Die Suche nach dem Täter
Eine Schweizer Diplomatengattin verbrennt 1956 in Hongkong bei lebendigem Leib. Bei der Untersuchung zum Anschlag tauchen Ungereimtheiten auf. «Mord in Hongkong», Teil 2.
Von Ernst Herb (Text) und Gregory Gilbert-Lodge (Illustration), 09.09.2022
Eine Taxifahrt in Hongkong am 11. Oktober 1956 endete tödlich für Diplomatengattin Ursula Margareta Ernst. Was geschah wirklich, als sie und Ehemann Fritz Ernst bei einem kurzen Abstecher auf das Festland mitten zwischen die Fronten von Kolonialismus und Kaltem Krieg gerieten? Die Spurensuche gestaltet sich kompliziert, gerade aufgrund der politischen Umstände.
Die britische Kronkolonie Hongkong wurde im Herbst 1956 von den schwersten Unruhen seit Ende des Zweiten Weltkriegs erschüttert, mehr als 60 Menschen starben. Die Sicherheitskräfte nahmen bis zum Ende der Proteste mehr als 6000 Personen fest. 40 Menschen verloren, wie es in einem offiziellen Bericht heisst, allein durch Schüsse aus Militär- und Polizeiwaffen ihr Leben. Die sogenannten Double Ten Riots sind allerdings ebenso wie die damit verbundene Tragödie um das Schweizer Diplomatenpaar Fritz und Ursula Margareta Ernst heute weitgehend in Vergessenheit geraten.
Ein Grund für die kollektive Amnesie dürfte sein, dass sich in jenem Jahr die Ereignisse auf der internationalen politischen Bühne überstürzten und weltpolitische Gewissheiten ins Wanken gerieten, ähnlich wie dies 2022 der Fall ist.
Die Taxifahrt eines Schweizer Diplomatenpaars endet in einer Tragödie. Was geschah an diesem Oktobertag im Jahr 1956 wirklich? Ein historischer Kriminalfall aus Hongkong. Zur Übersicht.
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Die Suche nach dem Täter
Teil 3
Und die Schweiz schweigt
In der weltoffenen Hafenstadt Hongkong am Rande Chinas waren die Schockwellen der globalen Krise damals besonders stark zu spüren. Sowohl Peking wie auch die Nationalisten von General Chiang Kai-shek, die nach der Niederlage im Chinesischen Bürgerkrieg nach Taiwan ausgewichen waren, betrachteten Hongkong als integralen Teil Chinas. Anhängerinnen der Kommunistischen Partei (KPCh) und chinesische Agenten waren in der Kolonie ebenso aktiv wie ihre Erzfeinde aus Taiwan, mehr oder weniger mit Duldung der britischen Kolonialregierung.
Anfänglich befürchtete diese, die Unruhen seien von Peking angezettelt worden, um einen Vorwand für eine Invasion in die Kolonie Hongkong zu schaffen. Das war denkbar, kam es doch in diesen Jahren immer wieder zu Grenzverletzungen oder Hetzkampagnen in lokalen, von der KPCh finanzierten Zeitungen.
Anschläge auf Ausländer und wohlhabende Chinesen waren damals ebenfalls keine Seltenheit. Der Schweizer Konsul Georges Bonnant, der Vorgesetzte von Fritz Ernst, schildert einen solchen Vorfall. In einem Bericht über den «Unfall F. Ernst», der am 21. Oktober 1956 an Bundesrat Max Petitpierre übermittelt wird, beschreibt Bonnant einen Angriff auf einen belgischen Banker. Dieser habe nur darum seinen Kopf aus der Schlinge ziehen können, weil er perfekt Chinesisch gesprochen habe. «Hier ist ein westlicher Mann! Tötet ihn!», habe die Meute geschrien.
Die Angriffe erfolgten aber nicht nur auf Ausländerinnen. Es gingen Schulen in Flammen auf, die von der KPCh betrieben wurden, Lokale des von ihr kontrollierten Gewerkschaftsbundes. Auch Geschäfte brannten, deren Besitzer gute Beziehungen nach China unterhielten, etwa die Grossbäckerei «Garden Bakery», die sich nur wenige Meter vom Ort des Angriffs auf das Taxi des Ehepaars Ernst entfernt befand.
Mit den damaligen Geschehnissen hatte insbesondere die westliche Presse Mühe, passten sie doch so gar nicht in das Schwarz-Weiss-Schema des Kalten Krieges, in dem den Kommunisten in den Augen einer breiteren Öffentlichkeit für gewöhnlich die exklusive Rolle des Aggressors zukam.
Die Schweiz machte mit China Geschäfte
Es war ein Zeichen der Zeit, dass das US-Aussenministerium amerikanischen Journalisten damals unter Androhung drakonischer Strafen verboten hatte, ins kommunistische China zu fahren, um sich ein eigenes Bild der Situation zu machen. Auch die NZZ sollte erst 1976 einen eigenen Korrespondenten in die Volksrepublik entsenden. All dies sind Gründe dafür, dass die blutigen Ereignisse in Hongkong von 1956 schnell wieder in Vergessenheit gerieten. Und damit auch das Schicksal von Ursula Margareta Ernst.
Die Schweiz aber hatte 1950 als eines der ersten westlichen Länder mit Peking volle diplomatische Beziehungen aufgenommen und unterhielt trotz US-Handelsembargo blühende Wirtschaftsbeziehungen mit China. Entsprechend wurde für diese mit den Unruhen das aussenpolitische Umfeld plötzlich deutlich rauer.
War die Tötung von «Mrs Ernst» also bloss ein fataler Zufall in einer aufgeheizten weltpolitischen Lage? War das Schweizer Diplomatenpaar nur zur falschen Zeit am falschen Ort? Oder handelte es sich doch um einen gezielten Anschlag? Die Suche nach Antworten besteht in einem Puzzle aus längst vergilbten Akten und Zeitungsausschnitten.
Sicher ist, dass neben Witwer Fritz Ernst und Taxifahrer Li Chun während des Prozesses Anfang 1957 eine ganze Reihe weiterer Zeugen aussagte und schilderte, was sich am 11. Oktober 1956 gegen 13.30 Uhr im Zentrum von Sham Shui Po abgespielt haben soll. Darunter auch die junge amerikanische Missionarin Joan Espley, die von einem oberen Stockwerk ihres unweit des Tatorts liegenden Wohnheims den Überfall auf das Taxi verfolgt hatte.
Sha Tin Heights Hotel
Hongkong
Anschlag auf
das Ehepaar Ernst
Kowloon
Unfallort des
Taxifahrers Li Chun
Star Ferry Kowloon
Star Ferry Central,
Schweizer Konsulat
Hong Kong Island
Wohnort
Familie Ernst
Gefängnis in
Stanley
Sha Tin Heights Hotel
Hongkong
Anschlag auf
das Ehepaar Ernst
Kowloon
Unfallort des
Taxifahrers Li Chun
Star Ferry
Kowloon
Star Ferry Central,
Schweizer Konsulat
Hong Kong Island
Wohnort
FamilieErnst
Gefängnis in
Stanley
In einem im März 1957 in der Zeitschrift «Erwachet» der Zeugen Jehovas veröffentlichten Bericht beschreibt die Augenzeugin eine aufgebrachte Meute, die mit Eisenstangen die Fenster des Taxis einschlug, Kerosin in das Innere des Autos schüttete, ein angezündetes Streichholz hineinwarf und den brennenden Wagen umstiess. Den Insassen sei es irgendwie gelungen, so Espley weiter, aus dem brennenden Fahrzeug zu entkommen: «Die Frau brannte von Kopf bis Fuss und ihr Gatte versuchte verzweifelt, ihr die Kleider vom Leibe zu reissen. Es gelang ihnen, auf den Bürgersteig zu fliehen. Nun kamen die beiden auf unser Haus zu. Der Pöbel folgte ihnen auf dem Fuss und belästigte sie ständig. Als das Ehepaar an unserem Haus vorbei hetzte, sahen wir, dass die Frau völlig nackt war und schwere Brandwunden aufwies.»
Wie ein Militärarzt während der Verhandlung aussagte, trug Ursula Margareta Ernst auf der Hälfte ihres Körpers Verbrennungen 2. Grades und auf einem Drittel Verbrennungen 3. Grades davon. Zwei Tage nach dem Angriff starb Fritz Ernsts Gattin. «Sie hatte grosse Schmerzen und stand unter einem schweren Schock», sagte der am Prozess als Zeuge vorgeladene Armeearzt Major Brown. Dank hohen Morphindosen sei sie ohne Schmerzen entschlafen. Fritz Ernst, der nur mittelschwere Verbrennungen an den Armen und am Gesicht davongetragen hatte, konnte nach einer Woche aus dem Spital entlassen werden.
Nicht alles, was Missionarin Espley in ihrem Bericht geschrieben hat, stimmt mit den in Polizeiberichten protokollierten Aussagen von anderen Zeugen überein. So ist darin etwa festgehalten, dass der Wagen der Opfer nicht durch ins Auto gegossenes Kerosin, sondern wegen aus dem Tank ausgelaufenen und in Brand geratenen Benzins in Flammen aufgegangen sei. Handelten die mutmasslichen Täter also gar nicht vorsätzlich, wie die Anklage behauptete?
Dann nämlich hätten die Täter lediglich mit einer langjährigen Gefängnisstrafe davonkommen müssen. Doch das Gericht folgte den Argumenten der Anklage, was gemäss den damaligen britischen Gesetzen zwingend mit der Todesstrafe geahndet werden musste. Dabei liessen der Verhandlungsverlauf und die dabei vorgebrachten Beweise und Aussagen erhebliche Zweifel darüber aufkommen, ob an diesem Prozess Anfang 1957 tatsächlich die einzigen und vor allem die richtigen Täter zur Rechenschaft gezogen worden sind.
Diese Frage sollte später auch im fernen politischen und diplomatischen Bern noch für erhebliches Kopfzerbrechen sorgen.
Vom mutmasslichen Täter zum Hauptzeugen
Der von der britischen Krone gestellte Pflichtverteidiger Thomas Shurlock führte gegenüber dem zuständigen Richter A. D. Scholes aus, dass die Polizei zumindest einen der Angeklagten während eines Verhörs misshandelt habe. Gegen einen detective inspector Watson wurde deswegen auch ein Verfahren eingeleitet, das kurz darauf allerdings ohne viel Aufhebens wieder eingestellt wurde. Auch über die Reihenfolge der vorgelegten Beweise gab es Ungereimtheiten. Ernst hat bei einer einige Tage nach der Tat durchgeführten Gegenüberstellung von Verdächtigen fünf Personen als Täter identifiziert. Später räumte er während eines Kreuzverhörs ein, dass er dies auch auf Drängen der Polizei gemacht habe. «Ich glaube, ich sah ihn», relativierte er frühere Aussagen. Oder auch mit den Worten: «Ich habe den Eindruck, dass ich ihn gesehen habe.»
Nicht unproblematisch war ausserdem, dass einer der ursprünglich fünf des Mordes angeklagten mutmasslichen Täter nach dem gegen ihn eingestellten Verfahren zu einem der Hauptzeugen der Anklage wurde. Das lasse, so hob die Verteidigung damals hervor, gewisse Zweifel an der Glaubwürdigkeit seiner belastenden Aussagen gegen die vier anderen Täter aufkommen. Shurlock wies im Verlauf des Prozesses auch darauf hin, dass es durchaus möglich sein könnte, dass der ebenfalls als Zeuge der Anklage vorgeladene Taxifahrer Li Chun selbst als Mittäter infrage kommen könnte. Solche Mutmassungen wurden im Verlauf des Prozesses allerdings nicht erhärtet.
Doch die Umstände, bei denen Taxifahrer Li Chun drei Jahre nach dem Tod seines Fahrgastes Ursula Margareta Ernst selbst sein Leben verloren hat, lassen den Schluss ziehen, dass es einen Zusammenhang zwischen den beiden Vorkommnissen gab. Das von Li Chun gesteuerte Auto wurde 1959 im Stadtteil Hung Hom an der Kreuzung Wa Fung und Winslow Street bei einem Auffahrunfall von einem Lieferwagen zerquetscht. Der Unfallort hätte symbolträchtiger nicht sein können, wie ein Augenschein sechs Jahrzehnte später zeigt. Die kurze Strasse ist bis heute gesäumt von Bestattungsunternehmen, Sargläden und drei grossen Leichenhallen, was bei Chinesen, die dem Tod gegenüber bis heute sehr abergläubisch sind, damals gespenstische Assoziationen hat aufkommen lassen müssen. Ist mit einem Racheakt an Taxifahrer Li Chun an diesem Ort vielleicht ein klares Signal ausgesendet worden?
«Versicherungsstatistiker würden die Umstände zweier solcher Unfälle als ungewöhnlich ansehen», sagt Steve Vickers, der ehemalige Chef der Hongkonger Kriminalpolizei, im Gespräch mit der Republik. Mutmassungen, dass es sich beim Unfalltod von Li Chun um einen Racheakt gehandelt hat, werden durch die fluchtartige Abreise von Fritz Ernst aus Hongkong Richtung Tokio im Hochsommer 1957 kurz nach der Vollstreckung des Todesurteils gegen die vier mutmasslichen Mörder seiner Frau noch weiter verstärkt.
Kolonialregierung stand politisch unter Druck
Sicher ist rückblickend jedenfalls: Für juristische Feinheiten wie die Frage nach dem Vorsatz im Fall Ursula Margareta Ernst oder das Ausleuchten der tatsächlichen Hintergründe der Tat hatte es in der damaligen lokalen und geopolitischen Lage kaum Platz. Das zeigte sich nach den Double Ten Riots auch in Dutzenden weiteren kurzen Prozessen mit harten Urteilen wegen Körperverletzung, Brandstiftung oder Plünderungen.
In den Wochen und Monaten nach den Unruhen wurden Tausende des Aufruhrs Verdächtigte in eigens errichteten Gefangenenlagern interniert und 1957 schliesslich nach Taiwan deportiert. Darunter befanden sich auch Mitglieder von Triaden, chinesischen Geheimgesellschaften, die durch organisierte Kriminalität finanziert werden und seit alters her immer wieder eine aktive politische Rolle gespielt haben; gemäss offiziellen Angaben waren sie auch an den Double Ten Riots beteiligt.
Die Kolonialregierung stand dabei unter enormem internem und externem Druck. Mit ihrem harten Durchgreifen wollte sie nicht nur der unruhigen Lokalbevölkerung zeigen, dass sie Hongkong unter Kontrolle hatte. Sie musste vor allem auch gegenüber Peking den Eindruck vermeiden, dass sie im schwelenden Konflikt zwischen der Volksrepublik China und der Republik China einseitig Partei ergriff. Gleichzeitig war Hongkongs Regierung bemüht, den politischen Charakter der Unruhen herunterzuspielen, wenn nicht sogar ganz zu verneinen, denn sonst hätte das leicht Probleme mit den damals in Hongkong überaus aktiven Amerikanern geben können.
In dieser höchst angespannten politischen Lage haben der Schweizer Diplomat Fritz Ernst und Taxifahrer Li Chun mit ihren Zeugenaussagen im «Mordfall» von Ursula Margareta Ernst mit grosser Wahrscheinlichkeit die ihnen von der Polizei zugedachte Rolle gespielt.
Doch was genau sollte damit unter den Teppich gekehrt werden?