Ein trauriges Schauspiel

Die Theater­saison hat begonnen, doch viele Häuser kämpfen mit rückläufigen Besucher­zahlen. Bleibt das so? Stichproben in Basel, Bern und Zürich.

Von Tobi Müller, 05.10.2022

Synthetische Stimme
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Es ist eigentlich ein Traum, in der Schweiz die Auslastung eines Theaters zu recherchieren. Weil es kaum Arbeit macht. Auf den Websites sind die Geschäfts­berichte gut zu finden – inklusive der Zuschauer­statistiken in absoluten Zahlen und die Auslastung in Prozenten, oft sogar für einzelne Produktionen. Wer ein bisschen Übung hat, kann auch die detail­reichen Bilanzen lesen (wie viel Geld wo eingenommen, ausgegeben, zurückgestellt oder zurückgezahlt wurde).

Deutsche Theater könnten sich eine Scheibe abschneiden von den Schweizer Gebräuchen, was Transparenz angeht. Denn eigentlich sollte der freie Zugang zu den aufgeschlüsselten Zahlen eine Selbst­verständlichkeit sein, wenn so viel öffentliches Geld in die Theater­häuser fliesst.

In der aktuellen Lage kippt der Traum helvetischer Klarheit allerdings in einen Albtraum. Die Theater leiden unter Publikums­schwund, die Zahlen sind, sagen wir einmal: nicht gut, auch wenn die Häuser die Kennziffern nur tröpfchen­weise durchsickern lassen. Und oft so, dass man sie kaum vergleichen kann. Üblich ist – das muss man zur Recht­fertigung dieser Kommunikations­praxis hier anmerken –, dass die eingangs gelobten Geschäfts­berichte erst Ende Jahr herauskommen, wenn die Kontroll­gremien alle Angaben geprüft und die Rechnung genehmigt haben. Je nach Rechts­form der Theater ist das ein Verwaltungsrat wie im Schauspiel­haus Zürich und im Theater Basel, während für die Bühnen Bern ein Stiftungsrat zeichnet.

So bleibt vorderhand die Lage verworren. Die prozentuale Auslastung aller in den Verkauf gelangten Plätze zum Beispiel verliert ihre Aussage­kraft, wenn wir nicht wissen, wie viele Plätze jeweils in den Verkauf gehen durften in der Spielzeit 21/22.

Ein Rechen­beispiel: Wenn in einem Saal für 800 Zuschauerinnen aus pandemischen Gründen nur 50 Plätze verkauft werden, ist mit 50 Leuten eine Auslastung von 100 Prozent erreicht. Erkenntniswert: null.

Und ein Gesamt­total der Zuschauer sagt nichts über das Verhältnis von Publikums­zuspruch und Gesamt­angebot. Bei Drei- oder Viersparten­häusern, wo Oper, Tanz und Konzert zum Schauspiel dazukommen, wird die Lage noch komplexer.

Die grosse Gereiztheit

Freundlicherweise haben das Schauspiel­haus Zürich, die Bühnen Bern und das Theater Basel ihre kaufmännischen Abteilungen gebeten, der Republik noch vor der Veröffentlichung der Geschäfts­berichte ein paar Zahlen zu nennen. Doch auch aus diesen kategorial sehr unterschiedlichen Zahlen ist es nicht einfach, ein klares Bild zu gewinnen.

Die Theater­kritik muss zudem aufpassen, sich nicht quasi mutwillig zu verrechnen. Hämisch wirken etwa Vergleiche der «Basler Zeitung», die 180’000 Zuschauerinnen vor Corona den 13’000 einer aus Infektions­schutz­gründen so gut wie geschlossenen Spielzeit gegenüberstellt.

Man sollte wohl auch die Krise der Theater­kritik nicht verschweigen, wenn man über die Krise der Theater sprechen will. Eine Zeitung, die heute noch Besprechungen von einzelnen Inszenierungen veröffentlicht, tut dies in der Regel aus Idealismus: weil sie glaubt, die Abbildung der Bühnen­kunst gehöre zum publizistischen Auftrag. Die grossen Strassen­feger waren Theater­kritiken zwar vermutlich noch nie, aber unter digitalen Bedingungen, wenn jeder Klick registriert wird und die Einschalt­quote immer vorliegt, lässt sich auch nicht mehr übersehen, in welchem Mass diese Bericht­erstattung zum Minderheiten­programm geworden ist.

Kurz: Der Theater­kritik geht es deutlich schlechter als den Theatern, und das Verhältnis zwischen den beiden ist so schief wie noch nie. Grosse Gereiztheit, auf beiden Seiten.

Erst kürzlich sorgte der belgische Extremperformer Benny Claessens für Aufmerksamkeit, der im Zürcher Theater Neumarkt Regie führte und eine in der Schweiz lebende Kritikerin auf Facebook in Worten beleidigte, die einen Kritiker zu Recht den Job kosten würden (der Post wurde mittlerweile gelöscht). Das Kunstfest Weimar wollte gar «rechtliche Schritte» prüfen gegen eine gesprochene Radio­kritik, die unter anderem sagte, eine Produktion sei nicht state of the art gewesen. Und Karin Beier, erfolgreiche Regisseurin und in Hamburg Intendantin einer der wichtigsten deutsch­sprachigen Bühnen, bezeichnete die Kritik vor einem Jahr pauschal als «Scheisse am Ärmel der Kunst».

Die aktuellen Kultur­kämpfe laden die ganze Debatte noch einmal zusätzlich auf: In der FAZ vom Dienstag wird nicht nur der Publikums­schwund beklagt, sondern auch der angebliche Grund für diese Fehl­entwicklung gleich benannt. Man ahnt es schon, schuld sei der politische Aktivismus, die Wokeness, die ideologische reine Lehre, die das Publikum vertreiben. Die «Süddeutsche Zeitung» hat dieses Leitmotiv bereits im Frühjahr eingeführt, die FAZ zieht nun nach. Bleiben die Theater leer, weil ihr Programm politisch zu absehbar geworden ist? Diese Fragen darf man sicher stellen. Aber man sollte sich vor vorschnellen Antworten hüten.

Realer Rückgang

Die Stimmung ist angespannt, Häme ganz und gar nicht angezeigt. Was sich aber mit aller rechnerischen Vorsicht sagen lässt und was man folglich auch sagen sollte: Die grossen Schauspiel­bühnen in Bern, Basel und Zürich verzeichnen in der vergangenen Spielzeit zwischen 15 und 20 Prozent weniger Zuschauer, was zum einen aus der Platz­auslastung, zum anderen aus den absoluten Publikums­zahlen hervorgeht.

Es kommen weniger Leute ins Theater, auch nachdem die Kapazität der Häuser wieder gestiegen oder auf die volle Platzzahl hochgefahren worden ist. 20 Prozent Schwund, das ist keine Kleinigkeit, manche Häuser landen damit bei um die 60 Prozent Auslastung. Wenn sich dieser Trend weiter fortsetzt, bekommen die Schauspiel­stätten in der Schweiz ein Problem.

Das Schauspielhaus Zürich, das grösste und reichste reine Schauspiel­theater der Schweiz, legt etwas detailliertere Zahlen vor. Sie bestätigen einen Befund, den ich an anderer Stelle bereits in Deutschland recherchiert habe: #publikumsschwund müsste anders heissen, nämlich #publikumsschwankung. Konkret in Zürich: Die absoluten Publikums­renner der letzten Spielzeit hiessen «Wilhelm Tell», «Der Besuch der alten Dame» und das Jugendstück «Bullestress».

Berühmte Handlung, berühmte Regie: «Wilhelm Tell» am Schauspiel­haus Zürich, inszeniert von Milo Rau. Flavio Karrer/Schauspielhaus Zürich

Es wirkt auf dem Papier vorhersehbar, wenn die Schweizer Klassiker und das Dialektstück derart ziehen an der Kasse. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, denn die Regisseurinnen waren entweder sehr prominent wie Milo Rau mit Schiller und Nicolas Stemann mit Dürrenmatt oder gut eingeführt beim Publikum wie die Baslerin Suna Gürler. Ein braves Spiel vom Blatt ist am Schauspiel­haus ohnehin bei keiner Produktion zu erwarten. Aber berühmte Schweizer Stoffe und berühmte Regie, das zieht am Ende doppelt.

Top oder Flop

Entscheidend bei der Sache ist: Hinter den Publikums­rennern, die es nach wie vor gibt, werden die Abstände grösser. Zwischen der Spitze und den Ausläufern in der Kurve ist viel mehr Platz als früher.

Als der Zürcher Co-Direktor Nicolas Stemann, die Presse­sprecherin Seta Thakur und ich per Video telefonieren, gibt es da zunächst etwas Unklarheit. Stimmt nun auch für Zürich, was in vielen andern Theatern zu beobachten ist, nämlich dass die Schere zwischen Hit und Nicht-Hit grösser wird? Doch, das stimme schon, bestätigt Thakur schliesslich.

Es sind zum Teil extreme Schwankungen. Das Schauspiel­haus Zürich erklärt das vor allem mit der Nachwirkung der Pandemie, die nicht aus der Gleichung rauszurechnen sei, wie denn auch. Am Anfang der Saison hat sich das Haus selbst Platz­beschränkungen auferlegt (was die Zuschauerzahl drückt, aber die prozentuale Auslastung hebt). Aber die Selbst­beschränkung hat dem Publikum eine gewisse Sicherheit gegeben, gerade als Anfang Jahr die erste Omikron-Variante einrauschte, der Gesetzgeber dennoch bald alles lockerte und das Publikum vorsichtiger blieb als seine Regierung.

«Wenn die Zahlen so bleiben, haben wir natürlich ein Problem, da müssen wir nächstes Jahr noch einmal drüber reden», sagt Nicolas Stemann im Zoom-Call. Aber er lässt durchblicken, dass er nicht an eine langwährende Publikums­schwankung glaubt. «Künstlerisch sehen wir keinen Grund für eine Kurs­korrektur, wir haben Einladungen überallhin. Und ich lebe auch vom Publikum, von der Publikums­umarmung. Als Künstler, aber auch als Co-Intendant, denn wir brauchen die Einnahmen natürlich für unser Budget.»

Kann sein, dass es zu früh ist für Prognosen. Das Programm der aktuellen Zürcher Spielzeit sieht jedenfalls nicht so aus, als würde das Schauspiel­haus eine Charme­offensive zur Publikums­akquise starten, die künstlerisch einen anderen Ton anschlägt als bisher. Populäre Stoffe gibt es, aber in avantgardistischen Händen, manchmal ist es auch umgekehrt. Die Dramaturgie des Hauses will ihren Kurs halten.

Das Publikum zurückholen

Schon jetzt inhaltliche Gedanken, wie man das Programm leicht korrigieren könnte, um das Publikum zurückzugewinnen, macht man sich jedoch in Bern. Felicitas Zürcher ist die Chef­dramaturgin und Stellvertreterin des Schauspiel­direktors Roger Vontobel. Beide haben lange in Deutschland gearbeitet, bevor sie, beide schweizerischer Herkunft, letztes Jahr in Bern neu angefangen haben. Zürcher und ich diskutieren, warum Dinge in der Schweiz nicht funktionieren, die in Deutschland viel Anklang finden.

«Deutscher Kanon ist in der Schweiz schwierig geworden: Unsere ‹Maria Stuart› von Schiller, von der Kritik selbst überregional hochgelobt, lief in Bern eher mau», meint die Dramaturgin. Das habe auch damit zu tun, dass es in der Schweiz, anders als in Deutschland, keine verbindliche Gymnasial­lektüre gibt.

Und klar, Corona. Im Mai musste in Bern eine Auftrags­oper wegen Krankheits­fällen abgesagt und in die übernächste Spielzeit verschoben werden. Die Pandemie ist nur offiziell vorbei. Im Alltag der Theater bleibt sie präsent.

Lief trotz guter Kritik «eher mau»: Die Bühnen Bern zeigten «Maria Stuart» in der Regie von Roger Vontobel. Yoshiko Kusano/Bühnen Bern

Mit dem Kinder­stück in der Weihnachts­zeit zum Beispiel will sich jedes Theater eine Auslastungs­spritze holen. Wichtig für diesen Publikums­booster sind aber wie bei den Klassikern die Schulen. «Doch die hatten vor einem Jahr die Auflage, keine Ausflüge machen zu dürfen», sagt Felicitas Zürcher. «Dann kam die Winter­welle, aber wir durften – oder mussten – 100 Prozent der Plätze in den Verkauf geben.» So verlagert man politische Probleme an einzelne Institutionen. Auf diesen Trick der Schweizer Regierung sollte man nicht hereinfallen und die Schuld dafür, dass die geöffneten Spiel­stätten trotzdem leer blieben, nun bei den Theatern suchen.

Aber ein Blick in die geplanten Berner Schauspiel­premieren der Spielzeit 22/23 zeigt dann doch: Das sind mit «Momo», «Die Schwarze Spinne», Ibsens «Volksfeind» und Schillers «Räuber» sehr populäre Stoffe. «Ja, wir programmieren schon anders jetzt, mit ‹Volksfeind› und ‹Räuber› sind mehr bekannte Titel als in der vergangenen Spielzeit angesetzt.»

Hier will eine Truppe näher ans Publikum ran. «Die Verschiebungen und auch Übernahmen von Produktionen der Vorgänger, die uns aus solidarischen Gründen wichtig waren, führten zum Teil zu einem unorganischen Spielplan. Das war nicht immer ausgewogen.» Aber Zürcher sieht auch noch etwas anderes: «Wir denken nun viel über das Thema Heiterkeit nach. Unser erster Spielplan ist uns wohl tatsächlich zu düster geraten. Ich meine: Wer will mitten in einer Pandemie auch auf der Bühne das Sterben sehen?»

Alle, wirklich alle Theater berichten davon, wie sie sich um ein jüngeres und diverses Publikum bemühen, ohne das ältere zu verlieren. Diese Sätze hört man seit bald dreissig Jahren. Aber mittlerweile zeigt die Demografie so deutlich Richtung Migrations­gesellschaft, dass Rhetorik nicht mehr reicht. Im Prinzip haben alle Häuser begriffen, dass man nicht einfach über diverse Gruppen und ihre Themen in der neuen Stadt­gesellschaft sprechen kann, sondern Veränderung nur über Beteiligung zu haben ist, über neue Gesichter mit allen ihren Erfahrungen auf und hinter der Bühne.

Eine andere Schwierigkeit ist, dass viele Häuser zu wenig Zeit haben, ihr Publikum zu pflegen und es über eine längere Strecke an die Hand zu nehmen. Ist das eine Erklärung dafür, dass etwa in Berlin, wo die Intendanten zwischen zehn und zwanzig Jahre im Amt bleiben, ausser der Volksbühne kein Theater vergleichbare Publikums­probleme hat?

In Bern sei der Tanz die einzige Sparte ohne Einbussen, sagt Felicitas Zürcher. Weil Estefania Miranda fast zehn Jahre lang das Ballett leitete, bis sie krankheits­bedingt kündigte. Für sie kam ihre Dramaturgin Isabelle Bischof nach, die das Haus auch schon fünf Jahre kannte. Das Publikum kann so mit der Bühne lange Beziehungen eingehen und «weiss, was es bekommt».

Neue Kommunikation

Fast genauso am Anfang wie in Bern steht die Schauspiel­direktion im Theater Basel. Vier Leute teilen sich in Basel die Leitung, darunter auch ein Schauspieler und ein Regisseur, die gemeinsam am Anfang ihres dritten Jahres stehen. «Grössere Schwankungen gab es auch bei uns, aber es war schwer vorauszusehen, wo sie auftreten würden», sagt Anja Dirks, die erfahrenste Führungs­kraft in der Basler Schauspiel­leitung.

«Wir hatten im Mai 2021 Premiere einer schweizer­deutschen Version von Tschechows ‹Onkel Wanja›: Erlaubt waren damals nur 50 Zuschauer. Das hat die in Basel so wichtige Mund-zu-Mund-Propaganda stark ausgebremst.» Für einmal war auch nicht die Kritik schuld, die sowohl die Übertragung des jungen Baslers Lucien Haug wie die Regie des Leitungs­mitglieds Antú Romero Nunes mehrheitlich lobte.

Eine Stütze vieler Schauspiel­häuser sind die Abonnentinnen, die sich schon im Voraus auf eine bestimmte Zahl von Aufführungen festlegen und so für Kontinuität stehen. Aber ein junges Publikum kauft viel weniger Abos. «Als wir im Herbst letzten Jahres die Abos ausgesetzt haben», sagt Anja Dirks, «weil die Beschränkungen und Verschiebungen zu kompliziert wurden, haben wir sofort gesehen: Im freien Verkauf funktioniert fast nur die sichere Nummer.» Also zum Beispiel «Die Zauberflöte» in der Oper oder im Schauspiel eben Dürrenmatts «Die Physiker».

Ist eine sichere Nummer: Dürrenmatts «Physiker» am Theater Basel. Ingo Hoehn/Theater Basel

Noch sei unklar, sagt Dirks weiter, wie stark sich die Leute in der Pandemie «daran gewöhnt haben, zu Hause zu bleiben». In den eigenen gut vernetzten vier Wänden läuft der Router heiss, sei es beim Doom-Scrolling im endlosen Strom schlechter Nachrichten, sei es beim Filme- oder Serien­streamen. Und wer im Homeoffice nicht alles am Tag erledigen konnte und abends eine weitere Schicht einlegt, hat ebenfalls weniger Zeit, ins Theater zu gehen.

Die Bildschirmzeit ist bei allen gestiegen, der soziale Austausch hat sich noch stärker ins Internet verlagert, auch in der Theaterwelt. «Wir kommunizieren ganz anders mit dem Publikum heute als noch vor wenigen Jahren: Wir machen Schreib­kurse, damit unsere Texte auf dem Handy gut lesbar und überhaupt verständlich sind. Und wir werten die Kunden­daten aus, um den Zuschauern direkter Dinge zu empfehlen», erklärt Anja Dirks. Die persönliche Beratung an der Theater­kasse ist so zweitrangig geworden wie die Empfehlung in der Buchhandlung.

Seit Jahrzehnten so begehrt wie unbeliebt ist in der Krisenrede über das Theater der Typus des Abonnenten. Begehrt: Theaterabos sichern die Grund­auslastung eines Hauses, erleichtern die Haushalts­planung und helfen überdies, ein Repertoire zu pflegen, also gewisse Stücke länger zu spielen als nur in einem Rutsch nacheinander. Unbeliebt: Vielen langjährigen Abonnentinnen geht auf die Nerven, wenn eine neue Leitung kommt und sich auf einmal viel verändert. Das war beim Beginn der Marthaler-Intendanz am Zürcher Schauspiel­haus vor 20 Jahren so, und es wiederholt sich nun ein Stück weit mit Nicolas Stemann und seinem Co-Intendanten Benjamin von Blomberg.

Der verärgerte Abonnent ist immer rasch zur Stelle, wenn Journalistinnen den Unmut der vermeintlichen Basis einfangen wollen. Wer ein Haus publizistisch wegen «Wokeness» angreifen will, wie neulich die «NZZ am Sonntag», hat dann leichtes Spiel. Das Schauspiel­haus Zürich verzeichnet aber tatsächlich, da ist der Kritik recht zu geben, einen stärkeren Rückgang an Abos als die Mehrsparten­häuser in Bern und in Basel, wo die Auswahl an Formen naturgemäss grösser ist. In Zürich, im einzigen reinen Schauspiel in der etwas schiefen Vergleichs­reihe, wurden nur rund 70 Prozent der Abos verlängert, in Basel und in Bern sind es um die 90 (obwohl Basel in der letzten Spielzeit die Abos vorübergehend ganz abgeschafft hat).

Wer ernsthaft jüngeres und diverseres Publikum anziehen will und somit schlicht an das Überleben der Institution in den sich rasch verändernden Städten denkt, wird allerdings mit Abo-Einbussen rechnen müssen. Wie sehr der Zürcher Aboschwund von jüngeren, sich kurzfristig entscheidenden Publikums­schichten aufgefangen werden kann, wird erst nach Genehmigung des Geschäfts­berichtes seriös zu klären sein. Alles andere müffelt vorerst ein bisschen nach Polemik oder gar Kampagne.

Aber vielleicht sind das alles nur Neben­schauplätze, die ablenken von noch viel grösseren Kräften der gegenwärtigen Transformation, in der wir uns befinden. Es dürfte auch hier um unsere neue Quasi-Natur gehen: das Internet.

Macht des Algorithmus

Der Vergleich mit anderen Kultur­sparten, die schon länger von der Digitalisierung umgewälzt werden, legt nämlich noch einen anderen Grund für die wachsende Publikums­schwankung nahe. Ob in der Popmusik oder in der Buch­branche, die Tendenz zu wenigen Bestsellern und vielen No-Sellern heisst Konzentration und krempelt überall das Geschäft um.

Der Grund dafür ist einfach, auch wenn die zugrunde liegenden Programme immer komplexer werden: Je öfter wir Kauf­entscheidungen im Internet treffen oder online auf Produkte aufmerksam werden, desto stärker entscheiden Algorithmen mit. Jedes noch so selbstlernende Empfehlungs­system, das wir heute der künstlichen Intelligenz zuordnen, funktioniert im innersten Kern nach dem gleichen psychologischen Prinzip: dem Rudel­verhalten.

Algorithmen, die uns anstupsen, schwenken unsere Aufmerksamkeit dahin, wo schon viele andere sind. Die Daten­mengen und die verfügbaren Markierungen über unser digitales Konsum­verhalten sowie die Geschwindigkeit der Berechnungen sind unglaublich gewachsen, aber das Grund­rezept, dass der grösste Haufen die meisten Fliegen anzieht, bleibt auch im Internet dasselbe.

Und je mehr Zeit wir auf Plattformen verbringen, je mehr Zeitungs­lesen bedeutet, Links in sozialen Medien anzuklicken, desto stärker wird die Schere zwischen Top oder Flop – auch das gute alte, vermeintlich analoge Theater betreffend.

Es kann schon sein, dass die Theater­räume eine Rückkehr feiern werden, als zutiefst ersehntes Live-Erlebnis, als Ausgleich und Gegen­programm zur ständigen Bildschirmzeit. Das ist die Überzeugung des Zürcher Co-Intendanten Nicolas Stemann. Das Theater selbst könnte diese Sehnsucht durchaus befriedigen.

Aber es scheint ein Problem zu geben: Für welche Theater­karte das Publikum sich dann entscheidet, wird dennoch stark beeinflusst von den Algorithmen und den Internet­plattformen dieser Welt. Die nicht zu leugnenden Auswirkungen der Pandemie auf die Publikums­entwicklung gehen hoffentlich vorbei. Die zuspitzenden Effekte der Algorithmen werden aber zunehmen.

Es gibt wohl viel zu tun, wenn die Bühnen trocken durch den Sturm kommen sollen. Und zwar für alle Seiten: die Theater, das Publikum – und auch die Kritik.

Zum Autor

Tobi Müller ist Kultur­journalist und Autor in Berlin. Er behandelt vor allem Pop- und Theater­themen. Für die Republik hat er zuletzt über den Trend zur permanenten Eigenoptimierung geschrieben.

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