Auf lange Sicht

Die Erfindung des idealen Menschen

Ein Astronom wagte vor rund 200 Jahren ein Experiment: den Durchschnitts­menschen zu berechnen. Seine Idee war bahn­brechend und doch ein grosser Irrtum.

Von Tin Fischer, 26.09.2022

Synthetische Stimme
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Eigentlich liebte Adolphe Quetelet vor allem die Sterne. Das «imposante Schauspiel des Sternen­gewölbes in der Stille der Nächte» beobachten, wie er einmal schrieb. 1826 gründete er das Königliche Observatorium in Brüssel. Doch dem Astronomen gelang es selten, den Blick lange am Himmel zu behalten. Die Nächte mögen still gewesen sein in Europa. Die Tage waren laut. Sie waren geprägt vom politischen Umbruch: Belgien war kurz davor, sich von den Nieder­landen loszu­reissen. Überall in Europa entstanden neue Staaten. Und das hiess immer: neue Daten.

Und mit den neuen Daten entstanden neue Ideen.

Es war so: Jeder Staat brauchte plötzlich ein statistisches Amt, um seine Bevölkerung zu zählen. Um zu wissen, wer sich unter der neuen Staats­flagge versammelte, damit die Nation sich selbst definieren und über sich diskutieren konnte. Mathe­matiker wie Quetelet waren entsprechend begehrt, weil sie nicht nur Himmels­körper, sondern auch Menschen berechnen konnten. Ihnen standen völlig neue Daten­sätze zur Verfügung: demografische von den statistischen Ämtern, aber auch Erhebungen von Politikern oder engagierten Ärzten.

«Für Quetelet war das Bevölkerungs­register ein Mikroskop auf die Gesellschaft, vergleichbar mit dem Teleskop in seinem Observatorium, das ihm den Blick auf die Sterne eröffnete», schreibt der Historiker Nico Randeraad von der Universität Maastricht. Quetelet begann die Menschen mit den gleichen Methoden wie die Sterne zu messen: mit massenhaft Einzel­werten.

Wie gross und schwer ist der Mensch? Nicht irgendein Mensch, sondern der Mensch. Eine einzige Messung wäre unpräzise. Sie sagt nur etwas aus über den einzelnen gemessenen Menschen und vielleicht die Präzision der Messung. Misst man hingegen viele, so glaubte Quetelet, nähere man sich der wahren Grösse des Menschen an.

Einer aus allen

Heute betrachten und beurteilen wir die Welt ganz selbst­verständlich anhand von Durch­schnitten, ob bei Körper­grösse oder Gewicht, Einkommen oder Vermögen, Blut­druck oder Puls. Ob in der Politik, der Medizin oder der Wirtschaft. Quetelet aber war auf der Suche nach einem Wesen, das damals vollkommen neuartig war: l’homme moyen, wie er es nannte. Den «mittleren Menschen», der alle möglichen Durchschnitts­werte in sich vereint. Und damit mehr ergeben sollte als die Summe des Ganzen – mittels der Messungen, so die Idee, könnte man den idealen Menschen erfassen und für die Politik und die Medizin nutzbar machen.

Quetelet sammelte in ganz Brüssel Zahlen von «so viel als möglich an Personen aus verschiedenen Volks­klassen», wie er schrieb. Gewicht und Grösse von Babys wurden in Entbindungs­anstalten erhoben, Kinder in Schulen und Waisen­häusern vermessen, Erwachsene in den Kollegien und Greise im neuen «grossen und prächtigen Verpflegungs­hause».

Zum Beispiel wächst der homme moyen aus Quetelets Brüsseler Daten und legt im Laufe des Lebens an Gewicht zu:

Durchschnittliche Gewichts­entwicklung

Im Lebens­verlauf von Menschen in Brüssel im 19. Jahrhundert

Mädchen/Frauen020406080Alter04080 KilogrammBuben/Männer020406080Alter04080 Kilogramm

Die Daten wurden 1835 publiziert, Quelle: Quetelet.

Schauen wir uns die Zahlen an, fällt auf, wie leicht die Menschen damals waren. Das Gleiche zeigt sich beim Blick auf die Grösse: Napoleon war mit seinen 1,68 Metern fast ein homme moyen. Der durch­schnittliche Mann in der Schweiz (und Belgien) ist heute 10 Zentimeter grösser.

Durchschnittliches Wachstum

Grösse von Menschen in Brüssel im 19. Jahrhundert

Buben/Männer020406080Alter0,00,51,52,0 MeterMädchen/Frauen020406080Alter0,00,51,52,0 Meter

Die Daten wurden 1835 publiziert, Quelle: Quetelet.

Aber Quetelet ging noch einen Schritt weiter, als nur zu messen. Er rechnete mit den erhobenen Daten und stellte fest, dass sich das Gewicht ausgewachsener Personen unter­schiedlicher Grösse «ungefähr wie die Quadrate des Wuchses zueinander» verhält. Das Verhältnis von Körper­grösse und Gewicht beträgt also Gewicht geteilt durch Grösse im Quadrat. Oder wie man es heute nennt: der Body-Mass-Index.

«Als Quetelet von einem Astronomen zu einem Bevölkerungs­statistiker wurde, wollte er alles und jeden zählen», sagt Randeraad. «Aber er wollte mit diesen Zahlen auch die Kräfte verstehen, die unser Leben bestimmen.» Der homme moyen war nicht einfach nur ein Durch­schnittstyp. An ihm sollte man soziale oder medizinische Gesetz­mässigkeiten ablesen können.

Quetelets Buch über den Durchschnitts­menschen von 1835 (in der deutschen Übersetzung von 1838) beginnt mit einem gross­spurigen Satz:

Die Geburt, die Entwicklung und der Tod des Menschen erfolgen nach gewissen Gesetzen, die bis jetzt nie gemein­schaftlich und in ihrer Wechsel­wirkung aufeinander untersucht worden sind.

Adolphe Quetelet in «Ueber den Menschen und die Entwicklung seiner Fähigkeiten, oder Versuch einer Physik der Gesellschaft».

Die Betonung liegt auf: bis jetzt. In der Tat war Quetelets Heran­gehen ein Wende­punkt auf dem jungen Gebiet der Statistik, weil hier jemand nach sozialen Gesetzen suchte, nicht nur nach Zahlen.

Eine von Quetelets wichtigsten Kurven war die Entwicklung der «Lebens­fähigkeit». Anhand von Sterbe­tafeln erhob er zunächst, wie viele von eintausend Menschen eines bestimmten Alters in einem Jahr starben. Dann rechnete er eintausend Menschen geteilt durch die Anzahl Sterbe­fälle und erhielt so die «Lebens­fähigkeit» – also wie viele Menschen pro Alters­gruppe auf einen Todes­fall kommen. Je höher die Zahl, desto besser.

Kurve der «Lebensfähigkeit»

Anzahl Menschen pro Todesfall in Brüssel

120406080100Jahre0100200 Menschen pro TodesfallHöhepunkt der Lebensfähigkeit mit 14 Jahren

Lesebeispiel: Auf dem (damaligen) Höhepunkt der «Lebens­fähigkeit» (14 Jahre) gab es 1 Todesfall auf 161 14-Jährige. Oder anders ausgedrückt: Von eintausend 14-Jährigen starben sechs. Die Daten wurden 1835 publiziert, Quelle: Quetelet.

Doch Quetelet mass nicht nur Körper­grössen, Gewichte und Lebens­längen. Er setzte die Zahlen auch in Beziehung zu anderen Daten und suchte nach Korrelationen – also Zusammen­hängen der Zahlen unter­einander. Wenn etwa junge Frauen und Männer Anfang zwanzig eine geringere Lebens­fähigkeit hatten als in ihren Teenager­jahren und sogar eine geringere als mit dreissig, dann müssten sich Gründe dafür finden lassen.

Quetelet vermutete, dass der vorüber­gehende Einbruch der Lebens­fähigkeit bei den Frauen mit den Gefahren der Geburt, bei den Männern hingegen mit dem Hang zum Verbrechen zusammen­hing. Denn von einer Daten­quelle schien Quetelet geradezu besessen, um soziale Gesetze zu verstehen, die das Leben der Menschen bestimmen: Gerichts­statistiken.

Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass es kaum noch überrascht, aber das Erstaunliche an Kriminalität ist ihre Vorherseh­barkeit. Die Zahl und Art der Verbrechen, die angezeigt werden und vor Gericht landen, ist Jahr für Jahr ähnlich. Beispiels­weise zählen wir in der Schweiz jedes Jahr circa 50 vollendete Morde und Totschläge. In schlimmeren Jahren können es fast 60 sein, in besseren sind es nur rund 40. Und der längerfristige Trend mag langsam sinken. Aber wir können relativ zuverlässig prognostizieren, wie viele Tötungs­delikte es in den nächsten Jahren geben wird, obwohl niemand sie plant.

Quetelet beschrieb das natürlich sehr viel pathetischer:

«Wir können zum Voraus bestimmen, wie viele die Hände mit dem Blute ihrer Neben­menschen besudeln werden, wie viele sich Fälschungen, wie viele sich Vergiftungen werden zu Schulden kommen lassen.»

Adolphe Quetelet in «Ueber den Menschen und die Entwicklung seiner Fähigkeiten, oder Versuch einer Physik der Gesellschaft».

Es handle sich dabei um nichts weniger als «eine der merk­würdigsten Thatsachen, mit denen uns die Statistiker der Gerichts­höfe bekannt machen».

Quetelet Schluss­folgerung aus dieser Erkenntnis ist im frühen 19. Jahr­hundert ein Pauken­schlag. Er schreibt:

«Die Gesellschaft birgt in sich die Keime aller Verbrechen, die begangen werden sollen (…). Sie ist es gewisser­massen, die diese Verbrechen vorbereitet, und der Schuldige nichts als das Werkzeug, das sie vollführt.»

Quetelet wollte mit seinen Zahlen zeigen: Es ist die Gesellschaft, die Verbrechen hervor­bringt, nicht die Entscheidung jedes Einzelnen.

Wir alle bilden den homme moyen. Wir alle sind der homme moyen. Und weil der homme moyen zu einem gewissen Grad auch ein Krimineller ist, steckt dieser auch in jedem von uns.

Quetelet zeigte mit seinem «mittleren Menschen», dass individuelle Probleme auch soziale Probleme sind. «Quetelet und andere in seinem Feld sahen, wenn die sozialen Kräfte sich ändern, dann ändern sich auch die Zahlen», sagt Historiker Randeraad. Es war der Beginn der Idee, mit den vielen neuen Daten soziale Probleme und ihre Gesetz­mässigkeiten zu erkennen, Lösungen zu finden und soziale Fortschritte zu messen – meist anhand von Durchschnitts­werten.

Einer aus allen, keiner für alle

Dennoch geriet Quetelets Idealbild vom homme moyen bald wieder in Vergessenheit, erhalten blieb die statistische Methode. Die Idee des homme moyen war für die Wissenschaft zu wider­sprüchlich und undefiniert. Darwinisten wie Francis Galton bauten in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts zwar auf Quetelets Gedanken auf. Aber warum, fragten sie sich, sollte das Mittel­mass ein Ideal sein?

Erfolgreicher war der homme moyen in der Wirtschaft, die sich gerade industrialisierte. Produkte sollten möglichst einheitlich und in möglichst grossen Stück­zahlen produziert werden. Es war effizient, sie durch­schnittlichen Körper­massen anzu­passen, ob es nun um die Länge von Heugabeln, die Breite von Klavier­tasten oder den Abstand zum Lenkrad ging.

Was dem homme moyen passt, passt irgendwie allen, so die Annahme.

Ein grosser Irrtum.

In «The End of Average» beschreibt der Autor Todd Rose, wie nach dem Zweiten Weltkrieg die US-Luftwaffe ihre Cockpits anpassen wollte. Sie vermass also ihre 4000 Piloten, ganz ähnlich, wie seinerzeit Quetelet in Brüssel die Menschen vermass. Zehn Faktoren wie Körper­grösse oder Hüft­umfang wurden als besonders wichtig erachtet. Man ging davon aus, dass die meisten Piloten mehr oder weniger durch­schnittliche Masse haben werden. Es war am Ende kein einziger. Selbst wenn man nur drei Faktoren zugrunde legte, passten diese für gerade einmal 3,5 Prozent der Piloten. Man versuchte dann, die Cockpits verstellbar zu gestalten.

Feministische Autorinnen wiederum kritisieren, dass der homme moyen bereits bei Quetelet ein Mann war. Wer also eine Welt für den homme moyen baut, baut eine Welt für Männer. Crashtest-Dummys beispiels­weise sind meist Männer­körpern nach­empfunden und Auto­unfälle deshalb für Frauen gefährlicher, zeigen Unter­suchungen. Hersteller haben darauf mit Crashtest-Dummys reagiert, die einer femme moyenne entsprechen. Nur ist die durch­schnittliche Frau so selten wie der durch­schnittliche Mann. Auto­sitze müssen für alle funktionieren, je nach Grösse, Breite, Gewicht, Proportionen, Gesundheit, Kraft oder körperlichen Möglichkeiten.

Das ist die Krux: Wir alle sind, aber niemand ist der homme moyen.

Über den Autor

Tin Fischer hat Geschichte studiert und arbeitet als freier Journalist unter anderem für die «Zeit». Im Jahr 2022 ist sein Buch «Linke Daten, rechte Daten» erschienen, in dem Fischer zeigt, wie unter­schiedlich und abhängig von der politischen Couleur sich Daten interpretieren lassen.

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