Julia Weber und Heinz Helle: Sie gestalten eine andere, durchlässigere, solidarischere soziale Welt.

Ein literarischer Pas de deux

Zwei Schreibende, zwei Bücher, eine Familie: Julia Weber und Heinz Helle haben autobiografisch inspirierte Romane vorgelegt, in denen es auch um das Leben als Autorenpaar geht.

Von Christine Lötscher (Text) und Emanuele Camerini (Bilder), 15.09.2022

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Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, Friederike Mayröcker und Ernst Jandl, Siri Hustvedt und Paul Auster – man könnte die Liste von Schriftsteller­paaren fast endlos fortsetzen. Um das von intellektuellem Austausch ebenso wie von Neid und Konkurrenz geprägte Zusammen­leben ranken sich Mythen und Fantasien, die durchaus auch von den Schreibenden selbst befeuert werden: in Interviews, Homestorys und auch in Romanen mit autobiografischen Elementen. Simone de Beauvoir zum Beispiel hat in «Die Mandarins von Paris» (1954) von Liebe und Intrigen in der Existenzialisten-Szene erzählt, Siri Hustvedt in «Was ich liebte» (2003) über Künstler­paare in New York geschrieben.

Dass zwei aber gleichzeitig ihr gemeinsames Leben zum Roman­stoff machen und, bei allen Unterschieden in der Tonalität, beide eine autofiktionale Herangehens­weise wählen, ist doch ein Novum in der Literatur­geschichte.

Julia Weber und Heinz Helle, die beide zu den viel beachteten jüngeren Stimmen im deutsch­sprachigen Literatur­betrieb gehören und langsam, aber sicher zu Stars der Schweizer Szene avancieren, gehen die Sache offensiv an. Webers Roman «Die Vermengung» ist dieses Frühjahr, Helles Roman «Wellen» vor wenigen Tagen heraus­gekommen; beider Lesereisen im Herbst sind teilweise als gemeinsame Tour geplant.

Und wer weiss, vielleicht kommen ja noch weitere gemeinsame Termine hinzu? Denn beide sind sicher aussichtsreiche Kandidatinnen für die Shortlist des Schweizer Buchpreises, die am 21. September bekannt gegeben wird, was die Konstellation noch einmal interessanter macht. Wie werden sich die beiden bei den gemeinsamen Auftritten geben? Wie mit der Konkurrenz­situation umgehen? Fragen, die schon jetzt unweigerlich im Raum stehen, auch wenn es keine eigentlich literarischen sind.

Es ist kein Zufall, dass die beiden Romane über das Schreiben als Paar und Familie gerade jetzt erscheinen. Autofiktionales Erzählen, also die realitätsnahe Überführung von autobiografischer, häufig intimer Erfahrung in Literatur, wurde in den vergangenen Jahren verstärkt als Methode entdeckt, um über die sozialen Bedingungen künstlerischer Arbeit nachzudenken. Die Autoren der Gegenwart sehen sich nicht als einsame Genies, sondern als Schreibende, die in vielfache, solidarische und krisenhafte Zusammen­hänge verflochten sind. Care-Arbeit wird immer mehr zum Thema der Literatur und des Literatur­betriebs, was sich nicht zuletzt in einer umfassenden Studie der Basler Literatur­soziologin Carolin Amlinger mit dem Titel «Schreiben» nachlesen lässt.

Die Ausgangslage aber ist noch einmal eine spezifischere, wenn die eine, Julia Weber, über Mutterschaft und Literatur, der andere, Heinz Helle, übers Vatersein als Schriftsteller schreibt – und beide aus derselben, gemeinsamen Realität schöpfen.

Die Frage, ob und wie die Romane wechselseitig aufeinander Bezug nehmen, drängt sich hier geradezu auf. Und spannend ist sie nicht als Frage nach einem ebenso müssigen wie übergriffigen «Wie war es wirklich?». Sondern mit Blick auf die Art und Weise, wie beide sich mit ihren unterschiedlichen Schreib­verfahren und Perspektiven einem gemeinsamen Problem­komplex zuwenden.

Was den Dialog zwischen den Romanen von Julia Weber und Heinz Helle so aufregend und frisch macht, ist gerade, wie sie für das, was man als das Drumherum verstehen könnte, also das Kochen und Putzen und Spielen mit den Kindern, eine literarische Sprache suchen. Mehr noch, beim Lesen beider Romane zeigt sich: Beide verfolgen auf je eigene Weise ein gemeinsames Projekt, in dem es um nicht weniger geht als den Versuch, eine andere, durchlässigere, solidarischere soziale Welt zu gestalten.

Dabei sind Weber und Helle als Autoren ganz unterschiedlich, wie sich an ihren bisherigen Romanen leicht ablesen lässt. Bereits in ihrem Debüt­roman «Immer ist alles schön» (2017) entdeckt Julia Weber mit ihrer scharfen Beobachtung und ihrem empathischen Herangehen an die Menschen, die Sprache und die Dinge eine andere, vibrierende Wirklichkeit. Heinz Helle geht in seinen Romanen – «Wellen» ist der vierte – von philosophischen Problem­lagen aus, die über die Figuren emotional ausgelotet werden.

Können Eltern schreiben?

Es ist kaum zu glauben, doch Mutterschaft gilt heute noch immer als der Tod jeder künstlerischen Kreativität. Julia Webers Ich-Erzählerin schildert ihrem Mann H. ihre Ängste:

Meine Kraft reicht nicht, sage ich. Sie reicht nicht einmal dafür, die gesellschaftliche Meinung abzuwehren darüber, dass ich besser nicht Mutter und Künstlerin sein soll, vielleicht besser nur Mutter, oder wenn die Kunst, dann besser kinderlos. Von Stipendium zu Stipendium reisend in irgendwelche mittelgrossen deutschen Städte oder malerischen Schweizer Dörfer, in irgendwelche mit hellem Holz ausgebauten Türme, um dort allein zu schreiben, allein zu sein, allein zu lesen, vielleicht besser nur das Genie oder nur die Mutter, sich aufgeben, sich hingeben, Mutter sein.

Und nicht nur schreibende Mütter stehen unter Verdacht, ihren Texten nicht «alles» geben zu können, nicht genug an Konzentration und Herzblut und Zeit. Vätern geht es, wenn sie nicht gerade das Thomas-Mann-Modell praktizieren, genauso.

Heinz Helle berichtet in seinem neuen Roman davon, wie eine Frau ihm nach einer Lesung sagte, sie sei schon gespannt auf sein neues Buch, «aber erfahrungsgemäss nehme die künstlerische Qualität der Arbeit eines Mannes ab, sobald er Familie habe». Hier endet der Satz aber nicht; Helle setzt ein Komma und lässt seine Kinder in den Text hereinlärmen:

[…] und dann schreit Z., und B. klingelt an der Tür, und ich gebe der einen ihren Schnuller und öffne der anderen […]

Dabei kommt der Druck keineswegs nur von aussen: Die Ich-Erzählerin von Julia Webers «Vermengung» wird von einer tiefen Traurigkeit ergriffen, als sie zum zweiten Mal schwanger wird. «A Room of One’s Own», wie ihn Virginia Woolf einst forderte, ist zwar wichtig, aber nicht genug. Der Raum muss zuerst geschaffen werden, in dem schreibende Eltern mitsamt ihren Kindern und Büchern gedeihen können.

Der fliessende Übergang vom Schreiben und Denken zum Alltag in der Familie ist deshalb Programm. Der ganze Text verbindet seine Sätze mithilfe von reichlich «und», «und dann», «und als» zu einem schwebenden Geflecht. Er bewegt sich in Wellen­bewegungen voran und macht aus dem Rhythmus des schwer planbaren, in seinen Intensitäten eben wellen­förmigen Alltags mit Kindern – ja, Poesie.

Dass die Romane der beiden miteinander verbunden sind, ist nur konsequent.

Dass Helles Roman mit einem anderen Text verbunden ist, sozusagen eine Ehepartnerin in Buchform hat, ist vor diesem Hinter­grund nur konsequent.

Z., das Neugeborene, und B., das ältere Kind, haben unter Leserinnen der Deutsch­schweizer Gegenwarts­literatur bereits eine gewisse Bekanntheit erlangt. Sie sind nämlich auch die Protagonisten im Roman von Julia Weber, in dem die Erzählerin den gleichen Namen trägt wie die Autorin und ihr Ehepartner den Namen H.

Die Beziehung der Eheleute, das erfahren wir aus den Romanen, ist seit ihrer gemeinsamen Zeit im Literatur­institut in Biel ein Geflecht aus Liebe und Sprache und Welt. Bei Heinz Helle steht es gleich auf der ersten Seite. Und Julia Weber zitiert diesen Satz aus Helles Roman am Ende ihres eigenen Textes, wo es die Worte also schon zu lesen gab, bevor Helles Buch überhaupt erschienen war:

Und dass so was wirklich möglich sein könnte, das hatte ich mir nicht vorstellen können, bevor wir uns kennen­lernten, und deswegen wurde das dann für mich alles eins, du, ich, die Welt, die Sprache, und seitdem habe ich nur einen Wunsch: dass das immer so bleibt.

Nun ist es nicht so, dass es an Autoren und Schrift­stellerinnen mangeln würde, die schreiben und dabei Kinder aufziehen (oder umgekehrt), ganz im Gegenteil. Und doch hält sich das Vorurteil hartnäckig, die Sphären von Liebe zu Kindern und Care-Arbeit auf der einen und künstlerischer Praxis auf der anderen Seite seien unvereinbar, ja, müssten streng auseinander­gehalten werden, damit weder die Kunst noch die Kinder Schaden nehmen.

Rachel Cusk hat mit ihrem autofiktionalen Text «A Life’s Work. On Becoming a Mother» (deutsch: «Lebenswerk. Über das Mutterwerden», 2019) bereits 2001 einen radikalen Versuch gewagt, Schwangerschaft, Geburt und das Leben mit einem brüllenden Säugling zum literarischen Stoff zu machen – und dabei zum Thema gemacht, dass es gar keine Sprache für diese doch eigentlich relativ verbreitete Erfahrung gibt. Maggie Nelsons Essay «The Argonauts» von 2015 (deutsch: «Die Argonauten», 2017) findet über einen ebenso persönlichen wie theoretischen Zugang eine Sprache für die (queere oder klassische) Familie als Raum der Improvisation und als Raum, in dem Sinnlichkeit und Intellekt keine Gegensätze sind, sondern auf eine befreiende Weise zusammen­spielen.

Es verwundert deshalb nicht, dass Maggie Nelson in Zitaten durch die beiden Romane von Weber und Helle geistert. Denn tatsächlich ist der auto­fiktionale Zugang, den das Zürcher Autoren­paar wählt, weniger dazu da, das reale Zusammen­leben auszuloten. Vielmehr geht es darum, die eigene Erfahrung als literarischen Stoff ernst zu nehmen und genau hinzuschauen, um darüber schreiben zu können, ohne in Klischees und fertige Muster zu verfallen. Es sei die Richtung des Blicks, auf die es ankomme, schreibt Heinz Helle:

[…] und ich weiss nicht, ob die Welt eine andere wäre, wenn Homer über die Rinde eines Baumes geschrieben hätte oder über die unerklärliche Härte des Steins im Vergleich zur menschlichen Haut, aber dass es nicht nur die Art und Weise der Repräsentation ist, die Wirklichkeit herstellt, sondern zuallererst die Richtung des Blicks, die Wahl des Ausschnitts, die Entscheidung für oder gegen ein Thema […]

In der Auseinander­setzung mit der literarischen Tradition und auf der Suche nach Texten, die an einem verwandten Projekt arbeiten, fragen Weber und Helle immer auch nach der Bedeutung des Lesens für das eigene Schreiben. Es gilt aber nicht nur, Homer und andere Klassiker gegen den Strich zu lesen, sondern auch die eigene Wirklichkeit zu lesen – und mit frischem Blick neu zu entdecken. Auch und gerade, wenn sie sich widerborstig zeigt.

Widerstände

Widerstände, schreibt der Zürcher Literatur­wissenschaftler Sandro Zanetti in seinem Buch «Literarisches Schreiben» (2022), führten oftmals dazu, dass der Schreib­prozess selbst zum Thema des Schreibens werde. Widerstände setzten Reflexionen frei, «Wahrnehmungen der Schreib­situation, Leseakte also in einem weiten Sinne, die selbst wieder in den Schreibakt eingehen und diesen somit begleiten und interpretieren können».

Das trifft auch auf die beiden Romane von Weber und Helle zu. Der Widerstand kommt aus einer neuen Lebens­situation heraus.

Das Zusammen­leben zu viert stellt auch die gemeinsame Welt des Paares vor grosse Heraus­forderungen. Nicht nur, weil Z. viel schreit und B. zur Schule muss, mit Turnzeug und Pausenbrot, weil jemand kochen und einkaufen und aufräumen, jemand Geld verdienen muss. Es brechen auch gesellschaftliche Erwartungen über die Familie herein.

Was ist eine gute Mutter, ein guter Vater? Was müssen sie leisten, um bestehen zu können?

Bei Weber schreibt die Ich-Erzählerin oft Briefe, an ihren Mann H., ihre Freundin A. oder an Ruth, ein imaginäres Alter Ego. Als sie zum zweiten Mal schwanger wird, packt sie die Angst: Was wird aus ihrer Kunst? «Ich habe meine Kunst um mich gebunden», schreibt sie, «um den Teig herum, da liegt mein Schreiben, wie die Schale einer Nuss, um mein Inneres zu schützen. Jetzt bin ich schwanger, und die Schale wird weg sein.»

Denn wenn sie schwanger sei, schreibt sie an Ruth, werde ihre Weichheit wieder sichtbar.

Ich werde elastisch sein, nachgeben, die Haut und auch die Gefühle, sie werden hinausgehen, es werden welche hereinkommen, wie die Blaumeisen, die in das Häuschen fliegen, das befestigt wurde am Baum vor meinem Küchen­fenster, und wieder hinaus, wie sie wollen, kommen und gehen, ohne dass ich es kontrollieren kann. Ich werde ein Brotteig sein, es wird ein Leben in mir entstehen. Daran muss ich denken, die ganze Zeit. Ich lege meine Hände ab und auch meinen Kopf. Und wie wenig es erlaubt ist, in dieser Welt weich zu sein, daran muss ich denken, wie wenig sie gilt, die Weichheit. Warum ist das so? Wir haben uns doch so viele Möglichkeiten gebaut. Müssen nicht mehr jagen, sind dem Wetter nicht mehr so ausgesetzt.

«Die Vermengung» lässt sich als Bewegung der Suche nach einer Sprache der Weichheit beschreiben. Dazu gehört die Aufmerksamkeit für die Körperlichkeit: die eigene, aber auch die von Mann und Kindern. Und dazu gehört der suchende Dialog der Ich-Erzählerin mit ihren Figuren, die in Passagen neben und zwischen den autofiktionalen Textteilen ein Eigenleben führen.

Diese Hinwendung zur Weichheit führt auch dazu, Vorstellungen von Autorschaft neu zu denken. Es ist oft A., die beste Freundin der Ich-Erzählerin, die solche Überlegungen pointiert zum Ausdruck bringt:

Und A. sagt, es gehe um das Stärken der Weichheit in der Kunst und um das langsame Abtragen des Bildes des Genies […]

Männlichkeiten

Heinz Helles Ich-Erzähler erlebt die Ankunft des Neugeborenen zunächst als Störung und hat mit Aggressionen zu kämpfen, die ihm selbst unheimlich sind:

Und ich frage mich, wieso ich kein schlechtes Gewissen habe angesichts meiner Unfähigkeit, die Situation anders zu empfinden als nervenzehrend, es ist mir nicht möglich, in dem kleinen, wehrlosen Wesen in meinen Armen in diesem Moment etwas anderes zu sehen als eine möglicher­weise defekte Maschine, die mit ein paar richtigen Handgriffen wieder unter Kontrolle zu bekommen wäre, ich spüre meine eigene Kälte auch beim Anblick des jetzt wieder aufgerissenen kleinen Mundes, der darin zuckenden Zunge, stelle mir vor, wie der Schall ihrer Schreie durch mein Gesicht hindurchgeht, durch meinen Schädel, mein Hirn.

Helles Ich-Erzähler spürt plötzlich, wie sehr er von Fantasmen einer Männlichkeit heimgesucht wird, mit der er eigentlich nichts zu tun haben will.

Seit er einmal im Streit einen Tisch umgeworfen hat – eine Szene übrigens, die in beiden Romanen erwähnt wird –, macht er sich die Auseinander­setzung mit Männlichkeits­konzepten zur Aufgabe. Er liest Bücher über häusliche Gewalt, liest Rebecca Solnits Essay über Mansplaining («Wenn Männer mir die Welt erklären», 2015), untersucht die Abzweigungen in den Gedanken­kaskaden, die in die Irre und schliesslich zu Gewalt führen könnten und Männer «zum Werkzeug der Wut» machen, ohne dass sie es wollen. Als seine Frau – die im Roman als «du» angesprochen wird – wissen will, «wie es sich anfühlt, Teil eines potenziell gewalttätigen Geschlechts zu sein», erkennt er auch die Widersprüche im eigenen Reflexions­prozess. Er hatte sich für einen Mann gehalten, der aktiv am Projekt der Gleich­berechtigung mitarbeitet, aber den Umstand, «dass es die Männer sind, die Gewalt ausüben, hatte ich als Teil meiner Selbst­konstitution bisher komplett ignoriert».

Es wird deutlich, dass es dem Ich-Erzähler ernst ist mit dem Hinter­fragen männlicher Denk- und Handlungs­muster. Dass er sich als Schreibender nur weiter­entwickeln kann, wenn er diese Untersuchungen vornimmt. Und dann kommen Wellen der Entspannung über den Text, es entfaltet sich ein Redefluss, getragen von Selbst­ironie und Humor. Was auf den ersten Blick als zu intimer Einblick in die männliche Psyche erscheinen könnte, erweist sich als grandiose Dekonstruktion von althergebrachten Männlichkeits­bildern:

Und da ich ohnehin das Ziel habe, mich weniger mit meinem Geschlechts­teil zu beschäftigen und mit Gedanken an Orte und Körper, in die man es tun könnte, empfinde ich es als grosse Erleichterung, als mir bewusst wird, dass mein Wille so gut wie nie als unbedingt in Erscheinung tritt, im Gegenteil, ich finde auf wenig so unklare Antworten wie auf die Frage, was ich eigentlich will, so dass auch der stetig wachsende Stoss Bücher über Krieg und Gewalt auf meinem Schreib­tisch leider nicht dazu führt, dass ich an dem grossen, aufklärerischen, europäischen Friedens­roman arbeite, ohne empfänglich zu sein für Ablenkungen oder Zweifel, sondern klar, zielstrebig, furchtlos und hart gegen sich selbst, wie ein Mann eben […]

Die Idee, die sich hier zwischen den Zeilen verbirgt, dass sich das Geschlechtsteil mit seinen Bedürfnissen vielleicht eher mit Weichheit und Hingabe verbinden liesse als mit Willens­stärke und Krieg, führt Helle zwar nicht aus. Aber konsequent wäre es schon, nach feministischem Vorbild andere Geschichten von männlicher Sexualität zu erzählen.

Gehirn – oder Knie?

«Die Vermengung» in Julia Webers Roman ist Titel und Erzähl­prinzip zugleich, weil der Familien­alltag und das Schreiben einander so sehr durchdringen, dass jede Form von Trennung nur scheitern kann. Doch herrscht das Prinzip Vermengung auch über den Einzeltext hinaus. Es verbindet die Romane von Julia Weber und Heinz Helle geradezu zwangsläufig, weil beide Schreibenden miteinander über ihre Arbeit reden, ihre Texte gegenseitig lesen, Texte von anderen Autorinnen zitieren, die wiederum an der Ausweitung des Geflechts zwischen beiden beteiligt sind.

Der Raum muss zuerst geschaffen werden, in dem schreibende Eltern mitsamt ihren Kindern und Büchern gedeihen können.
Heinz Helle sucht für das Spielen mit den Kindern eine literarische Sprache.

Und beide, in ihrer unterschiedlichen Tonalität und in ihrem je eigenen Rhythmus, arbeiten an einem gemeinsamen Projekt: Die Kunst, liebevoll, aufmerksam und geduldig in der Gegenwart zu leben und zu lieben, ist von der Kunst des Schreibens nicht zu trennen. Das erfährt man in vielen kleinen Momenten, in denen die Wahrnehmung ganz auf das Leben der Familie, auf die Kinder gerichtet ist.

Eine der in dieser Hinsicht schönsten, weil auch witzigsten Szenen steht bei Julia Weber. Eines Tages findet die Erzählerin in einer Kiste im Keller Aufnahmen ihres Gehirns. Gegen hundert Franken Bezahlung habe sie bei einer Studie am Universitäts­spital Basel mitgemacht. Doch sobald H. und B. die Bilder sehen, entsteht, sozusagen aus dem Humus des Zusammen­lebens, eine ganz neue Geschichte:

Und als ich mit den Bildern meines Gehirns nach oben in die Wohnung komme und sage, ich hätte die Aufnahmen meines Gehirns gefunden, nimmt H. sie in die Hand, betrachtet sie eine Weile und sagt dann, das seien die Aufnahmen seines Knies. Die habe er in München machen lassen wegen eines Unfalls beim Fussballspielen.

Später sagt B., dass sie sich gerade nichts Komischeres vorstellen könne als eine Mutter, die mit Aufnahmen des Knies des Vaters aus dem Keller komme und sage, es seien Aufnahmen ihres Gehirns.

Kritik am Patriarchat, an Selbstoptimierungs­fantasien und am Glauben an die Kontrollierbarkeit des Lebens durch Planung leuchtet immer wieder auf, in beiden Romanen. Doch was die Lektüre so inspirierend macht, ist weniger die Gesellschafts­diagnose als die Bewegung der Form: die Weichheit, die Wellen aus Sprache, denen man beim Entstehen zuschauen kann. Als Leser wird man Zeuge eines Ertastens, der Suche nach einer Sprache für eine Erfahrung, die hier, so scheint es, in einem bisher unerreichten Mass literarisch ausgelotet wird.

Das liegt vor allem an der Radikalität, mit der die beiden Romane ein Projekt gemeinschaftlichen Schreibens verfolgen, ohne Angst vor Selbst­verlust. Und an der Zweistimmigkeit, die sich in ihrem ganzen Umfang im Kopf der Leserin entfaltet, die so gewisser­massen auch Teil dieser Schreib­gemeinschaft wird.

Was hier gemeinsam und im Dialog erschrieben wird, ist eine neue, andere Haltung für die künstlerische Arbeit. Auch wenn sich die beiden Bücher ganz wunderbar als Einzel­romane lesen lassen, da jeder seine ganz eigene Energie hat, lohnt sich die Parallel­lektüre unbedingt – gerade wenn man mitverfolgen möchte, wie sich eine Praxis, vielleicht auch eine Ethik des Zusammen­lebens schreibend entfalten kann. Und wie sich ein verbundener, dialogischer Schreib­prozess in den Familien­alltag einschreibt.

Heinz Helles «Wellen» endet übrigens mit dem Wort «weich».

Zu den Büchern

Heinz Helle: «Wellen». Roman. Suhrkamp, Berlin 2022. 284 Seiten, ca. 33 Franken.

Julia Weber: «Die Vermengung». Limmat, Zürich 2022. 352 Seiten, ca. 30 Franken.

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