Vom Auslöschen der eigenen Geschichte

Wie es ist, rassifiziert zu werden. In der Welt, in der Schweiz. Und was die Situation so ausweglos macht.

Von Isis Giraldo (Text), Sarah Fuhrmann (Übersetzung) und Sébastien Agnetti (Bilder), 10.09.2022

Synthetische Stimme
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Zwischen dem Sein und dem Werden eines rassifizierten Selbst und einer rassifizierten anderen: Isis Giraldo.

Ich schreibe diese Zeilen in einer Zeit, in der die neoliberale Globalisierung – von Waren, Kapital, Menschen – zunehmend hinterfragt wird. In einer Situation, in der das dringende Bedürfnis nach Abrechnung besteht mit unserer individuellen und kollektiven Vergangenheit, die uns individuell und kollektiv dorthin gebracht hat, wo wir jetzt sind.

Und ich schreibe ausserdem aus einer ganz bestimmten Position: als Migrantin aus dem Globalen Süden im Globalen Norden, mit hohem Bildungs­niveau, die von der Globalisierung profitiert hat und sie zugleich hinterfragt.

Zur Autorin

Isis Giraldo wurde in Medellín, Kolumbien, geboren. Sie hat ihre Universitäts­laufbahn in der Schweiz, in England und Kolumbien absolviert, an der Uni Lausanne hat sie in Geistes­wissenschaften doktoriert.

Paradoxerweise ist das Hinterfragen der Globalisierung dadurch entstanden, dass ich zu jener vom sozialen und biologischen Geschlecht, von race und Klasse geprägten Akademikerin wurde, die ich heute bin. Meine gewundenen mentalen, emotionalen und politischen Konturen wurden durch meine spezifische geografische und akademische Migrations­reise geprägt. Diese Reise hat mich zu jemandem gemacht, die einerseits ständig in den Grenz­bereichen der Kulturen, Sprachen, National­staaten lebt und anderer­seits über Kategorien wie race und nationale (Nicht-)Zugehörigkeit nachdenkt.

Ich wurde in Medellín, Kolumbien, geboren und wuchs dort in den 1970er- und 1980er-Jahren in einer unkonventionellen Familie auf, die zwar über kulturelles Kapital verfügte, deren ökonomisches Kapital jedoch stark schwankte. Erwachsen geworden bin ich in einer Zeit neoliberaler Expansion in Latein­amerika, und persönliche Umstände, die Zeit und der Ort beeinflussten die Wahl­möglichkeiten in meinem Leben. Ich studierte etwas, das mir gründlich missfiel (Informatik). Ich tat es aber einerseits wegen der historischen Umstände, der Zeit, in der ich erwachsen geworden bin. Andererseits aber auch, weil mir dieses Studium die Möglichkeit gab, einer Kultur zu entfliehen, deren geschlechts­spezifische Regeln, Hetero­normativität und dominante Konstruktionen des Frauen­bildes ich als viel zu erdrückend empfunden habe.

Die erste Gelegenheit, Kolumbien zu verlassen, ergab sich 1998, als ich dank eines Stipendiums in den Süden Spaniens zog, um dort ein Jahr als Informatik­studentin zu verbringen.

Bis zu diesem Studien­aufenthalt war ich geprägt von einer konservativen Mehrheits­kultur, die auf der Konsistenz von sozialem Geschlecht und Sexualität bestand und mich auf unterschiedliche Weise bestrafte, weil meine eigene Geschlechts­darstellung (häufig androgyn) und meine sexuelle Identifikation (hetero­sexuell) gelegentlich nicht überein­stimmten. Das Leben in Spanien offenbarte mir eine neue Facette von Identität, die mir bis dahin verborgen geblieben war: race. Benennen konnte ich das erst Jahre später, nachdem ich schon eine ganze Weile in der französisch­sprachigen Schweiz gelebt und die Informatik endgültig hinter mir gelassen hatte, um Kultur­wissenschaftlerin zu werden.

Als jemand, die in einem Land der mestizaje, der «Blutvermischung», auf­gewachsen war; in einem Land, das stark sozial hierarchisiert ist und in dem das Phänomen des blanqueamiento, der «Verweissung», weit verbreitet ist, hatte ich race bis dahin immer nur mit indigenen und schwarzen Communitys in Verbindung gebracht. Aus meiner eigenen, damaligen Perspektive umfasste race etwas, das ausserhalb von mir lag und mich deshalb nicht betraf. Doch meine Erfahrung in Spanien – in den späten Neunzigern, als Bilder von Pablo Escobar und dem Medellín-Kartell in der weltweiten Vorstellung mit Kolumbien gleichgesetzt wurden – machte mir etwas anderes klar.

Obwohl meine Mutter­sprache (eine Varietät von) Spanisch war, konnten mein kolumbianischer Akzent, mein Geschlecht, meine nicht weisse Haut­farbe und mein Alter als Kenn­zeichen dafür gelesen werden – und sie wurden es in bestimmten Kontexten auch tatsächlich –, dass ich einer anderen, offenbar geringeren menschlichen Spezies angehörte: entweder Drogen­kurierin oder Sexarbeiterin. Diese erste persönliche Erfahrung mit Rassen­diskriminierung verarbeitete ich durch die Linse der Nationalität und der kolonialen Geschichte, als ein sehr konkretes Beispiel der Nachwehen des spanischen Weltreichs.

Nach Spanien machte ich weitere Erfahrungen damit, rassifiziert zu werden. Zum Beispiel, dass man mich auf einer niedrigen Position in der Matrix des Anders­seins einordnete, die je nach geografischem, situativem und zeitlichem Kontext eine andere Nuance hatte.

Ich will es genauer wissen: Was bedeutet rassifiziert werden (being racialized)?

In der Soziologie ist Rassifizierung, Rassisierung oder Ethnisierung ein politischer Prozess, bei dem einer Beziehung, sozialen Praxis oder Gruppe, die sich nicht als solche identifiziert hat, ethnische oder rassische Identitäten zugeschrieben werden. Rassisierung oder Ethnisierung entsteht oft aus der Interaktion einer Gruppe mit einer anderen Gruppe, die sie dominiert, und schreibt ihr eine rassische Identität zu, um sie weiter zu beherrschen und sozial auszugrenzen. Als Folge übernimmt die rassifizierte Gruppe das erzwungene Konstrukt, dass Rassen real, unterschiedlich und ungleich sind in einem Ausmass, das für das wirtschaftliche, politische und soziale Leben von Bedeutung ist. Hier finden Sie weitere Informationen dazu.

In England (Anfang der Nuller­jahre, mit Mitte zwanzig) bedeutete es, dass ich, indem ich einfach ich selbst war, unfreiwillig die exotischen erotischen Fantasien weisser britischer Männer mittleren Alters aus der Oberschicht nährte, die sich wahrscheinlich nach der geschlechtlichen und sexuellen Logik des britischen Weltreichs sehnten. Als ich Mutter wurde – Ende 2005, mit dreissig, in der Schweiz –, bedeutete es, den seltsamen Blicken von Passanten zu begegnen, die versuchten, die vermeintliche Nicht­übereinstimmung zwischen dieser jungen, ziemlich braunen Frau, die Spanisch sprach, und der Tatsache, dass sie so unglaublich nett und vertraut mit diesem weissen und blauäugigen Baby war, zu verarbeiten. «Sind Sie die Babysitterin?», fragten sie höflich und offenbarten dabei ihren immanenten, freundlichen Rassismus.

Doch meine Erfahrung als rassifizierte junge und nicht mehr so junge Frau in der Schweiz, wo ich eine erwachsene Frau und Mutter wurde, war eine ganz andere als jene in Spanien; und dies, obwohl Spanisch und nicht Französisch meine Mutter­sprache ist. Abgesehen davon, dass es keine direkte koloniale Verbindung zwischen der Schweiz und Kolumbien gibt, helfen wohl mein gutes Französisch und mein Aussehen (Frisur, Kleidung, Brille) dabei, meine Platzierung in der Matrix des Anders­seins in der Romandie zu differenzieren. Das hat ziemlich viel zu meinem Dazugehörigkeits­gefühl im Exil beigetragen: In Lausanne fühle ich mich zu Hause, und das Heimweh kommt auf, wenn ich für längere Zeit nicht in Lausanne bin (selbst wenn ich in meinem Heimat­land Kolumbien und meiner Heimatstadt Medellín bin).

Die Anschläge auf «Charlie Hebdo» im Jahr 2015 erschütterten dieses Zugehörig­keits­gefühl in meinem gewählten Heimatland. Eine weitere Dimension der Rassen­diskriminierung kam hinzu – durch externe Faktoren (Menschen, Umstände, Situationen), die mir eine äusserst klischeehafte nicht weisse Identität aufdrängten. Und eine weitere Dimension meiner eigenen Rassifizierung – mein explizites Annehmen einer nicht weissen Identität aufgrund meines Ursprungs und meiner Erfahrungen und wie ich sie gelesen und gelebt habe, aus der kritischen Perspektive, die mich zur Akademikerin macht, die ich geworden bin.

Das trügerische Gefühl von Heimat und Zugehörigkeit: Isis Giraldo zu Hause in Lausanne.

Zur Zeit der Anschläge lebte ich in den Niederlanden und schrieb über die 2008 in der Ukraine gegründete feministische Gruppierung Femen und ihre weisse, blonde, dünne, westlich-attraktive Aufforderung zur Nacktheit im öffentlichen Raum, die Nacktheit mit Freiheit gleichsetzte, und über ihre mehr als bejubelte Aufnahme in Frankreich.

Ein Phänomen, das hinsichtlich zweier miteinander verbundener kritischer Aspekte interpretiert werden konnte: erstens als etwas, das vom Kolonialismus des Geschlechts profitiert. Und zweitens als etwas, das im französischen Kontext sehr willkommen war wegen seines Nutzens als mediales Werkzeug, um die hegemonische Rolle des Westens in der kolonialen Matrix der Macht wieder­herzustellen.

Die schrecklichen «Charlie Hebdo»-Anschläge führten zu einer starken Identifikation der Westschweizer mit dem französischen Republikanismus und seinem inhärenten rassifizierten Universalismus, der behauptet, race nicht wahrzunehmen, während er täglich Rassismus reproduziert. Es offenbarte sich plötzlich, wie deutlich die Abgrenzung zwischen dem weiss-europäischen «Wir» und den nicht weissen / nicht europäischen «anderen» tatsächlich war. #JeSuisCharlie wurde zur Aufforderung, kritische Gedanken über den Westen als Herrschafts­projekt ausser Kraft zu setzen.

Es sorgte dafür, dass «als weiss durchgehen» und die blosse Möglichkeit, trotz des Exils dazuzugehören, damit einhergingen, die offen rassistischen und frauen­feindlichen Veröffentlichungen, die das Magazin seit den Nuller­jahren kennzeichneten, zu dulden. 2015 wurde mein Heimweh nach Lausanne zu einem Gefühl der Heimat­losigkeit. Wenn ich, um Lausanne mein Zuhause nennen zu können, die Parole #JeSuisCharlie annehmen musste – was gleichzeitig bedeutete, trotz der persönlichen Beziehung zu Frankreich einen eklatanten ethno­nationalistischen Ansatz des Französisch­seins zu billigen, der muslimische Bevölkerungs­gruppen ausschliesst –, dann war Lausanne nicht länger meine Heimat. Wenn ich, mit meinem Status als Migrantin aus dem Globalen Süden in den Globalen Norden und die Schweiz eingebürgert, mein emotionales, intellektuelles und politisches Selbst ablehnen musste, damit mein angenommenes Zuhause mein richtiges Zuhause wurde, dann war meine Wahl­heimat das genaue Gegenteil einer Heimat.

All das offenbart die Komplikationen, die race mit sich bringt: Sie hat nicht nur mit nationaler Herkunft, phänotypischen und körperlichen Merkmalen sowie Kultur zu tun – zu der auch Klasse und Habitus (nach Bourdieu) gehören. Sondern auch mit Vorstellungen von Heimat und Zugehörigkeit, die von intellektueller Veranlagung und politischen Zugehörigkeiten geprägt werden. Was wiederum offenlegt, wie sehr das Betonen und das Tilgen von race – als Konzept und soziale Kategorie – zersetzende politische Handlungen sind.

Und so komme ich zu meiner letzten und jüngsten Episode. Eine Kollegin aus dem Institut, an dem ich im Herbst 2021 arbeitete – eine Kollegin, die auch eine meiner Doktor­mütter war, mich also kennt und meine Arbeiten gelesen hat –, erzählt mir während eines Telefon­gesprächs eine Anekdote über eine Studentin von mir. Die Studentin habe ihr gegenüber einen interessanten Kurs zu latein­amerikanischer Literatur erwähnt, den sie belegt habe, gehalten von einer Dozentin of color, deren Name ihr nicht einfalle. Meine Kollegin erwiderte: «Wir haben keine person of color unter den Mitarbeiterinnen.» Doch die Studentin blieb hartnäckig: «Doch, haben Sie!» Irgend­wann fällt der Studentin mein Name wieder ein, und meine ehemalige Doktormutter – so berichtet sie mir – reagiert mit: «Oh, ja, Sie haben recht, Isis ist tatsächlich eine Frau of color.» Zu mir sagt sie dann unbekümmert: «Isis, ich habe dich immer als weiss gelesen.» Ich war sprachlos.

Wenn die Einteilung auf eine niedrigere Position in der Matrix des ethnischen Anders­seins darauf hindeutet, dass du nicht dem Nationalstaat angehörst, in welchem du zu dem geworden bist, was du bist, dann bedeutet es das komplette Auslöschen deiner persönlichen Geschichte, wenn du gezwungen bist, als weiss durchzugehen. In meinem Fall entstand diese persönliche Geschichte aus mehreren Schichten der Benachteiligung, bei denen meine ethnische Herkunft – die meiner Familie, meine eigene – elementar ist. Die konkreten Erscheinungs­formen dieser anwachsenden Schichten der Benachteiligung waren vielfältig und haben jeden Aufwärts­schritt der sozialen Mobilität, die ich erfahren habe, überdauert.

Aktuelle globale Debatten über race sind allgegenwärtig, sodass die dazugehörenden Komplexitäten sowohl des Konzepts als auch der sozialen Kategorie manchmal verwässert werden. Doch nichts ist unkompliziert an race und Prozessen der Rassifizierung. Es geht eher um eine ständige Wechsel­wirkung zwischen dem Behaupten einer eigenen Identität und dem Überstülpen (durch andere) einer stereotypen Identität. Zwischen dem respektvollen Anerkennen (durch andere) deiner nicht stereotypen ethnischen Identität – jener, die du selbst angenommen hast und die dich zu dem macht, was und wo du bist. Und dem Auslöschen deiner ethnischen Identität und Herkunft und damit deiner Geschichte, zwischen dem Sein und dem Werden eines rassifizierten Selbst und einer rassifizierten anderen.

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