Binswanger

Traditionell, progressiv, Amok: Was ist bürgerlich?

Der Schweizer Politikbetrieb kommt wieder in Fahrt. Und wirft ein paar grundsätzliche Fragen auf zur Zukunft unseres Landes.

Von Daniel Binswanger, 27.08.2022

Synthetische Stimme
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Die Schweiz ist seit der Gründung des Bundes­staates 1848 und bis zum heutigen Tag ein zutiefst bürgerliches Land. Wenn nicht eine explosive Beschleunigung der Klima­katastrophe die politischen Kräfte­verhältnisse plötzlich revolutioniert – eine Entwicklung, die man nicht mehr ausschliessen, aber sicher nicht herbei­wünschen sollte –, wird das auf absehbare Zukunft so bleiben. In ganz Europa – mit Ausnahme von Luxemburg – dürfte die Eid­genossenschaft das einzige Land sein, das noch nie eine linke Regierung hatte. Der wahre Schweizer Sonderfall: die permanente rechte Mehrheit.

Natürlich muss man diese Tatsache in Teil­aspekten relativieren. Mit rund 30 Prozent der Stimmen haben die linken Kräfte in der nationalen Politik durchaus gewisse Gestaltungs­möglichkeiten, zumal die Sozial­demokraten (und dereinst vielleicht auch die Grünen) ein Teil der Konkordanz­regierung sind. Mit den Instrumenten der direkten Demokratie können sie ihre klare parlamentarische Unterlegen­heit immer mal wieder kompensieren. Last but not least: Dass Rot-Grün sämtliche grossen Städte regiert, ist ein bedeutender Macht­faktor. Die Schweiz steht unter bürgerlicher Dauer­herrschaft. Aber die linken Einfluss­zonen sind beträchtlich.

Dennoch: Die Gesundheit, das Entwicklungs­potenzial, das Entgleisungs­risiko der Schweizer Demokratie hängt primär an den Kräften aus dem Mitte-rechts-Lager, noch viel stärker als in irgendeinem anderen europäischen Staat. Zwei Ereignisse dieser Woche werfen ein grelles Schlag­licht auf den aktuellen Zustand der bürgerlichen Schweiz. Und stimmen, was das Entwicklungs­potenzial betrifft, nicht eben optimistisch.

Da war zunächst das famose «Weltwoche»-Sommer­fest, das – wenn wir den albernen (und vermutlich völlig falsch erzählten) Lauwarm-Gig einmal beiseite­lassen – in zweierlei Hinsicht symptomatisch erscheint. Zum einen ist es bemerkenswert, wie stark der Rechts­radikalismus inzwischen paneuropäisch konsolidiert wird und welch prominente Rolle die Zürcher Dreh­scheibe dabei einzunehmen scheint. Jetzt reisen sie wirklich alle an: Alice Weidel, Alexander Gauland, Hans-Georg Maassen. Die oberste Garde der aller­äussersten parlamentarischen Rechten in der Bundes­republik.

Der Ukraine-Krieg hat der ideologischen Konvergenz zwischen SVP und AfD noch einmal gewaltig Schub verliehen. Unmittelbar nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine sprach Alice Weidel bekanntlich vom «historischen Versagen» des Westens – nicht Russlands, sondern des Westens –, der die russische Führung «gekränkt» haben soll. Roger Köppel hatte zeit­gleich exakt denselben Diskurs. «Das wichtigste Thema sind die kolossalen Fehler, die Dumm­heiten, die Überheblichkeiten, die Demütigungen, die der Westen gegenüber Russland gemacht hat», heisst es in der Köppel-Version.

Auch die ideologische Basis dieser «differenzierten» Russland-Beurteilung ist weitestgehend identisch.

Weidel gelangte zu erstem politischem Ruhm, als sie als frisch gekürte AfD-Spitzen­kandidatin in einer Brand­rede in einen euphorischen Parteitags­saal den Ausruf schmetterte: «Die politische Korrektheit gehört auf den Müll­haufen der Geschichte!» Köppels Ode an den missverstandenen Putin gipfelt in dem Satz: «Putins Verbrechen besteht aus ihrer [der Journalisten und Intellektuellen] Sicht darin, dass er die grösste Schwäche des Westens aufgedeckt hat: politische Korrektheit.» Der Krieg in der Ukraine führt zu völliger Gesinnungs­genossenschaft zwischen SVP und AfD.

Diese Entwicklung hat sich allerdings schon lange angekündigt und wurde durch das geteilte Verständnis für den Kreml-Herrscher höchstens noch einmal beschleunigt. Etwas anderes ist sehr viel verblüffender: Das Schweizer Establishment lässt sich von alldem nicht im Allergeringsten die Fest­laune verderben. Nicht FDP-Politiker wie etwa Stände­rat Andrea Caroni oder Stadt­rat Filippo Leutenegger. Nicht auf bürgerliche Respektabilität bedachte Sozial­demokraten wie Stände­rat Daniel Jositsch. Sommer­fest ist Sommer­fest, und alle sind sie wieder hingeströmt. Ob mit den von weit her angereisten Ehren­gästen entspannt über die «historische Schuld» des Westens geplauscht wurde?

Fast noch erstaunlicher als die Präsenz von Profi­politikern war allerdings die Anwesenheit von Honoratioren der Zivil­gesellschaft.

Mit Michael Hengartner, Präsident des ETH Rats, war auch dieses Jahr wieder der vielleicht wichtigste institutionelle Vertreter des Schweizer Wissenschafts­standortes unter den Gästen. Ob er die Gelegenheit nutzte, um sich mit dem Corona-Verschwörungs­theoretiker und Youtube-Aktivisten Daniel Stricker endlich mal in Ruhe auszutauschen? Stricker ist unter anderem ein glühender Verehrer von Sucharit Bhakdi, und da hätte dann auch Hans-Georg Maassen noch einiges beizutragen gehabt.

Im Januar hat sich der CDU-Vorstand explizit von Maassen distanziert – auch ein Partei­ausschluss wurde diskutiert – weil der Ex-Verfassungs­schutzpräsident ein Video von Bhakdi über die sozialen Netz­werke verbreitete. Bhakdi ist nicht nur ein radikaler Impf­gegner, sondern inzwischen wird auch wegen horrender antisemitischer Äusserungen gegen ihn ermittelt. Ob ETH-Rats-Präsident Hengartner, der als begnadeter Netz­werker gilt, Maassen und Stricker bei dieser günstigen Gelegenheit vielleicht ein paar biologische Grund­begriffe hat näher­bringen können? Oder ob er sie – natürlich immer im höheren Interesse des Networkings – taktvoll ihre Theorien ausbreiten liess?

Sicherlich: Mit Leuten, deren Ansichten man nicht teilt, ein Glas zu trinken, ist eine demokratische Grund­tugend. Die bange Frage bleibt aller­dings, wo man die Grenze zieht. Sie scheint kaum mehr zu existieren.

Offensichtlich sind die Kriegs­verbrechen in der Ukraine ganz weit weg und völlig irrelevant. Wie verschwörungs­theoretisch, rechtsradikal oder anti­semitisch muss man in der Schweiz des Jahres 2022 sein, um seine Salon­fähigkeit zu verlieren? Ist das überhaupt noch zu schaffen? Und gegen welche Formen des blanken politischen Wahn­sinns sind die bürgerlichen Kräfte, die alles fröhlich mitspielen, eigentlich noch immun?

In seiner Sommerfest­rede feierte Köppel die «friedliche Koexistenz» als Bedingung des demokratischen Zusammen­lebens. Seit es um die Frage geht, ob die Ukraine sich wehren darf gegen den russischen Angriffs­krieg, sind die SVP-Wort­führer ja ganz generell zu Radikal­pazifisten geworden. Was Köppel innenpolitisch unter «friedlicher Koexistenz» versteht, entnimmt man aber am besten den «Weltwoche»-Texten.

Da steht dann zum Beispiel zu lesen: «Die Schweiz steht am Scheideweg: Volks­aufstand oder Untergang (…) Wir werden regiert von Bundes­räten, die sich nicht an die Verfassung halten, diese dank Selbst­kastration des Parlaments und Still­schweigen der komatösen Justiz schänden. (…) Evidenzlose, illegale und unwissenschaftliche Corona-Zwangs­massnahmen verursachen massives Leid und zerstören den gesellschaftlichen Zusammenhalt. (…) Entweder erheben wir uns und zwingen unsere Regierung zum Rück­tritt und retten die Seele der Eid­genossenschaft oder die Willens­nation Schweiz ist gescheitert.»

Der Autor dieser Zeilen, die vor gut zwei Wochen veröffentlicht worden sind, ist Nicolas Rimoldi, der Präsident von Mass-voll, der neuerdings zu den «Weltwoche»-Stamm­autoren gehört. Es braucht enorm viel guten Willen, um den Text nicht als Aufruf zur Gewalt gegen die Schweizer Landes­regierung zu lesen. Aber hey: alles kein Problem mehr in der bürgerlichen Schweiz. Die «Weltwoche» veröffentlicht es. Putsch­rhetorik wird offenbar jetzt für politisch einsetzbar gehalten. Und dann ist Sommer­fest. Der Verleger, der solche Pamphlete publizistisch zu verantworten hat, erzählt etwas über «friedliche Koexistenz». Und über die abscheuliche Aggressivität von woker Cancel-Culture.

Sicher, man soll diese Dinge nicht überschätzen. Der Party­kalender sagt zwar etwas aus über die Schweizer Gesellschaft, aber er ist nicht der wichtigste Indikator für den politischen Zustand des Landes. Da wird die Agenda von anderen Dingen geprägt, was uns zum zweiten bemerkens­werten Ereignis der Woche bringt: die Pressekonferenz des bürgerlichen Ja-Komitees zur Verrechnungs­steuerreform. Natürlich sass da Thomas Matter, der SVP-Finanz­politiker und grosse Strippenzieher der Steuer­hinterziehungs­lobby. Aber ebenfalls auf dem Podium sass GLP-National­rätin Kathrin Bertschy. Es war ein beelendendes Spektakel.

Denn immer dann, wenn eine Perspektive aufgezeigt werden soll, wie die Schweiz sich sinnvoll fort­entwickelt, wie sie in der Europa-, der Umwelt-, der Gleich­stellungs- und der Gender-Politik vielleicht ja doch noch einmal sinnvolle Lösungen finden soll, dann landet man früher oder später bei der GLP. Weil die Grün­liberalen eine bürgerliche Kraft sind, die in der bürgerlichen Schweiz noch grosse Wachstums­chancen hat. Weil sie den ökologie­bewussten und pro­europäischen Flügel der FDP schon bald vollständig ersetzt haben dürfte. Weil sie eine ganze Generation von Nachwuchs­talenten aufbaut, die vor zwanzig Jahren noch selbst­redend bei der FDP gelandet wären, heute aber einen viel­versprechenderen Karriere­weg beschreiten.

Momentan zwar, da im Kriegs­kontext die Wahl­entscheide von Angst und Rückzugs­reflexen bestimmt werden, legt die FDP wieder etwas zu. Aber weder das Europa- noch das Umwelt­problem noch die Gender-Fragen werden deshalb verschwinden. Die Zeit spielt für die GLP.

Damit bekommt auch die Frage eine strategische Bedeutung, wie denn der künftige Liberalismus es mit der «Wirtschafts­nähe» halten wird. Wird auch die GLP den Sonder­interessen­lobbyismus kultivieren, der in den bürgerlichen Traditions­parteien einen so geheiligten Brauch darstellt? An den Aufstieg der Grün­liberalen knüpft sich eigentlich auch die Hoffnung einer Erneuerung der politischen governance-Standards in unserem Land. Doch jetzt kommt das Verrechnungssteuer­desaster.

Kathrin Bertschy sagte brav ihr Sprüchlein auf – die Abschaffung der Verrechnungs­steuer auf Zins­einnahmen sei gut für den Service public, den Gesundheits­sektor, den Verkehr –, und man schien ihr anzusehen, dass sie selber weiss, wie ungesichert diese Ansagen sind. Sicherlich wird die Belebung des Schweizer Anleihen­marktes öffentliche Finanzierungs­kosten tendenziell senken. Aber heute schon ist die Nach­frage nach staatlichen Anleihen viel grösser als das Angebot. Ob der Effekt für die öffentliche Hand am Ende positiv oder negativ sein wird, wurde schlicht nie seriös untersucht (man hätte es tun können, liess es aber tunlichst bleiben).

Ist das der Diskurs des vermeintlich progressiven Liberalismus? Das abgestandene Ammen­märchen, Steuer­senkungen führten automatisch zu höheren Steuer­einnahmen?

Und hier liegt noch nicht einmal die eigentliche Enttäuschung. Die Enttäuschung ist, dass die GLP nicht die ursprünglichen Pläne der Landes­regierung unterstützt hat und dass sie nicht eine Lösung favorisiert, bei der die Abschaffung der Verrechnungs­steuer auf Zinsen durch eine Zins­meldepflicht der inländischen Zahl­stellen kompensiert wird. Denn auch wenn die lang­fristigen Effekte auf die Steuer­einnahmen schwer zu prognostizieren sind, eines ist so sicher wie das Amen in der Kirche: Die Verrechnungssteuer­reform in ihrer heutigen Form favorisiert die Steuer­hinterziehung.

Ist die GLP bereits so Finanzplatz-nah? Hat sie sich bereits eingereiht in die grosse Koalition der bürgerlichen Schwarzgeld­protektoren? Das Ja zur Verrechnungssteuer­reform in ihrer heutigen Ausgestaltung scheint dafür ein starkes Indiz zu sein. Für die Ausgestaltung der «Wirtschaftsnähe» des kommenden Liberalismus lässt das nichts Gutes ahnen.

Fest steht jedenfalls: Auch in Zukunft wird das Schicksal der Schweiz in weitgehendem Mass von den bürgerlichen Kräften bestimmt. Angesichts der zahlreichen Blockaden im eidgenössischen Politik­betrieb und angesichts der extremen Radikalisierung der Diskurse unter dem Deck­mantel von althelvetischer Konzilianz, stellen sich heute ein paar sehr unangenehme Fragen:

Was, wenn die neue Bürgerlichkeit de facto nur die traditionelle ist – mit linden­grünem Anhauch? Und was, wenn die traditionelle Bürgerlichkeit tatsächlich den Kompass zu verlieren beginnt und plötzlich weit die Tore öffnet für Umsturz­fantasien, Putin-Pazifisten und einschlägige deutsche Ehren­gäste?

Illustration: Alex Solman

In einer früheren Version haben wir Michael Hengartner als ETH-Präsidenten bezeichnet. Hengartner ist jedoch Präsident des ETH-Rats, des Gremiums, das unter anderem auch die EPFL in Lausanne beaufsichtigt. Wir haben die Stelle korrigiert und bedanken uns für den Hinweis aus der Verlegerschaft.

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