützten auch die G-7-Staaten.

Die US-Geheim­dienste gehen davon aus, dass Teile der ukrainischen Regierung verantwortlich sind für den Anschlag mit einer Autobombe, bei dem im August Darja Dugina getötet wurde. Der Anschlag ereignete sich in der Nähe von Moskau und galt womöglich eigentlich Duginas Vater, dem Ultra­nationalisten Alexander Dugin.

Die russische TV-Journalistin Marina Owsjannikowa, die Mitte März live in einer Nachrichten­sendung gegen den Krieg protestiert hatte, ist aus dem Hausarrest geflohen und mit ihrer Tochter unter­getaucht. Nun ist sie zur Fahndung ausgeschrieben, ihr drohen bis zu zehn Jahre Haft.

Grossbritannien: Liz Truss macht kehrt und strauchelt weiter

Darum geht es: Nach nur einem Monat im Amt steckt Premier­ministerin Liz Truss schon in einer schweren Krise. Vor zwei Wochen hatte ihre Regierung Steuer­senkungen für Spitzen­verdiener im Umfang von 45 Milliarden Pfund angekündigt. Ökonominnen und Rating­agenturen reagierten entsetzt, das Pfund rasselte auf ein Rekord­tief. Truss räumte Fehler ein, hielt aber noch am Sonntag an ihren Plänen fest. Am Montag kam dann die Kehrt­wende: Finanz­minister Kwasi Kwarteng verkündete, die Pläne würden fallen gelassen.

Premierministerin Liz Truss – hier beim Parteitag der Tories am 2. Oktober 2022 – verliert selbst in den eigenen Reihen an Rückhalt. Stefan Rousseau/Press Association Images/Keystone

Warum das wichtig ist: Gross­britannien leidet unter der schwersten Wirtschafts­krise seit Jahr­zehnten und hoher Inflation. Das Land bräuchte eine starke, handlungs­fähige Regierung. Doch das Vertrauen in die neue Premier­ministerin hat durch ihren Zickzack­kurs bereits stark gelitten. Der «Spiegel» titulierte Truss diese Woche in Anspielung auf Maggie Thatcher kalauernd als «eiernde Lady». Die Zustimmungs­werte aus der Bevölkerung liegen laut Umfragen tiefer als jene des Ex-Premiers Boris Johnson kurz vor dessen Rücktritt. Auch aus der eigenen Partei kommt Gegenwind. Die nun zurück­gezogenen Pläne für Steuer­senkungen waren auch von Tories kritisiert worden. Der ehemalige Minister Grant Shapps munkelte bereits von einem möglichen Misstrauens­votum aus den eigenen Reihen.

Was als Nächstes geschieht: Am Mittwoch hielt Liz Truss am Parteitag der Tories eine Rede. Sie verteidigte dabei ihren politischen Kurs, sagte der Wirtschafts­krise den Kampf an und versprach «Wachstum, Wachstum, Wachstum». Doch die Premier­ministerin ist eine Hypothek für ihre Partei. Ende September gaben in einer Umfrage 54 Prozent der Teilnehmerinnen an, wenn jetzt das Unterhaus neu gewählt würde, dann ginge ihre Stimme an die oppositionelle Labour­partei. Die Tories kämen gerade mal auf 21 Prozent. Zwar stehen diese Wahlen erst in spätestens zwei Jahren an. Ob sich Truss aber so lange an der Spitze ihrer Partei halten kann, scheint zumindest fraglich.

Brasilien: Lula führt nach dem ersten Wahlgang, aber der Bolsonarismus ist stärker denn je

Darum geht es: Bei den Wahlen in Brasilien hat der frühere Präsident und ehemalige Gewerkschafter Luiz Inácio Lula da Silva am meisten Stimmen geholt. Er liegt mit 48,4 Prozent aber nur 5 Prozent­punkte vor dem amtierenden Präsidenten Jair Bolsonaro. Die meisten Umfragen hatten Lula über 10 Prozent Vorsprung prognostiziert. Lula und Bolsonaro treten am 30. Oktober in der Stichwahl gegen­einander an.

Anhänger von Luiz Inácio Lula da Silva feiern nach der Schliessung der Wahl­lokale in Rio de Janeiro die Teil­ergebnisse – sein Vorsprung auf Bolsonaro ist aber kleiner als erwartet. Silvia Izquierdo/AP Photo/Keystone

Warum das wichtig ist: Brasilien ist das grösste, wirtschaftlich wichtigste und einfluss­reichste Land Latein­amerikas und hütet mit dem Amazonas die weltweit grösste Fläche an Regenwald. Seit 4 Jahren wird das Land vom Rechts­populisten Jair Bolsonaro regiert. Unter ihm wurde der Amazonas so stark abgeholzt wie seit 15 Jahren nicht mehr, die Zahl der bewaffneten Bürgerinnen stieg um 500 Prozent, Hunger und Armut kehrten zurück, in der Pandemie starben fast 700’000 Menschen mit Covid, die Bevölkerung ist politisch tief gespalten. Unklar ist im Moment, wie Bolsonaros Anhänger auf eine Niederlage ihres «Mythos» reagieren würden: Im Vorfeld des ersten Wahlgangs hatte etwa ein Parlamentarier aus Bolsonaros Partei offen mit dem Griff zur Waffe gedroht, sollte der Präsident nicht wieder­gewählt werden.

Was als Nächstes geschieht: Zwar deutet im Moment vieles darauf hin, dass Lula Bolsonaro ablösen könnte, aber der Bolsonarismo, die politische Bewegung und Kultur rund um den Präsidenten, wird deswegen nicht verschwinden. Die Liberale Partei PL des Rechts­populisten wird neu in beiden Parlaments­kammern am meisten Abgeordnete stellen und ist damit die stärkste Fraktion. Dahinter folgt Lulas Links­bündnis Hoffnung Brasilien. Eine entscheidende Rolle werden mehrere konservative Zentrums­parteien spielen – denn wer künftig regiert, wird sich mit ihnen arrangieren müssen.

Credit Suisse: Absturz an der Börse

Darum geht es: Die Erholung der stark gebeutelten Schweizer Grossbank verzögert sich weiter. Am Montag verlor die Aktie der Credit Suisse (CS) nach Handels­beginn 10 Prozent ihres Werts. Dem Kurszerfall ging ein Memo voraus, das CS-Chef Ulrich Körner Ende letzter Woche an die Belegschaft verschickt hatte. Darin hielt er fest, dass es dem Unter­nehmen besser gehe, als der aktuelle Kurs vermuten lasse. Die Märkte deuteten diese Aussage allerdings als Zeichen der Schwäche.

Warum das wichtig ist: Der jüngste Absturz begräbt die Hoffnungen auf eine baldige Wende zum Besseren. Die Credit Suisse ist für die Schweiz too big to fail, weil ein grosser Teil der Wirtschaft auf die Bank als Kredit­geberin und Vermögens­verwalterin angewiesen ist. Der Fall zeigt auch, wie schwierig die Kommunikation in Zeiten der Krise ist. Körner beabsichtigte mit seinem Memo, Unsicherheiten in der Belegschaft über den seit Monaten fallenden Aktien­kurs zu beseitigen. Doch das Schreiben fand seinen Weg zur Nachrichten­agentur Reuters und führte daraufhin zu wilden Spekulationen auf Twitter und Reddit.

Was als Nächstes geschieht: Am 27. Oktober publiziert die Credit Suisse ihre Unternehmens­zahlen für das dritte Quartal und will dabei auch aufzeigen, wie sie aus der Krise finden will.

Zum Schluss: Vom Twitter-Clown zum Viersterne­general

Muhoozi Kainerugaba ist erstens Chef der ugandischen Land­streitkräfte. Zweitens ist er als ältester Sohn von Langzeit­herrscher Yoweri Museveni ein aussichts­reicher Kandidat fürs Präsidentenamt. Und drittens ist er ein fleissiger Twitterer mit einem etwas eigenen Humor. Am Sonntag bot der Spassvogel der italienischen Wahl­siegerin Giorgia Meloni 100 Nkore-Kühe an. Das seien «die schönsten Kühe der Welt» und ein übliches Geschenk für «a girl you like». Von Meloni ist keine Reaktion bekannt. Gar nicht witzig fanden auf jeden Fall die Kenianer einen Tweet, den Kainerugaba am Montag absetzte. Darin erklärte der Präsidenten­sohn, er könnte die Hauptstadt Kenias in weniger als zwei Wochen einnehmen. Auch der Herr Papa konnte darüber nicht lachen, zumindest nicht öffentlich, und darum entliess er den Sohne­mann als Chef der Land­streitkräfte – und ernannte ihn im Hand­umdrehen zum Viersterne­general. Die Wegbeförderung erklärte Museveni mit einer «erprobten Formel», wonach das Negative geschwächt und das Positive gestärkt gehöre. Womöglich meinte er das ernst. Allerdings scheint der Hang zum Humoristischen in der Familie zu liegen. Unter­schrieben hat Museveni seine Verlaut­barung mit den Worten: «The old man with a hat».

Was sonst noch wichtig war

  • Die Corona-Lage: Plus 50 Prozent im Vergleich zur Vorwoche: Die Zahl der positiven Tests schnellt hoch. Plus 46 Prozent sind es bei den Covid-Patientinnen, die in Spitälern behandelt werden. Kleiner Lichtblick: Die Zahl der Covid-Kranken auf Intensiv­stationen sank um 22 Prozent. Die Aussichten aber verdunkeln sich: Die Zahl der Neu­infektionen dürfte sich alle 12 Tage verdoppeln. In den Nieder­landen sprechen die Behörden bereits davon, dass die Herbst­welle begonnen habe.

  • Energie: Opec Plus hat sich auf eine Reduktion der Ölförderung verständigt. Damit reagiert das Kartell, das einen Markt­anteil von 40 Prozent hat, auf die in letzter Zeit gesunkenen Preise. Opec Plus umfasst neben den Opec-Staaten in Afrika und im Nahen Osten unter anderem auch Russland.

  • China: Eine Mehrheit der Mitglieds­länder hat es abgelehnt, dass der Menschenrechts­rat der Uno über die Situation der Uiguren in China debattiert. Damit verschwindet der Bericht, in dem Uno-Menschenrechts­kommissarin Michelle Bachelet scharfe Kritik an Pekings Umgang mit der muslimischen Minderheit geäussert hat, buchstäblich in der Schublade.

  • EU: Ab 2024 ist ein einheitliches Ladekabel vorgeschrieben. Das hat das EU-Parlament beschlossen. Die Zustimmung der Staaten steht noch aus, gilt aber als Formsache. Auch in der Schweiz dürften künftig nur noch Geräte auf den Markt kommen, die mit USB-C-Kabeln geladen werden können.

Die Top-Storys

Der Neandertaler in uns Svante Pääbo erhält den dies­jährigen Nobelpreis für Medizin. Der Paläo­genetiker hat das Erbgut von Neander­talerinnen analysiert und fest­gestellt: Noch heute steckt in vielen von uns ein Stück Neandertaler. Wie es dazu kam und warum Neandertaler-Gene das Risiko auf schwere Verläufe nach einer Corona-Infektion erhöhen, hat Pääbo schon letztes Jahr dem Wissenschafts­magazin «Spektrum» erzählt.

Von wegen Genie Elon Musk will Twitter nun doch kaufen. Doch bevor das am Dienstag bekannt wurde, bekam die Öffentlichkeit einen Einblick in das Smartphone des Tech-Milliardärs – ein Gericht hatte im Zusammen­hang mit dem Zwist um den Twitter-Kauf Hunderte von SMS und E-Mails veröffentlicht. Was lernt man daraus? Vor allem, dass Musk, der sich gern als Genie sieht, ziemlich banale Konversationen führt. Wer auch immer sagte, beim Brain­storming gäbe es keine schlechten Ideen, habe nie Zugang zu Elon Musks Handy gehabt, schreibt das Magazin «The Atlantic».

«Tu doch nicht so» Sie steckt sich bei der Arbeit im Pflegeheim an und erholt sich nicht mehr. Wegen Long Covid verliert sie ihre Stelle. Doch die IV will nicht bezahlen. Die WOZ über den Leidensweg von Menschen, die sich nicht wirklich erholen können und nicht die Hilfe erhalten, die sie bräuchten.

Illustration: Till Lauer

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