Happening

Raven mit Benny

Das Theater am Neumarkt startet mit einer polarisierenden Arbeit von Starregisseur Benny Claessens in die neue Saison.

Von Theresa Hein, 01.09.2022

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Synthetische Stimme
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Ein voll besetzter Theatersaal ist was Feines. Es mag offensichtlich klingen, aber mit jeder Saison­eröffnung wird man wieder daran erinnert, was in der Sommer­pause fehlte. Nach den vergangenen beiden schwierigen Wintern packt einen das Gefühl, ein Mensch unter vielen zu sein und gemeinsam einem Kultur­erlebnis beizuwohnen, noch mehr.

Das Theater am Neumarkt startet im Rahmen des Zürcher Theater­spektakels gewohnt früh in die neue Saison, zu sehen gibt es «White Flag». Es ist ein Projekt des belgischen Regisseurs und Schau­spielers Benny Claessens, von dem bekannt ist, dass es bunt, beeindruckend oder eigenartig werden kann; und wer es vorab nicht weiss, der weiss es nach diesen zwei Stunden im Theater­saal im Niederdorf.

Ein Überblick über den Inhalt fällt schwer, grob lässt sich das Stück, das eigentlich mehr eine Performance ist, in mindestens diese Teile gliedern:

  • einen Gesprächs­kreis über Träume der drei Darstellerinnen Challenge Gumbodete, Benjamin Abel Meirhaeghe und Teresa Vittucci, in dessen Verlauf sie sich über den pinkfarbenen Flokati rollen und Perlen­ketten in den Mund stopfen, die sie dann wieder erbrechen;

  • eine illustre Kneipenrunde;

  • eine abstrakte Darstellung des gesamten menschlichen Lebens von der Wiege bis zur Bahre, während der sich die Darstellerinnen in Tücher hüllen (und ebenfalls wieder Perlen­ketten ausgekotzt werden);

  • einen Rave.

Dazwischen singt der Schwule Männerchor Zürich «Schmaz» Lieder von Schubert und Songs von Billy Joel und Velvet Underground. Alle performenden Menschen auf und neben der Bühne werden mit der Kamera begleitet, sodass die Zuschauerinnen das, was für das eigene Sichtfeld abgeschnitten wird, auf Bild­schirmen und aus anderen Winkeln sehen. (Die miese Akustik des länglichen, gedrungenen Saals müssen Chor und Publikum leider in Kauf nehmen.)

Passenderweise sitze ich genau in der Mitte und kann beobachten, was bei Claessens Arbeit häufig passiert – sie polarisiert. Und hier kommt wieder der voll besetzte Theater­saal ins Spiel. Rechts von mir ertönen viele Lacher, während die Darstellerinnen Nietzsche und Cher zitieren, links von mir verhaltenes Schweigen. Ein paar Menschen hält es kaum auf den Sitzen, als der Rave losgeht, andere sitzen mit verschränkten Armen da, wedeln ob der Hitze mit dem Programm­heft und prüfen mehr oder weniger verstohlen die Zeit auf ihrem Smartphone.

Wer das Programmheft vorab angeschaut hat, der weiss, dass hier Göttinnen dargestellt werden sollen, die neue Helden abseits einer patriarchalen Götterwelt finden wollen. Am Ende landen sie bei Glühwürmchen.

Wer das Programmheft vorher nicht gelesen hat, wird sich dagegen mit der Interpretation schwertun. Bei einem guten Theater­abend ist das egal, denn was beeindruckend genug ist, bedarf keiner Erklärung. Im Falle von «White Flag» ist es unglücklich, weil die einzelnen lustigen und schrecklichen Einfälle (banale Gesprächs­fetzen, so was Ähnliches wie Geburt und Kindermord) zu oft wiederholt werden, insgesamt zu lange dauern und sich deshalb das Gefühl einstellt, was die Performance nicht von selbst auszudrücken vermag, sei noch ins Programm­heft gepresst worden.

Was wird hier erzählt? Eine Satire auf die Banalität des menschlichen Daseins, die an der Oberfläche bleibt, aber bild- und tongewaltig ist (am Eingang gabs Ohrstöpsel gegen die Bässe).

Beim Rave am Ende wirkt das Publikum geplättet bis unruhig, unsicher, ob es nun mittanzen oder sich die ganze Nacht den Tanz der Menschen auf der Bühne anschauen soll. Der Kollege einer grossen Tages­zeitung hälts nicht mehr aus und geht sich ein Bier holen. Die Person neben mir wippt begeistert.

Wie soll man einen Abend Benny Claessens zusammen­fassen? Vielleicht wie der Zuschauer, dem, als am Ende kurz das Licht ausgeht, etwas zu laut heraus­rutscht: «Ich han dänkt, das gaht no zwei Stund.»

Zur Performance

Theater Neumarkt, Zürich: «White Flag». Termine bis und mit 8. September. Weitere Informationen finden Sie hier.

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