Zeiten der Wende
Stromknappheit, Gasstopp, Preisexplosion machen Angst vor einem kalten Winter. Fünf Schritte, wie die Energieversorgung nachhaltiger werden kann.
Von Yves Ballinari, 09.09.2022
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Die Tage werden kürzer, und die Schweiz geht auf der Suche nach Energie tief in sich. Hunderte Meter tief, um genau zu sein. Auf dem zarten Rasen eines Aarauer Einfamilienhauses ragt ein Koloss auf Kettenraupen empor und schraubt ein faustdickes Eisengestänge senkrecht ins Erdreich. Bohrmeister Lucièn Camus steht am Schaltpult daneben und führt die Maschine. Sobald sie nach einigen Metern am Anschlag ist, legt sein Assistent weitere Stangen nach.
Der Vorgang wiederholt sich zwei Tage lang, bis das Loch 280 Meter tief ist. Die beiden führen ein Rohrbündel in das Loch ein und versenken es. Damit ist die Erdsonde platziert, nur die Wärmepumpe fehlt. Camus und sein Assistent verpressen sie mit Beton. Die Maschine schraubt die Metallrohre wieder raus, ein Pneukran hievt die Bohrmaschine auf einen Truck, und die Männer fahren weiter zur nächsten Baustelle.
Zurück bleiben die verschlossenen Rohrenden, ein ramponierter Rasen und hoffnungsvolle Hausbewohner.
So sieht die Energiewende in der Schweiz im Spätsommer 2022 aus. Immer mehr Privathaushalte lassen sich eine Erdsonde in ihren Garten verlegen. Der Andrang ist so gross, dass Camus’ Arbeitgeber eine Warteliste mit Anfragen aus allen Landesteilen führt. Die Pumpe, die über die Sonde Wärme aus dem Erdreich für die Heizung in das Haus transportiert, lässt auf sich warten.
Das alles ist keine neue Entwicklung. Schon letztes Jahr mussten sich Haushalte oft ein halbes Jahr gedulden, bis sie ihre Wärmepumpe erhielten. Inzwischen betragen die Lieferzeiten bis zu 18 Monate. Trotzdem schliessen die Kunden Verträge ab, da ein Abwarten die Umsetzung nur noch weiter nach hinten schiebt.
Viele Besitzer von Gasheizungen hätten sich noch lange hartnäckig daran geklammert, wenn der Krieg in der Ukraine das alte System nicht ad absurdum führen würde. Jetzt kann die Energiewende nicht schnell genug kommen. Die Zurückhaltung schrumpft, weil es keine Alternative mehr gibt. Das geschieht im Kleinen wie im Grossen.
Fünf Schritte sind entscheidend dafür, dass die Gaskrise zu einer nachhaltigeren Energieversorgung führen wird.
1. Wir beissen uns durch den Winter
Alles, was sich zum Heizen nutzen lässt, ist Mangelware. Die Situation hat sich weiter verschärft. Das zeigt sich auch auf der Anhöhe einige Kilometer vom Bohrloch in Aarau entfernt.
Auf der anderen Seite der Aare beginnt der Jura mit seinen Buchenwäldern, die sich in den Kalkstein krallen. Runde Pakete aus Holzscheiten säumen die Wege. Bis sie trocken genug zum Heizen sind, dauert es jedoch zwei Jahre. Der Forstbetrieb kann deshalb nicht einfach mehr Holz schlagen, um die steigende Nachfrage kurzfristig zu bedienen. Derzeit liefert er überhaupt keines mehr. Zuerst beschränkte er den Bezug von Brennholz auf bestehende Kundinnen, mit einer Wartezeit von bis zu drei Monaten. Seit Ende August ist Ende Feuer und kein trockenes Brennholz mehr aus dem Forstbetrieb Jura verfügbar. Sämtliche anderen angefragten Anbieter im Umkreis haben die Lieferungen ebenfalls bereits eingestellt oder weisen darauf hin, dass die Bestände bald aufgebraucht sind.
Da die Ofenbauer ebenfalls über ein halbes Jahr hinaus ausgelastet sind, wird aus der Umstellung auf Heizen mit Holz also zumindest für diesen Winter nichts.
Bei der erneuerbaren Stromerzeugung ist das Bild nicht anders. Die Lieferfristen für Fotovoltaik-Panels ziehen sich weit über den Winter hinaus. Solarmonteure und andere Fachkräfte sind gesucht. Landesweit behandeln Medien das Thema im Tagesrhythmus. Der Fokus der Berichterstattung war lange auf den kommenden Winter und die Erdgasversorgung gerichtet. Doch diese Geschichte ist schnell erzählt: Auch da bleibt Gaskunden nicht viel anderes übrig, als die Dinge auf sich zukommen zu lassen.
Immerhin sieht die Lage gar nicht so schlecht aus: Die EU-Länder haben ihre Gasspeicherziele für den 1. November übergreifend schon Anfang September erreicht. Der Füllstand der Gasspeicher in Deutschland, dem Hauptlieferanten der Schweiz, liegt laut der Bundesnetzagentur bei über 86 Prozent und im oberen Drittel der Spannweite von 2016 bis 2021. Die Zahlen vom August zeigen, dass die Speichermenge jeden Tag weiter wächst. Zudem liegt der Gasverbrauch im Vergleich mit den letzten drei Jahren deutlich tiefer.
Die Zahlen zeigen, dass weiterhin Gas in grossen Mengen nach Europa fliesst, obwohl der Anteil aus Russland stark abgenommen hat. Das stimmt zuversichtlich, dass die Schweiz ihre Gasreserven im Ausland im Notfall anzapfen kann. Wer als Erdgasverbraucher trotzdem nicht untätig herumsitzen will, kann sich die Zeit mit einer Art Füllstand-Bingo vertreiben.
2. Kritik an Akteuren und System
Gehen wir einmal davon aus, dass in diesem Winter die Heizungen nicht ausgehen werden, und wenden wir uns dem Grund zu, weshalb die Gaskrise zur Stromkrise wird.
Gas ist für die Bildung des Preises von Elektrizität mitverantwortlich, aber nicht allein entscheidend. Das sogenannte Merit-Order-Prinzip, wonach die teuerste Form der Energieerzeugung den Strompreis setzt, gilt für den kurzfristigen Markt oder Spotmarkt. Den langfristigen Rahmen für den Strompreis bildet der Terminhandel. Festgelegt werden der langfristige wie der kurzfristige Preis an den europäischen Börsen. Die Schweiz hat darauf keinen Einfluss.
Ich will es genauer wissen: Wie wird der Strompreis gebildet?
Grundsätzlich erfolgt die Preisbildung für Elektrizität an der Börse oder über direkte Geschäfte zwischen Anbieter und Abnehmer, also over the counter (OTC). Bei beiden Handelsformen unterscheidet man zwischen Termingeschäften und Spotmarkt. Der börsliche Terminhandel in Europa läuft über die EEX in Leipzig, der Spotmarkt über die Epex Spot in Paris.
Der Preis im langfristigen Terminhandel bezieht sich auf das folgende Kalenderjahr. Entsprechend handelt es sich dabei um eine Schätzung in die Zukunft. Der Preis am kurzfristigen Spotmarkt ist aktuell. Energieversorger beschaffen sich Strom am Terminmarkt in der Regel für ein Jahr oder mehr im Voraus. Für den Weiterverkauf des an der Börse erstandenen Stroms schlagen sie Kosten für den Transport über Stromleitungen, Steuern und Abgaben auf den Preis.
In der Schweiz gibt es keinen voll liberalisierten Markt: Grosskundinnen mit einem Verbrauch über 100’000 Kilowattstunden (kWh) pro Jahr können ihren Strompreis mit einem beliebigen Versorger aushandeln oder beschaffen die Energie am Markt. Verzichten sie darauf, sind sie Haushalten gleichgestellt und damit an den regionalen Netzbetreiber gebunden.
Der Strompreis für diese «festen Kunden» setzt sich aus drei Faktoren zusammen: dem Energietarif, dem Netznutzungstarif und den politischen Abgaben. Letztere fliessen ins Gemeinwesen, in die Förderung erneuerbarer Energien und in den Schutz von Gewässern und Fischen. Die so festgelegten Strompreise sind für die Haushalte auf ein Jahr hinaus verbindlich. Die Versorger müssen sie jeweils bis Ende August für das kommende Kalenderjahr bei der Eidgenössischen Elektrizitätskommission (Elcom) anmelden. Diese prüft, ob die Preise angemessen sind.
Etwa zwei Drittel der Schweizer Stromlieferanten besitzen eigene Kraftwerke und beliefern ihre Kunden mit der selbst produzierten Energie und Mengen, die sie am Markt beschaffen. Die anderen 30 Prozent der Lieferanten beschaffen den Strom vollumfänglich am Markt. Dadurch entstehen je nach Versorgungsgebiet unterschiedliche Preise für die Haushalte.
Spätestens seit Anfang September dämmert das auch immer mehr Schweizer Stromkundinnen, nachdem die Energieversorger die Strompreise für 2023 erhöht haben. Je nach Versorgungsgebiet weichen die Erhöhungen wie auch die Tarife stark voneinander ab.
Das Ausmass der Anpassungen hängt davon ab, wie viel Strom die Unternehmen selbst produzieren und wie viel des übrigen Stroms sie im Voraus beschaffen. Ist der Anteil der Eigenproduktion durch Wasserkraft oder Kernenergie hoch und das eingekaufte Volumen am Spotmarkt gering, fällt die Strompreiserhöhung moderat aus. Versorger mit geringer Eigenproduktion und hohen Kosten für die Energiebeschaffung am Spotmarkt steigern ihre Preise teilweise um ein Mehrfaches.
An den Börsen sind die Strompreise auf den Herbst hin explodiert: Sie überwanden im August die Grenze von 1000 Euro pro Megawattstunde für die Stromlieferung von Januar bis März 2023, also am Terminmarkt. Das ist umgerechnet rund 1 Franken pro Kilowattstunde Strom. Im laufenden Jahr bezahlte ein typischer Haushalt in der Schweiz rund 21 Rappen. Würden die Haushalte ihren Strom zu Höchstpreisen am Terminmarkt beschaffen und nicht verzögert über die Energieversorger (siehe Box), hätten sie Anfang August also fünfmal mehr bezahlt.
Neben den extremen Anstiegen kommt es an der Börse zu krassen Kurssprüngen im Tagesverlauf. Die Bewegungen erreichen die Endkunden in der Schweiz zwar nur über den Umweg der Preiserhöhungen ihrer Versorger. Diese sind dem Markt direkt ausgesetzt. Das hat für sie auch positive Auswirkungen, da sie selbst produzierten Strom derzeit zu exorbitanten Preisen verkaufen können.
Dennoch leugnet niemand in der Energiebranche die Problematik sprunghafter Gas- und damit Strompreise. So extrem, wie sie sich derzeit verhalten, sind sie eine ernsthafte Gefahr für alle Verbraucher. Umstritten ist vielmehr, was das bedeutet: Ist es ein Beweis dafür, dass der Markt kaputt ist, oder im Gegenteil dafür: dass er funktioniert? Ist das System schuld oder sind es die Akteure?
Der Schweizer Davide Orifici hat eine klare Meinung. Er arbeitet bei der Pariser Strombörse Epex Spot und ist dort unter anderem für regulatorische Belange zuständig. «Die Preisentwicklungen sind nicht das Resultat von Marktversagen oder Ähnlichem, sondern ein Resultat von Angebot und Nachfrage», sagt er. «Es ist daher wichtig, dieses Preissignal zu bewahren, um Knappheitssituationen zu identifizieren und Anreize für Investitionen, beispielsweise in günstigere Erzeugungsmethoden, zu bewahren.»
Die Mehrheit der Akteure im Markt ist ebenfalls dieser Meinung. Die Experten von Neon, darunter Ingmar Schlecht von der ZHAW, zählen dazu. Sie haben ihre Ansicht in einem übersichtlichen Beitrag dargelegt. Bezeichnend ist, dass Neon unter anderem ein Projekt zum EU-Marktdesign für das deutsche Bundesministerium für Wirtschaft und Energie durchgeführt hat.
3. Den Strommarkt neu denken
In Deutschland rufen viele nach Eingriffen von aussen, um die holprige Preisrallye abzubremsen. Nicht mehr der Markt soll die Preise regeln, sondern der Staat. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will den europäischen Strommarkt grundlegend reformieren. Zwei Ansätze stechen dabei hervor:
Gas- und Strompreis sollen entkoppelt werden.
Die ausserordentlichen Gewinne der Stromproduzenten sollen abgeschöpft werden und in die Unterstützung von Haushalten mit tiefem Einkommen und Unternehmen fliessen.
Solche Eingriffe sehen Börsenvertreter und Energieunternehmen naturgemäss nicht gern. Orifici etwa äussert sich klar gegen die geplante Reform des Marktdesigns. «Die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern in Kombination mit hohen Gaspreisen verursacht die Energiepreiskrise, nicht das Marktdesign», sagte er Ende Juli in einem Interview. Die Forderung nach einer Entkoppelung des Strompreises vom Gaspreis und eine Preisobergrenze hält Orifici für kontraproduktiv.
In der Schweiz, die nicht über das EU-Marktdesign mitbestimmt, hinkt die Diskussion hinterher. Da die Gasimporte auf Termingeschäften beruhen, werden die Preise für die Endverbraucher wie beim Strom erst in den nächsten Wintern ihre volle Wirkung entfalten. Energieministerin Simonetta Sommaruga hat die Frage nach einer sogenannten Übergewinnsteuer für die Schweiz aber ebenfalls aufgeworfen. Die SP stützt sie und geht noch einen Schritt weiter. Sie will nicht nur die ausserordentlichen Gewinne der Stromerzeuger abschöpfen, sondern den Strommarkt grundsätzlich neu ordnen.
Im Juli lagen die Preise für eine Kilowattstunde Gas für die Verbraucher in der Schweiz noch bei rund 14 bis 15 Rappen. Energieexpertinnen rechnen auf Anfrage damit, dass sie sich langfristig mehr als verdreifachen werden. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis ein Gaspreisdeckel auch in der Schweiz zum Thema wird. Beim Strom ist diese Entwicklung bereits im Gange. SP-Nationalrätin Gabriela Suter kündigte im «Blick» einen entsprechenden Vorstoss ihrer Partei an, sollten die Energieunternehmen nicht auf Krisengewinne verzichten.
Das Problem an staatlichen Eingriffen: Sie spiegeln nicht die Signale aus dem Markt. An diesen liess sich schon letzten Herbst ablesen, also vor dem Krieg in der Ukraine, dass eine Abkehr vom fossilen Energieträger Erdgas nötig ist. Damals stiegen die Gaspreise auf das Dreifache.
Die Reformpläne der EU-Kommissionspräsidentin dämpfen die Signale im besten Fall ab und verkehren sie im schlimmsten Fall ins Gegenteil. Sie sind auch ein Rückschritt in der Öffnung des Energiemarkts, mit dem die Schweiz sich ohnehin sehr schwertut.
Die grossen Versorger in der Schweiz werden sich dennoch mit Händen und Füssen dagegen wehren, dass der Staat – oder besser gesagt: die Staatengemeinschaft EU – den Markt zurechtstutzt. Allgemein tun sich die Stromkonzerne in der Schweiz schwer damit, sich von der Aussicht auf die Marktliberalisierung wieder rückwärts in die Obhut staatlicher Kontrolle zu tasten.
Roland Leuenberger zum Beispiel, Chef des börsennotierten Südostschweizer Energieversorgers Repower, wählte bei der Präsentation der Halbjahreszahlen Ende August klare Worte. Das Unternehmen sei nicht dafür, dass der Staat in den Markt eingreife, und insbesondere gegen Preisdeckelungen. Gleichzeitig sprach sich Leuenberger für die Unterstützung von Härtefällen aus.
Ein Zögern zeichnet sich auch im Fall der vom Bundesrat geplanten Wasserkraftreserve ab. Die Energieversorger krebsen seitwärts, wenn es um die Frage geht, ob sie daran teilnehmen. «Das Eis ist dünn», warnt Leuenberger zwar in Bezug auf die Versorgung im Winter. Es könne aber sein, dass Repower nicht mitmache bei den Auktionen für eine Wasserkraftreserve. Das Unternehmen sei in erster Linie sich selbst verpflichtet. Die drei grossen Versorger Alpiq, Axpo und BKW konnten sich ebenfalls noch nicht zu einer Zusage hinreissen lassen. Alpiq-CEO Antje Kanngiesser sagte, das Unternehmen sehe es als seine Aufgabe, zunächst die Bedürfnisse der Versorger und Kunden in der Schweiz zu decken. Axpo und BKW nannten keine Gründe. Sie dürften aber ebenfalls lieber Energie aus ihren Wasserkraftwerken verkaufen, als sie für Notreserven einzusetzen.
Man kann sich vorstellen, dass es am Ende eine Preisfrage sein wird, ob Unternehmen, die ihr Geld mit Stromerzeugung und -handel verdienen, ihre Reserven in den Stauseen für die Allgemeinheit zurückhalten. Entweder das oder die Politik zwingt sie dazu. Der Bundesrat hat diese Woche entschieden, den Rettungsschirm für die Stromkonzerne mittels Notverordnung in Kraft zu setzen und der Axpo damit 4 Milliarden Franken bereitzustellen, falls sie zusätzliche flüssige Mittel benötigt. Auch den Bau des Reservekraftwerks in aargauischen Birr setzt er mit einer Spezialverordnung kurzfristig durch.
4. Anbauschlacht 2.0
So wie Bohrmeister in Schweizer Hausgärten Löcher treiben, die erst nächstes Jahr oder noch später Erdwärme zum Heizen fördern werden, stehen auch andere Akteure mit Grossprojekten in den Startlöchern: Energieversorger, Investoren und Branchenverbände für erneuerbare Energien. Bisher scheiterten sie oft an fehlenden Rahmenbedingungen und an Einsprachen. Das betrifft die Anlagen zur Stromproduktion und den Ausbau des Leitungsnetzes, das die Energie überträgt.
Bisher stand der Umweltschutz im Zweifelsfall über der Energieinfrastruktur. Das dürfte sich nun ändern: Das Parlament scheint gewillt, den bisherigen Rechtsrahmen für deren Bau und damit die demokratische Mitgestaltung auszuhebeln.
Die Umwelt- und Energiekommission des Ständerats hat Ende August einstimmig beschlossen, den Weg für den Bau von Solarparks auf Freiflächen freizumachen, sofern sie einen hohen Anteil an Strom im Winter liefern. Die Planungs- und Umweltverträglichkeitsprüfung für Anlagen im Gebirge soll entfallen, und der Bund soll die Anlagen mit einem Investitionsbeitrag fördern. Ausserdem will die Kommission 2024 eine Pflicht für Solaranlagen auf Neubauten einführen. Kantone und Gemeinden könnten sie nur im Ausnahmefall umgehen.
In der Herbstsession sollen beide Kammern über die Anträge der Kommission entscheiden. In Form eines dringlichen Bundesgesetzes können sie die Bestimmungen in Kraft setzen. Ob das in der vorgesehenen Form geschieht, ist offen. Allerdings äusserten sich Politiker von links bis rechts positiv zu den Anträgen. Ein paar Tage nach dem Entscheid der ständerätlichen Kommission meldete der Windverband Suisse Eole gegenüber «energate» an, ähnliche Lockerungen für Windkraftwerke im Nationalrat einbringen zu wollen.
Damit könnten Solaranlagen und Windkraftwerke bald von Gesetzes wegen über dem Landschaftsschutz stehen. Für die Energieversorger, die seit längerem kritisieren, dass in der Schweiz keine Grossanlagen für die Produktion von erneuerbarer Energie möglich sind, wäre das ein Durchbruch.
Die Energiebranche und einzelne Medien vergleichen die Aufbruchstimmung im Zusammenhang mit der Abkehr von russischem Erdgas bereits mit der Anbauschlacht der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Statt Kartoffeln in Hinterhöfe werden nun Windräder und Solarpanels neben Bergbahnen und auf Hügelzüge gepflanzt.
Das alles löst aber noch nicht die Preisfrage: Wie ersetzen wir die Erdgasimporte?
5. Einen Gaskreislauf schaffen
Während zum Heizen mit Wärmenetzen und -pumpen etablierte Alternativen zur Verfügung stehen, plagt sich die Gasbranche weiter mit ihren Plänen für Biogas herum. Das Potenzial an Bioabfällen hierzulande und im Ausland wird nicht ausreichen, um den Gasbedarf in der Industrie zu decken.
Andererseits ist die traditionelle Gasbranche vielleicht die falsche Anlaufstelle, um Antworten zu erwarten, die auf ihre Ablösung hinzielen. Der Impuls für eine nachhaltige Gasversorgung muss von aussen kommen. In der Schweiz gibt es ebenfalls Bestrebungen, aber die stecken in den Kinderschuhen. Ob sie jemals zur nötigen Grösse heranwachsen, ist unklar.
Swiss Green Gas International ist einer der wenigen Akteure, die die nachhaltige Gasversorgung in einem grösseren Zusammenhang denken. Heute ist sie aber noch wenig mehr als eine Briefkastenfirma mit grossen Namen und ambitionierten Zielen. Auf Anfragen hin hält sie sich bedeckt. Bekannt ist, dass Axpo und der Westschweizer Versorger Holdigaz beteiligt sind und dass die noch junge Firma den Bau von sogenannter Power-to-X-Infrastruktur im Norden Europas plant. Die Anlagen erzeugen Wasserstoff und Grüngas aus erneuerbarem Strom. Angesichts einer drohenden Strommangellage in Europa scheint das verwegen.
Deutschland geht derweil mit grossen Schritten voran, um verflüssigtes Erdgas (LNG) aus Übersee zu importieren. Die LNG-Einfuhr aus den USA hat bereits den russischen Gasfluss überholt. Kurzfristig ersetzt damit ein fossiler Energieträger einen anderen. Umweltverbände kritisieren, dass mit der Investition in LNG-Terminals in eine langfristige Infrastruktur investiert wird. Die Grünen halten mit der Aussicht auf ein klimaneutrales Deutschland ab dem Jahr 2045 dagegen.
Ausserdem bieten die Terminals auch eine systemische Chance, gerade für die Schweiz: Sie könnte Teil eines internationalen Kreisschlusses aus CO2, Grüngas und grünem Wasserstoff werden. Das belgische Unternehmen Tree Energy Solutions (TES) baut gemeinsam mit der deutschen EON ein stationäres Grüngasterminal im norddeutschen Wilhelmshaven. Gleichzeitig erstellt TES gemeinsam mit der Gasnetzbetreiberin Open Grid Europe (OGE) ein CO2-Leitungsnetz in Deutschland.
Weitgehend unbeachtet von der Schweizer Strombranche und den Medien weibelt das Unternehmen für einen Anschluss der Schweiz. Dadurch könnte die hiesige Industrie CO2 abführen, das TES über Wilhelmshaven nach Nord- und Mittelamerika verschifft, um es dort zusammen mit überschüssigem Strom aus Fotovoltaik- und Windkraftwerken sowie grünem Wasserstoff in Grüngas umzuwandeln. Dieses führt TES über den Seeweg zum Terminal nach Norddeutschland.
Neben dem Terminal plant das Unternehmen am Standort Wilhelmshaven eine Anlage, die Grüngas in grünen Wasserstoff umwandelt. Diesen will TES an seine Kunden in Europa liefern. In etwa fünf Jahren könnten die klimaneutralen Energieträger in grossen Mengen und zu günstigen Preisen in die Schweiz gelangen, so das Unternehmen. Damit liessen sich gleich drei Probleme gleichzeitig lösen: der langfristige Ersatz von Erdgas, die Abscheidung von CO2 und der Bezug von grünem Wasserstoff.
Das Bundesamt für Umwelt hat erste Gespräche mit TES bestätigt. Wie aus weiteren Recherchen hervorgeht, tut sich der Bund aber nur schon schwer, intern die Zuständigkeit für die Anfrage zu regeln. Die Industrie, allen voran die 29 Kehrichtverwertungsanlagen in der Schweiz, bekunden deutlich mehr Interesse.
Akteure der Gasbranche äussern sich ebenfalls positiv. «Das Projekt ist ein interessanter Ansatz und genau das, was es derzeit braucht», sagt beispielsweise Ernst Uhler, CEO von Energie Zürichsee Linth. Das Unternehmen hatte vor einigen Jahren gemeinsam mit einem Aargauer Versorger einen Versuch mit importiertem flüssigem Biogas aus Norwegen gestartet. Es blieb bei einem einzigen Container. «Wir haben uns entschlossen, uns auf Fernwärmeprojekte in unserer Umgebung zu konzentrieren», sagt Uhler. «Als kleinerer Energieversorger verfügen wir nicht über die nötigen Ressourcen, um ein Pionierprojekt für den Import von Biogas voranzutreiben.»
Und jetzt? Klamme Stuben, klamme Kundschaft?
Die Akteure der Energiepolitik in der EU und in der Schweiz scheinen sich derzeit die Zähne an der Frage auszubeissen, wie sie den Energiemarkt gegen die drohende Mangellage wappnen sollen. Energieverbraucher befürchten klamme Stuben und klamme Brieftaschen. Alle fragen sich, was man tun kann. Antworten darauf gibt es schon seit einiger Zeit, man wollte sie nur nicht sehen: ein System aus alternativen und nachhaltigen Energieträgern fördern, die einen nicht zum blossen Empfänger degradieren.
Ein Projekt in der Grössenordnung des Energiekreislaufs von TES ist in der Schweiz aber noch nicht in Sichtweite. Die Gasbranche ist kleinräumig, genau wie die Vorgärten, in denen die Bohrmaschinen derzeit Erdsonden setzen, die auf ihre Bestimmung warten. Nach Hunderten von Löchern kennt Lucièn Camus die Geologie des Landes in den obersten 350 Metern langsam auswendig: Erdreich, Kalk, Sandstein, Mergel, viel Wasser. Ab und zu trifft er auf härteres Gestein. Die Bohrspitze der Anlage durchbreche sogar Granit mühelos, sagt er.
Kein Vergleich zu den Herausforderungen der Energiepolitik in der Schweiz und in Europa. Beide täten besser daran, sich über ein Abkommen zu einigen, das eine Zusammenarbeit in Energiefragen ermöglicht. Darüber entscheiden wird die Politik, die auf beiden Seiten mit anderen Themen beschäftigt ist. Bleiben die Rahmenbedingungen für erneuerbare Energien in der Schweiz. Da braucht es schlagkräftige Gesetze und Verordnungen. Damit der Schub, den die Energiewende aufgenommen hat, nicht unnötig verpufft, wenn der schwierige erste Winter überstanden ist.
Yves Ballinari arbeitet als Journalist für «energate», ein auf die Energiebranche spezialisiertes Medium. Seit einigen Jahren ist er Mitglied des Schweizer Recherchenetzwerks Investigativ.ch.