Erinnerungen eines Unnachgiebigen

Der Regisseur Werner Herzog ist spätestens seit «Fitz­carraldo» welt­berühmt. Der Schrift­steller Werner Herzog hingegen wird bis heute unterschätzt. Höchste Zeit, dass sich das ändert.

Von Jan Wilm, 05.09.2022

Synthetische Stimme
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Beat Presser/Keystone
Lena Herzog/Deutsche Kinemathek
Der Urwald, die Natur sind seine Heimat: Die Schlüsselszene aus Werner Herzogs Film «Fitzcarraldo» und der Regisseur selbst als «Grizzly Man» (2005).

Kino ist Literatur aus Licht. So gesehen, ist Werner Herzog sowieso immer schon Literat gewesen.

Dennoch ist es beinah empörend: Während Herzog als Regisseur eine lebende Legende ist, wartet sein literarisches Werk immer noch auf die ihm gebührende Würdigung. Dabei hat er neben seinen Filmen, zu denen er grössten­teils auch die Dreh­bücher verfasste, immer eigen­ständige literarische Werke veröffentlicht, die seinem cineastischen Œuvre in nichts nachstehen. Nun, zu seinem 80. Geburtstag, hat er ein Erinnerungs­buch veröffentlicht, das ebenfalls als ein Stück grosser Literatur bezeichnet werden kann. Es ist ein passender Anlass, endlich den Schrift­steller Werner Herzog gleich­berechtigt neben den grossen Regisseur zu stellen.

In seinem Schaffen sind die beiden Künste ohnehin nicht zu trennen. Werner Herzog ist Autor von literarischen Texten. Aber er ist auch: Ein durch und durch literarischer Regisseur.

Seine Filme stecken voller ekstatischer Bilder­welten, ihre Dreh­bücher sind von epischer Grösse. In rund zwanzig Spiel- und etwa doppelt so vielen Dokumentar­filmen dringen die Dialoge und Erzähl­stimmen in die lodernden Tiefen der Menschen­seele vor. Seine Figuren­zeichnungen muten romanhaft an, seine komplexen Charaktere sind von Wider­sprüchen zerrissen, dicht und viel­schichtig. Die Handlung seiner Filme treibt Herzog durch existenzielle Extrem­ereignisse voran und pointiert sie durch groteske Einzelheiten des Menschen­lebens. Wie ein modernistischer Romancier unterläuft Herzog in seinen Filmen die verkrusteten, fad gewordenen Erzähl­muster, mit denen uns das Hollywood­kino wie der populäre Roman schon viel zu lange zwangsernähren.

Zum Autor

Jan Wilm ist Schriftsteller und übersetzt aus dem Englischen, unter anderem Werke von Arundhati Roy und Frank B. Wilderson III. 2016 erschien sein Sachbuch «The Slow Philosophy of J. M. Coetzee», 2019 der Roman «Winterjahrbuch». Vor kurzem kam sein Freundschafts­buch «Ror.Wolf.Lesen» heraus.

Die grossen Konstanten in Herzogs filmischem wie literarischem Werk sind die Reflexion über die Zeit und eine lebens­lange Beschäftigung mit dem Urwald. In den sechs Jahr­zehnten seiner Arbeit, die von der Kaspar-Hauser-Variation bis zur Skiflieger­dokumentation reicht, kehrt Herzog immer wieder in den Dschungel zurück, am prominentesten in «Fitzcarraldo» mit Klaus Kinski in der Titelrolle.

Herzogs Monumental­epos von 1982 ist auch ein Parade­beispiel dafür, wie sehr Literatur und Film, wie sehr Bild und Sprache für den Autoren­filmer Hand in Hand gehen. Im Grunde beginnt dies bereits bei den speziellen Umständen seiner Entstehung.

Der Film spielt im frühen 20. Jahr­hundert und erzählt von Brian Sweeney Fitzgerald, einem Iren, der im peruanischen Amazonas­gebiet ein Opernhaus im Dschungel erbauen will. Um dieses Ziel zu erreichen, muss Fitzcarraldo, wie er von den Einheimischen genannt wird, ein Dampf­schiff über einen Berg schleppen lassen. Und Herzog? Wollte kein «Miniatur­schiff aus Plastik» im Botanischen Garten von San Diego filmen, wie es Studio­bosse bei Finanzierungs­gesprächen vorschlugen. Nein, es musste ein echtes Schiff über einen echten Berg gewuchtet werden. Und genau das geschah.

«Fitzcarraldo» war bereits einer der meist­diskutierten Filme, noch bevor er fertig war. Vorbereitung und Dreh zogen sich über mehrere Jahre. Weil der ursprünglich vorgesehene Haupt­darsteller Jason Robards krankheits­halber ausfiel (wodurch Kinski überhaupt erst ins Spiel kam). Und weil es während der Dreh­arbeiten eine Reihe von Katastrophen gab: Flugzeug­abstürze, ein Grenzkrieg zwischen Peru und Ecuador, Über­schwemmungen und einen tobsüchtigen neuen Haupt­darsteller. Der US-amerikanische Filme­macher Les Blank hat in «Burden of Dreams» (1982) ein filmisches Dokument des atem­beraubenden Drehs geschaffen.

Doch es gibt noch ein zweites, ein literarisches Dokument dazu: Herzogs unver­gleichliches Buch «Eroberung des Nutzlosen», ein Journal über die Dreh­arbeiten, das Herzog als den heraus­ragenden Literaten zeigt, der er ist.

Der Schrift­steller Herzog

Dieses Tagebuch führte Herzog während des auszehrenden Drehs im Regenwald in Robert-Walser-Manier: also, wie er es in seinem Erinnerungs­buch formuliert, in einer «immer kleiner werdenden», letztlich mikro­skopischen Handschrift. Frei von nabelschau­artigem Gejammer («Die Kultur der Wehleidigkeit ist mir zuwider») notiert Herzog beinahe distanziert das Exerzitium, das er sich für «Fitzcarraldo» auferlegte.

Seine Reflexionen gehen weit über den Dreh des Spielfilms hinaus. In einer klaren und gerade dadurch gewichtigen Sprache gelingt ihm ein Tagebuch, das man ruhig zur Welt­literatur zählen darf, da es auf eine zutiefst ergreifende Weise in die Abgründe des Menschen hinunter­steigt, ohne dabei jemals zu sentimentaler Selbstsuche oder pathetischem Alltags­gewimmer zu verkommen. In dem immer existenziell wirkenden Setting des Urwalds gewinnen Herzogs Beschreibungen von Dschungel­erfahrungen nahezu meta­physischen Charakter:

Die Nacht kommt ganz rasch von oben herunter. Das Weltall brennt sein Licht einfach aus, dann ist es nicht mehr da. Hier geht das Licht einfach abhanden.

So wie «Eroberung des Nutzlosen» der Form eines Tagebuchs gleich­kommt und dennoch darüber hinaus­reicht, so ist auch Herzogs 2021 erschienenes Buch «Das Dämmern der Welt» eine Genre­mixtur. Es gleicht einem Roman, indem der Autor das Leben seiner Haupt­figur imaginiert und ausschmückt; gleich­zeitig aber handelt es sich um eine historische Figur, und das Buch beinhaltet eine reale Begegnung des Autors mit seinem Protagonisten.

Diese Figur ist Hiroo Onoda, ein japanischer Soldat, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch 29 Jahre weiterkämpft. Jahrzehnte­lang auf einer entlegenen Insel stationiert, will Onoda das Ende des Krieges nicht wahrhaben.

Herzog taucht ins Innere seiner Figur und dabei vielleicht tiefer als je zuvor in das Motiv der Zeit ein. Durch die endlos anmutenden drei Jahrzehnte, die Hiroo Onoda in der Urwald­einsamkeit verbringt, macht Herzog das Motiv der Zeit von Beginn an zum Grund­element des Buches. In den poetischsten Passagen dringt er dann nicht nur ins Innere des Dschungels, sondern auch in den Wesens­kern der Zeitlichkeit vor. Um die Wirkung von Herzogs Sprache und die Entwicklung dieser Gedanken zu kosten, darf man nicht einzelne Sätze knabbern, nein, man muss einen grösseren Bissen seiner Prosa nehmen:

Der Urwald erkennt die Zeit nicht an, als hätten die beiden wie sich fremd gewordene Geschwister kaum etwas miteinander zu tun, als kommunizierten sie höchstens in Form von Verachtung. Tage folgen auf Nächte, aber Jahreszeiten gibt es nicht wirklich, höchstens Monate mit sehr viel Regen und Monate mit weniger Regen. Als ewige zeitlose Konstante würgt alles im Dschungel alles andere, um mehr vom Licht der Sonne zu erhaschen, und ob lichtlose Nächte dazwischen­liegen, ändert nichts am über­wältigenden, uner­bittlichen Präsens des Urwalds. Vogel­stimmen und das Kreischen der Zikaden, als wäre ein grosser Zug bei einer Notbremsung am Schlittern auf Gleisen, dennoch gibt es stunden­lang kein Halten.

Hiroo Onoda ist in Herzogs Œuvre kein Ausnahmefall.

Immer wieder hat er sich mit Erfahrungen und Ereignissen aus dem Leben historischer Personen beschäftigt, sie dokumentiert und fiktionalisiert. Und wiederholt waren einige von ihnen dem vermeintlichen Stillstand des Dschungels ausgeliefert.

Über Dieter Dengler, einen US-amerikanischen Kampf­piloten deutscher Abstammung, der im Vietnam­krieg in Gefangenschaft geriet und als einziger vor dem Vietcong in Laos flüchtete, drehte Herzog 1997 den Dokumentar­film «Little Dieter Needs to Fly» (deutsch: «Flucht aus Laos») und im Jahr 2006 den Spielfilm «Rescue Dawn» mit Christian Bale in der Hauptrolle. Über Juliane Koepcke, die im peruanischen Dschungel als Einzige den Absturz eines Flugzeugs überlebte, mit dem Herzog selbst beinahe geflogen wäre, drehte er seinen vielleicht besten Dokumentar­film «Julianes Sturz in den Dschungel» (2000). Rück­blickend wirken die beiden wie wahre Herzog-Helden, Menschen, deren Grenz­erfahrungen etwas von der ekstatischen Suche in Herzog selbst anrühren.

So ist es auch mit dem echten Hiroo Onoda, den Herzog vor dessen Tod im Jahr 2014 in Japan getroffen hatte.

Als ich Herzog bei einem Gespräch in München frage, wie viel vom realen Onoda im fiktiven stecke, lautet seine Antwort, die Grenzen seien sicher fliessend: «Dieses Buch war zwanzig Jahre in mir, und ich hätte es zu jedem Zeitpunkt sofort nieder­schreiben können, deswegen war die Nieder­schrift des Buchs dann auch sehr schnell gegangen. Und da ist dann kein Nach­denken mehr, was ist jetzt genau faktisch, was ist möglicher­weise meine Dreingabe, meine Sichtweise.»

Dann kommt Herzog von selbst auf eines seiner grossen Lebens­themen zu sprechen: «Onoda und ich haben allerdings über Zeit gesprochen: dass es keine Gegenwart gibt. Kann es nicht geben. Gegenwart ist eine Fiktion, die wir uns selber aufbauen, und die Fiktion ist evident, denn technisch gesehen, kann es keine Gegenwart geben. Wenn ich den Fuss anhebe, um einen Schritt zu machen, dann ist der angehobene Fuss schon Vergangenheit und das Niedersetzen des Fusses vor mir bereits Zukunft. Und wenn ich den Fuss schon fast hoch­genommen habe und gerade erst herunter­setzen will, dann ist für einen Bruchteil einer Sekunde auch keine Gegenwart da.»

Ob mit oder ohne Onoda, im Urwald findet Herzog die gesamte Existenz, das Ganze der Welt: die endlose Erschaffung, die Schlachten ums Fort­bestehen, das ständige Verenden, den Schrecken, das Groteske, Schönheit, Leid – alles scheint für Herzog im Dschungel konzentriert erfahrbar und erzählbar. Der Urwald ist aber nicht nur stofflich, sondern auch was Formen und Strukturen angeht eng mit Herzogs Ästhetik verflochten. Die Ereignis­fülle, die Bilder­ströme und die unheimliche Gleich­gültigkeit der Natur finden ihre Entsprechung in der distanzierten Genauigkeit, die Herzogs Bildsprache, aber auch seinen literarischen Stil auszeichnet.

Die Unnachgiebigkeit, die Herzog für die Verwirklichung seiner Filme benötigte, prägt auch seine klare, an den Kern der Dinge drängende Sprache. Auch für sein soeben erschienenes Erinnerungs­buch mit dem Titel «Jeder für sich und Gott gegen alle» gilt: Herzogs Diktion ist immer akribisch. Selbst wenn sein Schreibfluss mitunter vor lauter poetischen Einzelheiten über­sprudelt, wird die Sprache niemals blumig oder manieriert. Herzogs Schreib­weise ist klare Direktheit.

Aus dieser genauen Beschreibung aber brechen immer wieder auch Metaphern und Vergleiche aus, die an die verspielte Kombinatorik von Flannery O’Connor oder die kühle Lakonie von Raymond Chandler denken lassen: Einen Gletscher­bruch zum Beispiel beschreibt er im neuen Buch als «eine von Riesen hinge­würfelte Kaskade». An anderer Stelle steht ein Satz wie dieser: «Der Morgen war wie geläutertes Erz.»

Und der Titel seines Erinnerungs­buches führt auf einen anderen, oftmals unter­schätzten Aspekt:

Herzogs Humor

«Jeder für sich und Gott gegen alle»: So hatte bereits Herzogs wunder­voller Kaspar-Hauser-Film von 1974 geheissen. Nun prangt der Titel auch auf dem neuen Buch:

Den Titel dieses Buches habe ich schon einmal für meinen Kaspar-Hauser-Film verwendet, aber fast niemand war in der Lage, ihn korrekt wiederzu­geben. Ich mache hier einen zweiten Versuch.

Diese Lakonik ist typisch für Herzog. Die Ernst­haftigkeit seiner Ästhetik bereitet immer auch die Bühne für einen eigen­sinnigen Humor. Etwa wenn Herzog aus seiner Jugend berichtet, dass ein katholischer Priester «allgemein ‹der Läben› genannt» worden sei, «weil er immer wieder vom ‹Äwigen Läben› sprach». Oder wenn Herzog von einem frühen «Rolling Stones»-Konzert aus der Zeit vor deren Weltruhm erzählt:

Ich erinnere mich noch mit Staunen an den ungeheuerlichen Aufruhr und das Kreischen der Mädchen. Als das Konzert zu Ende war, sah ich, dass viele der Schalensitze aus Plastik von Urin dampften. Viele der Mädchen hatten sich eingepisst. Als ich das sah, wusste ich, das mit dieser Band wird einmal etwas ganz Grosses.

Vielleicht ist Herzog ein ebenso grosser Humorist wie Kafka oder Gogol oder Rabelais. Als ich ihn darauf anspreche, dass sein Humor so selten besprochen und wert­geschätzt werde, unterbricht mich Herzog sofort beim Wort Humor und ergänzt: «Ziemlich schwarz.»

Tatsächlich ist schwarzer Humor überall im Gesamt­werk zu finden, und er macht auch vor dem Autor selbst nicht halt.

Wie auch in diesem Buch: «Vom Gehen im Eis» ist eine Reflexion über den Tod und das Leben. Darin beschreibt Herzog, wie er während seiner Wanderung zur sterbenden Film­wissenschaftlerin Lotte Eisner in einer Wirtschaft ein Sandwich verzehrt – und versehentlich seinen Schal mitisst. Und ums Essen ging es auch in einer weniger abgründigen als vielmehr skurrilen Szene: als Herzog seinem Regie­kollegen Errol Morris sagte, er werde seinen Schuh verspeisen, wenn dieser es endlich schaffe, einen lang geplanten Film abzuschliessen. Morris schaffte es – und Herzog hielt sein Versprechen. Auch hier war dann Les Blank zur Stelle und drehte einen Kurzfilm: «Werner Herzog Eats His Shoe» (1980).

Oder Herzogs Film «Stroszek» (1977). Die Szene, in der die Haupt­figuren eigentlich eine Bank ausrauben wollen, weil diese gerade Mittags­pause hat, aber einen Friseur­salon über­fallen müssen, um dann mit dem Geld im Lebensmittel­laden gegenüber einen gefrorenen Truthahn zu kaufen: Wer diese Szene schaut, ohne wenigstens zu schmunzeln, dem ist aus humoristischer Sicht wahr­scheinlich nicht zu helfen.

Es gilt also, mindestens zwei Werner Herzogs noch viel gebührender zu rühmen – den Humoristen. Und den Literaten.

Dafür kommt das Erinnerungs­buch gerade richtig. «Jeder für sich und Gott gegen alle» ist die perfekte Einstiegs­droge für alle Neulinge, bietet für gestandene Herzogianerinnen aber ebenso viel Neues wie Überraschendes.

«Jeder für sich und Gott gegen alle» ist wohl das beste Erinnerungs­buch eines Regisseurs seit Luis Buñuels «Mein letzter Seufzer» von 1983. Wie bei Buñuel ist auch Herzogs Buch keine klassische Auto­biografie. Nein, Herzog erzählt von diesem auf allen Kontinenten der Erde spielenden Leben, als schreibe er eine Biografie über einen anderen. Oder besser: als schreibe er einen Roman.

Zu den Büchern

Werner Herzog: «Jeder für sich und Gott gegen alle». Erinnerungen. Hanser-Verlag, München 2022. 352 Seiten.

Werner Herzog: «Das Dämmern der Welt». Hanser-Verlag, München 2021. 128 Seiten.

Werner Herzog: «Vom Gehen im Eis. München–Paris 23.11. bis 14.12.1974». Hanser-Verlag, München 2012. 112 Seiten.

Werner Herzog: «Eroberung des Nutzlosen». Hanser-Verlag, München 2004. 336 Seiten.

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