Strassberg

Der Teufelspakt mit dem Nutzen

Umweltschützer argumentieren heute so: Der Erhalt der Natur lohnt sich, auch wenn er teuer ist. Aber sind nicht genau Kosten-Nutzen-Rechnungen das eigentliche Problem?

Von Daniel Strassberg, 06.09.2022

Synthetische Stimme
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Wegen des akuten Weizen­mangels will Deutschlands grüner Landwirtschafts­minister Cem Özdemir die Regel aussetzen, vier Prozent der landwirtschaftlich genutzten Flächen zugunsten der Biodiversität nicht zu bebauen. Özdemirs Entscheid stiess auf breite Zustimmung, es wurde argumentiert, das Interesse an der ausreichenden Versorgung der Bevölkerung sei höher einzustufen als das Interesse an Biodiversität: Wir können mit ein paar Insekten und Blumen weniger leben, nicht aber ohne Brot.

Tatsächlich ist es in einer Gesellschaft, die allem ein Preis­schild umhängt, schwierig, den Schutz der Bio­diversität zu begründen. Immer wieder seien schliesslich Arten ausgerottet worden, wird häufig gesagt, und immer seien daraus neue und durchaus diverse Öko­systeme entstanden. In das Vakuum, das die Saurier hinterliessen, stiessen beispiels­weise die Säugetiere. Wir verdanken unsere Existenz in gewisser Weise der Ausrottung der Saurier.

Zwar gibt es auch Wissenschaftler wie James Lovelock, der erst vor wenigen Wochen verstorben ist. Lovelock war beileibe kein Esoteriker, aber er erachtete es durchaus für möglich, dass das Öko­system Erde so irreversibel beschädigt ist, dass daraus keine neuen Öko­systeme mehr hervor­gehen können. Die Erde würde sich dann in einen Wüsten­planeten wie einer unserer Nachbar­planeten verwandeln. Diese Aussicht wird jedoch von den meisten als wilde Spekulation abgetan, die angesichts der unmittelbar drohenden Nahrungsmittel­knappheit kein Gewicht mehr hat.

Heutzutage beruht jedes politische Argument auf einer Kosten-Nutzen-Rechnung.

Die politische Debatte besteht häufig darin, sich unterschiedliche Berechnungen um die Ohren zu schlagen. Wenn also der Schutz der Bio­diversität hohe Kosten verursacht und wenig Nutzen verspricht, steht er im heutigen gesellschaftlichen Diskurs auf verlorenem Posten. Natur­schützerinnen haben sich deshalb auf einen Pakt mit dem Teufel eingelassen und begonnen, sogenannte «Ökosystem­dienstleistungen» zu berechnen.

Wie viel kostet beispiels­weise die Renaturierung einer Fluss­landschaft, die der Biodiversität dient, und wie viel bringt sie uns letzten Endes ein? Wenig überraschend fand man heraus, dass der Nutzen die Kosten letztlich weit übersteigt.

Obschon der Biodiversität inzwischen auch ein «Eigenwert» zuerkannt wird, verharrt die Debatte in dieser Kosten-Nutzen-Logik – und das ist ungemein gefährlich. Für einen Pakt mit dem Teufel verkauft man immer seine Seele. Erstens kann ein errechneter Vorteil, wenn sich die Umstände ändern, schnell in einen Nachteil kippen und zum Argument der Gegen­seite werden – wie die momentane Weltlage gerade eindrücklich vorführt. Zweitens fallen die Kosten sofort an, während der allfällige Nutzen sich erst viel später zeigt – nach den nächsten Wahlen.

Aber das Problem mit den berechenbaren Ökosystem­dienstleistungen reicht tiefer: Es ist genau diese kapitalistische Grenznutzen­logik – übrigens in Lausanne von Léon Walras (1834–1910) formalisiert –, die die Welt an den Rand des Abgrunds geführt hat (oder schon darüber hinaus). Kann es da klug sein, weiterhin innerhalb dieser Logik zu argumentieren? Der österreichisch-amerikanische System­theoretiker Paul Watzlawick hat gezeigt, dass Menschen dazu tendieren, ein Problem zu lösen, indem sie die alten Strategien noch verstärken. «Mehr vom Selben» nannte er diese Strategie, die er sehr poetisch zusammenfasste:

Wenn du immer wieder das tust,
was du immer schon getan hast,
dann wirst du immer wieder das bekommen,
was du immer schon bekommen hast.

Paul Watzlawick.

Auch wenn wir Watzlawick recht geben, haben wir das Problem aber noch nicht gelöst. Denn was bleibt uns sonst? Welche Argumente fallen uns noch ein, wenn wir auf Nützlichkeits­erwägungen verzichten wollen? Mit diesen Fragen beschäftigt, stolperte ich zufällig über diese Textstelle:

Es folgt zweitens, dass die Menschen alles um eines Zwecks willen tun, nämlich um des Nutzens willen, den sie begehren. Daher kommt es, dass sie stets nur die End­zwecke der vollbrachten Dinge zu wissen trachten und befriedigt sind, wenn sie diese erfahren haben, weil sie dann keinen Anlass haben, sich weiter damit zu befassen. (…)

Da sie ferner in sich und ausser sich zahlreiche Mittel bemerken, die zur Erreichung ihres Nutzens nicht wenig beitragen, wie zum Beispiel die Augen zum Sehen, die Zähne zum Kauen, Pflanzen und Tiere zur Nahrung, die Sonne zum Leuchten, das Meer, Fische zu nähren usw., so kommt es, dass sie alles in der Natur als Mittel zu ihrem Nutzen betrachten [Hervorhebung von DS]. Und weil sie wissen, dass jene Mittel von ihnen aufgefunden, aber nicht hergestellt sind, so hat dies den Glauben verursacht, irgendein anderer sei es, der diese Mittel zu ihrem Nutzen bereitet habe. (…) (So) mussten sie schliessen, es gäbe irgendeinen oder mehrere mit menschlicher Freiheit begabte Lenker der Natur, welche alles für sie besorgt und alles zu ihrem Nutzen gemacht hätten. Auch die Sinnes­weise dieser Lenker der Natur mussten sie, da sie über dieselbe nie etwas erfahren hatten, nach ihrer eigenen Sinnes­weise beurteilen. Daher ihre Behauptung, die Götter lenkten alles zum Nutzen der Menschen, um sich die Menschen zu verpflichten und von ihnen hoch verehrt zu werden.

Spinoza: «Ethik».

Solcher Gedanken wegen wurde Baruch de Spinoza (1632–1677) schon zu Lebzeiten und bis lange nach seinem Tod als Ketzer, Atheist oder Materialist gebrandmarkt.

Der zitierte Text, der sich im Anhang zum ersten Buch seiner Ethik findet, konnte deshalb erst nach seinem Tod veröffentlicht werden. Schon in jungen Jahren wurde er, der als Sohn portugiesischer Juden in Amsterdam geboren wurde, von der jüdischen Gemeinde mit einem Bann (cherem) belegt. Kein Mitglied der jüdischen Gemeinschaft durfte mit ihm verkehren, weder mit ihm sprechen noch etwas von ihm kaufen oder ihm Arbeit geben.

Angesichts des politischen und sozialen Gewichts der Gemeinde Amsterdams war ein solcher cherem überaus einschneidend. Als Händler hatte er sich schon im Geschäft seiner Familie, die Trocken­früchte importierte, als unbrauchbar erwiesen, sodass er seinen Lebens­unterhalt als Linsen­schleifer verdienen musste. Berufungen an Universitäten schlug er aus, um nicht in Gefahr zu geraten, sein Denken dem Zeitgeist anzupassen.

Was an seinen Äusserungen ketzerisch ist, wird erst vor dem Hinter­grund der politischen Entwicklung der Niederlande jener Jahre klar.

Als Spinoza geboren wurde, war in Amsterdam eben der Kapitalismus erfunden worden: Im Jahre 1602 war die Nieder­ländische Ostindien-Kompanie gegründet worden, die während fast zwei Jahrhunderten den Asien­handel monopolisierte. Am 31. Januar 1609 öffnete die Amsterdamsche Wisselbank (Wechselbank), die erste Zentral­bank Europas, ihre Tore, die den globalen Handel der Ostindien-Kompanie finanzierte und damit stabilisierte. Dort wurden in Europa erstmalig Aktien als Kredit­sicherheiten akzeptiert, dort konnten Forderungen bargeld­los beglichen werden, dort entstand 1611 eine der ersten Effektenbörsen Europas. Und weil die Schiff­fahrt ein Hochrisiko­geschäft war, entstand ein neuer, wichtiger Zweig der Finanz­industrie: die Versicherungen. Die mathematischen Grund­lagen dazu lieferte Johan de Witt, einer der ersten bürgerlichen Regenten Europas.

In diese Euphorie platzt nun der kleine jüdische Linsen­schleifer und wehrt sich dagegen, die Natur lediglich unter dem Gesichts­punkt des Nutzens, genauer: des Nutzens für die Menschen, zu betrachten. Um dieses reine Nützlichkeits­denken zu rechtfertigen, behauptet Spinoza, und auch, weil sie zu träge seien, die Welt richtig zu verstehen, basteln sich die Menschen einen Gott, der wie ein Architekt die Natur zweckmässig – und das heisst: für die Menschen zweckmässig – eingerichtet hat. Die Krone der Schöpfung halt.

Das sei eine Illusion, meint er. Die Idee, der Mensch könne, ja müsse sich Zwecke setzen und diese verfolgen, weil Gott die Welt ja für ihn zweckmässig eingerichtet habe, ist nach Spinoza reine Ideologie. Das «macht euch die Erde untertan und herrschet über die Fische des Meeres, die Vögel des Himmels, über das Vieh und alles Getier» ist nicht nur ein Imperativ der christlich-jüdischen Theologie. Es ist auch die perfekte Recht­fertigung der kapitalistischen Logik.

Damals war Spinozas Kritik der End­zwecke hochgradig ketzerisch, aber mittlerweile pfeifen es die Spatzen von den Dächern: Die Vorstellung, der Mensch könne und dürfe sich die Natur untertan machen, ist verheerend. Da werden offene Türen eingerannt, könnte man meinen.

Doch Spinoza geht noch einen radikalen Schritt weiter: In der Natur gibt es überhaupt keine Zwecke. Die Natur, wozu auch die menschlichen Motivationen gehören, ist ein äusserst komplexer Wirk­zusammenhang, den man sich als Billard­spiel vorstellen kann: A trifft auf B und setzt es in Bewegung. Dann affiziert B C, und C affiziert D und E. Wenn Menschen sich also Ziele setzen, so tun sie das nicht als autonome und souveräne Subjekte, sondern als Folge unüberschaubar vieler Ursachen. Der Mensch vermag höchstens einige der Zusammen­hänge zu erkennen.

Zwecke sind demnach eine menschliche Erfindung, entstanden aus Denk­faulheit und als Recht­fertigung des Egoismus: Wer seinen Vorteil sucht, handelt im Sinne des göttlichen Plans! Solches Denken wird bis in unsere Tage durch Lob verstärkt. Setzt euch Ziele! Plant die Zukunft! Schaut vorwärts! Seid zielorientiert! sind allgegen­wärtige Slogans. Doch in Spinozas Augen ist dies nicht nur falsch, es mündet auch im persönlichen Unglück. Menschen, die in die Zukunft denken, sind unglücklich, weil sie immer auf die Mängel, auf das Negative, das noch nicht Erreichte achten.

Gott hat als Welt­designer inzwischen weitgehend ausgedient. Man könnte also vermuten, dass damit auch das teleologische, das heisst zweck­orientierte Denken überwunden ist. Merkwürdiger­weise ist es aber stärker denn je. Nicht mehr Gott, sondern die Evolutions­theorie Darwins erklärt heute die «zweckmässige» Einrichtung der Erde.

Die populär­wissenschaftliche Literatur – warum Frauen nicht einparken und Männer nicht zuhören können – deutet Darwins Lehre, als hätte er die Evolution als dauernde Verbesserung der Natur dargestellt, als beständigen Fortschritt. Alles, was sie hervorbrachte, sei zweckmässig und sinnvoll, zweckmässiger und sinnvoller jedenfalls als die Stufe vorher. Doch nichts lag Darwin ferner. Die Welt würde anders aussehen, wenn die Evolution eine Einbahn­strasse zum Guten wäre.

Darwin wusste, dass die Evolution viel Zweck­freies und sogar Unzweck­mässiges hervorgebracht hatte. Als Beispiel nennt er die Schönheit des Feder­kleids mancher Vögel. Die Evolution sei weder fortschrittlich noch strebe sie auf ein Ziel hin. Sie sorge lediglich dafür, dass die an die Umgebung am besten angepasste Mutation überlebe.

Die gängige Darwin-Rezeption zeigt jedoch, wie schwierig es für uns ist, die Geschichte nicht als auf ein Ziel hinstrebend zu denken.

Gut, akzeptiert, werden Sie vielleicht sagen, was aber sollen wir damit anfangen? Welche Pläne sollen wir schmieden, welche Massnahmen einleiten? Damit sind wir einmal mehr in die Falle des planenden, teleologischen Denkens getappt. Vielleicht braucht es erst einmal einen Perspektiven­wechsel, trotz der Dringlichkeit einen Verzicht auf Planung, Aktionen und Massnahmen.

Das heisst nicht, dass man den Spaten einfach fallen lassen und im Liege­stuhl warten soll, bis irgendetwas passiert. Es geht vielmehr darum, mit dem Spaten in der Hand aktiv nach einem Denkstil zu suchen, der nicht mit dem Nutzen argumentiert.

Einer der erstaunlichsten Sätze der Ethik Spinozas lautet: «Unter Realität und Vollkommenheit verstehe ich ein und dasselbe.» Das ist keine blinde Affirmation der bestehenden Ordnung, sondern die Forderung nach einer neuen Perspektive, nach einer, die sich nicht auf die Mängel und die Defizite stürzt, sondern erst einmal verstehen will.

Einen solchen Perspektiven­wechsel können wir nicht von einem weiteren Sach­buch erwarten, das aufzählt, wie viele Arten seit der Jahrtausend­wende ausgerottet wurden. Wir können ihn nicht lernen, indem wir Ökobilanzen studieren, sondern er ist eine Frage der Wahrnehmung, der Offenheit, der Werte­haltung.

Vielleicht hilft ja die Literatur, wenn sie uns mit ungewohnten Erzähl­perspektiven überrascht.

Illustration: Alex Solman

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