Der vierfache Selenski

Wer ist Wolodimir Selenski? Gleich mehrere neue Biografien versuchen sich an einer Antwort.

Von Daniel Graf, 20.08.2022

Synthetische Stimme
0:00 / 28:38

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!

Vom fiktiven «Diener des Volkes» zum realen Präsidenten der Ukraine: Wolodimir Selenski. Alexander Chekmenev/Time

Manchen Büchern kann man schon vor dem ersten Satz etwas ablesen. Den soeben erschienenen Biografien über Wolodimir Selenski zum Beispiel. Durch ihre blosse Existenz führen sie vor Augen: Der russische Angriffs­krieg gegen die Ukraine dauert mittlerweile lange genug fort, dass Bücher, die vor dem 24. Februar nicht einmal angedacht waren, geschrieben, übersetzt, beworben und gedruckt werden konnten. Was eine Aussage über den Krieg und eine über den Buch­markt beinhaltet.

Gleich vier Selenski-Biografien sind in den letzten Wochen in den deutsch­sprachigen Buch­handel gekommen; eine davon erschienen im renommierten Hanser-Verlag, die anderen drei in Verlagen, die einem nicht unbedingt als Erstes einfallen, wenn man an politische Sach­bücher denkt.

Das Hanser-Buch, verfasst vom ukrainischen Autor Sergii Rudenko, ist die nach Kriegs­beginn aktualisierte Fassung eines durchaus kritischen Selenski-Porträts, das im Original bereits 2021 heraus­gekommen war. Die anderen drei wurden von französischen, polnischen und nieder­ländischen Autorinnen unter dem Eindruck der ersten Kriegs­wochen geschrieben. Entstanden sind sie allesamt in sehr viel kürzerer Zeit als üblich, in jenem Eilverfahren, das man im Branchen-Sprech «Schnell­schuss» nennt (was in Kriegs­zeiten womöglich Fragen zur Metaphorik aufwirft).

Nun könnte man vermuten, das Schreiben unter Hoch­druck gehe auf Kosten von stilistischer Eleganz und erzählerischer Qualität; die Geschwindigkeit sei ein Hindernis für eine tiefere gedankliche Durch­dringung; die Darstellung ähnele mehr einem beflissenen Abhaken von Recherche­ergebnissen als einem deutenden Zugriff; die dramatischen Entstehungs­umstände führten zwangsläufig zu Fern­diagnosen und einem Mangel an Insider­zitaten; und das Ganze hechle trotz aller Zugeständnisse an einen möglichst schnellen Erscheinungs­termin der Aktualität letztlich doch hoffnungslos hinterher.

Und, nun ja: Genau so ist es leider auch.

Schaut man allerdings weniger mit der Rezensenten-Perspektive auf die Bücher als vielmehr mit Blick auf das kollektive Nach­denken über den aktuellen Krieg, stellen sich die Fragen etwas anders: Was lässt sich aus den neuen Büchern über den ukrainischen Präsidenten lernen, was man vielleicht aus den letzten Monaten Nachrichten­konsum noch nicht erfahren hat? Verändern oder vertiefen sie das gängige Bild vom unerwarteten Kriegs­helden? Wo helfen die verschiedenen biografischen Zugänge, das aktuelle Geschehen besser zu verstehen?

Doch erst einmal die Galerie der Selenski-Porträts.

  • Steven Derix/Marina Shelkunova: «Selenskyj. Die ungewöhnliche Geschichte des ukrainischen Präsidenten» (Edelbooks): Puh, dieser deutsche Untertitel. Aufmerksamkeits­hascherei der eher einfältigen Sorte. «Die aktuelle Biografie» verspricht ein Button auf dem Cover, die Einleitung dreht sich dann fast ausschliesslich um Wladimir Putin. Da möchte man eigentlich schon wieder aufhören zu lesen. Immerhin: Es wird besser. Die historischen Hinter­gründe, die das niederländische Journalisten­duo zusammen­trägt, sind hilfreich. Allerdings: Man habe sich, so das Nachwort, «bei der Übersetzung und den Zitaten» aus fremdsprachigen Quellen «im Interesse der Lesbarkeit einige Freiheiten genommen». Klingt im Interesse der Genauigkeit nicht übermässig vertrauen­erweckend.

  • Régis Genté/Stéphane Siohan: «Wolodymyr Selenskyj. Geburt eines Helden» (Edition Gai Saber): Das Buch des französischen Korrespondenten­duos, das unter anderem auch für das West­schweizer Fernsehen berichtet, ist in der neu gegründeten Zürcher Edition Gai Saber erschienen, und man kommt nicht ganz umhin, hier über Äusserlichkeiten zu sprechen. Das Layout hat die Anmutung einer selbst gesetzten Bachelor­arbeit; die Bindung, sagen wir mal, scheint nicht auf mehrmaliges Lesen angelegt. Der Text selber kommt anspruchs­voller daher als die billige Herstellung: solide recherchiert, mit Ausnahme einiger Ungenauigkeiten souverän in der Darstellung und Einordnung der Einzel­aspekte, allerdings ohne grösseren erzählerischen Bogen und – Manuskript­abschluss Mitte April – deutlich von den Helden­narrativen der ersten Kriegs­wochen geprägt.

  • Wojciech Rogacin: «Selenskyj. Die Biografie» (Europa-Verlag):
    Der polnische Journalist Wojciech Rogacin hat eine gut informierte, klassisch erzählte Politiker­biografie geschrieben. Konzise dargestellt sind vor allem Selenskis letzte Schauspieler- und erste Politiker­jahre bis zum April 2022. Mehr Raum als anderswo bekommt Selenskis familiäres Umfeld und besonders seine Frau Olena. Bedauerlich hingegen: eine Neigung zu altväterlichen Binsen­weisheiten; eine nicht immer stilsichere Übersetzung; der gelegentliche Hang des Autors, Selenskis Sicht der Dinge so zu referieren, als falle sie automatisch mit der Faktenlage in eins. Erstaunlich bei einem Leinwand­star und bild­bewussten Politiker: Rogacins Buch ist das einzige mit einer umfang­reichen Fotostrecke.

  • Sergii Rudenko: «Selenskyj. Eine politische Biografie» (Hanser-Verlag):
    Die erste Biografie über Selenski, in der Ukraine bereits 2021 erschienen und ein Referenz­werk auch für die anderen Biografinnen. Der ukrainische Journalist Sergii Rudenko, der in Kiew auch für die Deutsche Welle Kolumnen schreibt, hat das Buch ursprünglich als Porträt des neuen Präsidenten angelegt, nicht, wie die späteren Konkurrenz­titel, als Biografie des unerwarteten Kriegs­helden. Nach dem 24. Februar hat Rudenko das Manuskript ergänzt und bis April 2022 aktualisiert. Erzählt wird in 38 Episoden, die, so der Autor im Vorwort, als «Mosaik­steinchen» zusammen­gesetzt «ein Porträt des Wolodymyr Selenskyj» ergeben. Das Zusammen­setzen ist allerdings mühsam: Die Abfolge der Szenen wirkt willkürlich und sprunghaft – das blosse Abweichen von der Chronologie macht noch keine Dramaturgie.

Von Krywyj Rih aus auf die Welt­bühne

Die biografischen Eckdaten und die Basics zu Werdegang und familiärem Hinter­grund präsentieren die Autoren zuverlässig und in dieser Bündelung durchaus neu.

Wolodimir Selenski kommt am 25. Januar 1978 in Krywyj Rih zur Welt, einer Industrie­stadt im Süden der heutigen Ukraine. Seine Eltern sind beruflich beide in den technischen Wissenschaften beheimatet: Die Mutter, Rymma, ist Ingenieurin. Der Vater, Olexandr, ein studierter Mathematiker und späterer Professor für Kybernetik und Informatik, tritt vier Jahre nach Wolodimirs Geburt eine Stelle als Bergbau­spezialist in der Mongolei an, die damals von Moskau spöttisch als «16. Sowjet­republik» bezeichnet wurde. So kommt die Familie nach Erdenet, einer damals aus dem Boden gestampften Bergarbeiter­stadt, in der Olexandr Selenski beim Aufbau erzverarbeitender Betriebe helfen soll.

Weil das raue Klima dort der Mutter gesund­heitlich zusetzt, kehrt sie vier Jahre später mit dem Sohn nach Krywyj Rih zurück; der Vater bleibt und wird am Ende zwanzig Jahre lang am Aufbau von Erdenet gearbeitet haben, bevor er endgültig in seine Heimat­stadt zurückkehrt. Wolodimir also wächst die meiste Zeit ohne Vater auf, der jedoch ein ständiger Orientierungs­punkt für ihn bleibt.

Die Familie ist jüdischer Herkunft, Religion spielt allerdings keine aktive Rolle im Familien­leben. Sie seien «eine ganz normale sowjetische jüdische Familie» gewesen, wird Selenski 2020 in einem Interview mit «Times of Israel» sagen, die meisten jüdischen Familien in der Sowjet­union seien nicht religiös gewesen. Doch schliesst das familiäre Gedächtnis das Bewusstsein mit ein, von Über­lebenden abzustammen.

Selenskis Grossvater Semion und dessen drei Brüder hatten im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee gegen die Nazis gekämpft, lediglich Semion überlebte. Selenskis Grossmutter ist nur knapp dem Holocaust entkommen: Aus Krywyj Rih, wo die Deutschen während der Besatzung alle in der Stadt verbliebenen Juden ermordeten, hatte sie rechtzeitig mit einem Evakuierungs­konvoi ins kasachische Almaty fliehen können. Nach Kriegsende kehrte sie in ihre Heimat­stadt zurück, 1947 wird Selenskis Vater geboren.

Krywyj Rih ist, Jahrzehnte später, auch die Heimat von Selenskis Frau Olena Kijaschko. Wolodimir und Olena wachsen im selben Viertel auf, in der Siedlung mit dem Spitz­namen «Ameisen­haufen», einer Ansammlung zwölf­stöckiger Wohn­blocks mit jeweils mehreren hundert Wohnungen. Beide kommen sie aus russisch­sprachigen Familien, die, wie Wojciech Rogacin schreibt, «ähnliche Bräuche pflegten»; beide verbringen sie Jahre am selben Gymnasium, wo sie, einander vorerst bloss flüchtig bekannt, in Parallel­klassen gehen. Ein Paar werden sie mit achtzehn, als sie bereits studieren – und bald auch gemeinsam Kabarett machen.

Bei der Studienwahl hatte es Selenski eigentlich an die Diplomaten­schule gezogen, doch der Vater sah ihn lieber bei den harten Wissenschaften – oder wenigstens als künftigen Anwalt. So kommt es, dass Selenski auf Drängen des Vaters ein Jura­studium am Ökonomischen Institut von Krywyj Rih beginnt. Von wo aus seine Karriere dann ganz andere Wege nehmen wird.

Der Makel

Es ist das kaum vermeidliche Merkmal von Politiker­biografien in Kriegs­zeiten, dass sie auch da, wo es um die sehr persönlichen Themen und um Selenskis Werde­gang geht, ohne exklusive Zitate der Protagonisten und direkte Gespräche mit ihnen auskommen müssen.

Durch die Auswertung zahlreicher Quellen der letzten Jahre aber rekonstruieren die Autoren die Stationen von Selenskis Weg, bevor der 24. Februar alles grundlegend änderte: Wolodimir Selenski, der schon im Schul­theater die Bühne sucht. Der Student, der das Team­kabarett in Wettkampf­form entdeckt. Selenski, der Starcomedian, der in der Rolle des Lehrers Wassil Holoborodko in der Serie «Diener des Volkes» die eigene Zukunft als ukrainischer Präsident vorwegnimmt.

Die Stationen seines Wahlkampfs; der Erdrutsch­sieg im April 2019; die grosse Ernüchterung für ihn und seine Anhänger, die all ihre unrealistischen Hoffnungen in den Non-Establishment-Kandidaten projiziert hatten. Die fehlende Parkett­sicherheit des politischen Quer­einsteigers, die unzähligen Fettnäpfchen. Donald Trump und die Burisma-Affäre um Hunter Biden während des US-Wahlkampfs. Die «Pandora Papers» und Selenskis Beteiligung an Offshore-Firmen. Skandale um Partei­freunde.

All das wird von den Autoren mal übersichtlich zusammen­gefasst, mal bloss skizzenhaft verhandelt; Investigatives oder gänzlich neue Erkenntnisse enthalten die Bücher nicht. Instruktiv sind sie eher durch einzelne Schlag­lichter: wenn in den stärksten Kapiteln oder im Vergleich der Bücher Zusammen­hänge aufscheinen, die in der Bericht­erstattung der vergangenen Monate kaum präsent waren, jedoch gerade auch für die unmittelbare Gegenwart relevant sind. Sie betreffen den Bühnen­menschen Selenski; den Team­player und Captain; die Anfeindungen durch seine Gegner (und wie Putin darauf reagiert); und last but first: die fundamentale Veränderung durch den Krieg.

Vier Spotlights.

1. Bühnenmensch

In seinem ersten Studienjahr gründet Selenski zusammen mit Freunden eine Kabarett­gruppe namens «Kwartal 95», benannt nach dem Stadtviertel von Krywyj Rih, in dem sie lebten. Einige Jahre später wird «Kwartal 95» auch der Name eines ukrainischen Entertainment-Imperiums sein.

Vorerst aber heisst das Ziel von Selenskis Studierenden­gruppe KWS: Klub der Witzigen und Schlagfertigen. KWS (oder eigentlich russisch KWN: Klub Wesjolych i Nachodtschiwych), ein ursprünglich sowjetisches Format aus den 1960ern, ist noch im post­sowjetischen russisch-ukrainischen Raum das Kürzel für reichweiten­starke Fernseh­comedy: Studentische Teams treten gegen­einander um die Meisterschaft an – von der regionalen Ebene bis hinauf zur ersten Liga.

Mit Selenski als treibender Kraft steigt «Kwartal 95» in die höchste Spielklasse auf, in der ukrainische Teams nur äusserst selten vertreten sind. Zur Meisterschaft reicht es nie, aber Selenski wird allmählich zum rising star als Komiker, Schau­spieler, Tänzer, Drehbuchautor – und zum erfolgreichen Unternehmer. 2003 erhält er ein lukratives Angebot aus Moskau, sein Team in Richtung der Firma AMiK, ein Gigant im Showbusiness, zu verlassen – doch er lehnt ab und gründet mit den alten Weggefährten die Produktions­firma Studio Kwartal 95, die nun ihre eigenen Sendungen macht.

Mit politischen Satire­shows erzielt sein Team den kommerziellen Durchbruch. Auch dem Kino wendet sich Selenski erfolgreich zu – und schliesslich produziert die Firma die Serie «Diener des Volkes», die zum Vorspann für seine Präsidentschaft wird. Am Silvester­abend 2018 gibt er pünktlich zu Mitternacht seine Kandidatur für das höchste Staatsamt bekannt, übrigens ohne Olena vorher einzuweihen.

Selenski also wechselt die Bühne: vom Show­business in die Politik. Doch ist seine Inszenierung als Kandidat nicht von seinen Erfahrungen als Entertainer und seiner Virtuosität im Umgang mit neuesten Medien zu trennen. «Diener des Volkes» ist nun auch der Name einer politischen Bewegung.

In den politischen Positionen und besonders hinsichtlich der Wahlkampf­dynamik orientiert er sich an Emmanuel Macron, wie besonders Régis Genté und Stéphane Siohan in ihrem Buch heraus­streichen:

Die Formation Diener des Volkes weist verblüffende Ähnlichkeiten mit La République en marche auf: der lautstarke Ruf nach dem Rücktritt von Amts­inhabern, eine neue Elite ohne ausgeprägte ideologische Ausrichtung, eine technokratische Kultur, die Faszination für neue Technologien und alles Digitale, der Hang zu permanenter Kommunikation, die unverbrüchliche Loyalität zu einem Chef, aber auch eine phänomenale Fähigkeit, heisse Luft zu produzieren.

Selenski führt einen überwiegend digitalen Wahlkampf, Instagram wird darin zur wichtigsten Plattform (neben der dritten Staffel von «Diener des Volkes», die unmittelbar vor den Wahlen ausgestrahlt wird und die Kunst­figur Wassil Holoborodko als bereits gewählten Präsidenten inszeniert). Analoge Auftritte meidet Selenski anfangs konsequent, wohl weil er um seine noch fehlende Dossier­sicherheit in quasi sämtlichen politischen Bereichen weiss. Doch wenn sich der Showdown nicht mehr vermeiden lässt, dann am besten gleich als grosses Spektakel im Olympia­stadion von Kiew, wo er unmittelbar vor der entscheidenden Abstimmung mit Amtsinhaber Petro Poroschenko aufeinandertrifft – und durch akribische Vorbereitung, aber auch durch ein äusserst genaues Gespür für die jeweilige Bühnen­situation die Arena als Sieger verlässt.

Mit dem 24. Februar 2022 ändert sich für Wolodimir Selenski ein zweites Mal der Kontext seiner öffentlichen Auftritte radikal. Der ehemalige Comedian (und mit ihm das ganze Land) findet sich über Nacht in einer durch und durch realen Tragödie wieder.

Und dennoch kommt es auch hier nicht von ungefähr, dass er genau erfasst, welche Ansprache nun angezeigt ist. Vom ersten Moment an sieht Selenski sehr klar, dass es jetzt auf seine Präsenz ankommt, auf engst­möglichen Kontakt, nicht zu einem Publikum, sondern zu einer ganzen Nation. Und er weiss, wie man – nur scheinbar paradox – auch mithilfe von Medien­einsatz Nähe, Präsenz und Verbindlichkeit herstellt.

Selenski ist bereits durch Geheimdienst­informationen klar: Im Fall eines russischen Angriffs ist er das Ziel Nummer eins. Doch er entscheidet sich ganz bewusst, nicht zu gehen, sondern trotz der existenziellen Bedrohung in Kiew zu bleiben und durch digitale, leicht teilbare Botschaften zu zeigen: Ich bin hier, im selben analogen Raum wie ihr.

Fortan wird er an jedem einzelnen Tag des Krieges Video­botschaften an sein Volk und an die ganze Welt richten. Krasser könnte der Kontrast zu Putins paranoider Maximal­distanz zu allem und jedem nicht sein.

2. «Selenskyj-Gang»?

Olena Kijaschko, spätere Selenska, schliesst ihr Architektur­studium mit Auszeichnung ab. Doch wird sie, wie Sergii Rudenko pointiert formuliert, ebenso wenig je als Architektin arbeiten wie ihr Mann als Jurist.

Bereits zu Studien­zeiten widmen beide ihre Energie dem KWS und «Kwartal 95». Sie ist schon in den Anfangs­zeiten Teil des Teams, nach der Gründung der Produktions­firma wird er Artdirector, sie gehört zum festen Pool der Drehbuch­autorinnen.

Das hat etwas Paradigmatisches. In «Kwartal 95» sind seit der ersten Stunde das Künstlerische, das Unter­nehmerische und das Private eng verkoppelt. Es beginnt als gemeinsames Projekt von Freunden – und bleibt es. Viele der Mitwirkenden kennt Selenski seit Kinder­tagen, einige von ihnen haben mit ihm gemeinsam das Gymnasium besucht.

Besonders detailliert kann man bei Sergii Rudenko nachlesen, wie Freundschaften und langjährige Bindungen Selenskis gesamte Laufbahn prägen. Bereits die frühesten Versuche im Kabarett sind Teamwork: Die Sketche werden im Team gespielt und entworfen, die dramaturgischen Über­legungen im Kollektiv angestellt. Selenski sticht von Anfang an auf und neben der Bühne hervor, ist künstlerisch wie unter­nehmerisch der Kopf der Gruppe.

Aber niemals agiert er als reiner Solist. Noch die Serie «Diener des Volkes», die geradezu einen Personen­kult um ihn auslöst, entwickelt er in enger Zusammen­arbeit mit seinem Team und seinem Drehbuch­kollektiv.

Und dann, als er in die Politik geht – macht er es genauso.

Seine Partei «Diener des Volkes» besteht zu einem bedeutenden Teil aus alten Weggefährten und Geschäfts­partnern, die meisten von ihnen politische Neulinge wie er. Die «Selenskyj-Gang», wie die Autoren Genté und Siohan sie nennen, zieht in die Politik des Landes ein. Und genau hier wird Loyalität für Selenski auch zum Problem.

Er, der so prononciert gegen Vettern­wirtschaft und die alten Seilschaften der korruptions­lastigen ukrainischen Politik angetreten war, hat nun in seinem präsidialen Mitarbeiter­stab und seinem Parlament eine ganze Armada alter Bekannter sitzen: zu einem Gutteil Kreative wie er, ohne politischen Leistungs­ausweis.

«Innerhalb eines Jahres nach seiner Wahl zum Präsidenten war der Clan von Poroschenko durch den Clan von Selenskyj, genauer gesagt von Studio Kwartal 95, ersetzt worden», schreibt Sergii Rudenko süffisant. Und schiebt eine drei Seiten lange Namens­liste hinterher.

In der politischen Landschaft der Ukraine gibt aber eine andere persönliche Verbindung noch mehr zu reden: die zum Oligarchen Igor Kolomoiski. 2012 wechseln Selenski und sein Comedy-Team mit ihren Programmen zu den Sendern der Medien­gruppe 1+1, die mehrheitlich Kolomoiski gehören. Ab Herbst 2015 wird bei 1+1 auch exklusiv die Serie «Diener der Volkes» ausgestrahlt, deren Satire schon ab der ersten Staffel vor allem auf den amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko zielt – und die spätestens ab der dritten Staffel zur Steilvorlage für Selenskis Kandidatur wird. Das Brisante daran: Kolomoiski und Poroschenko – der nicht nur Präsident, sondern ebenfalls Oligarch und Inhaber einer Medien­gruppe ist – sind Erzrivalen.

«Diener des Volkes», schreiben Régis Genté und Stéphane Siohan zugespitzt, sei deshalb keine harmlose Fernseh­serie gewesen, sondern «eine Granate, die ein Oligarch gezündet hat, um einen anderen zu stürzen». Als die ukrainischen Fernseh­zuschauer am Silvester­abend 2018 die traditionelle Mitternachts­ansprache des amtierenden Präsidenten erwarten, erscheint bei 1+1 jemand anderer auf den Bild­schirmen: Wolodimir Selenski, der seine Kandidatur verkündet. Poroschenkos Sender werden im Gegenzug eine monatelange Kampagne gegen Selenski fahren.

Der Vorwurf, der ehemalige Comedian sei nur eine Marionette von Kolomoiski, gehört von Anfang an zum festen Repertoire der Selenski-Gegner. Die Stichwahl gegen Poroschenko am 21. April 2019 gewinnt er trotzdem triumphal, mit über 73 Prozent der Stimmen.

Eine zu grosse Nähe Selenskis zu Kolomoiski wird dem neuen Präsidenten aber auch nach der Wahl immer wieder unterstellt. Selenski emanzipiert sich mit Nachdruck, sein Parlament verabschiedet gar ein – allerdings heftig kritisiertes – Bankengesetz, das in der Ukraine auch den Namen «Anti-Kolomoiski-Gesetz» trägt.

Dennoch: Vorwürfe von Nepotismus und fehlender Unabhängigkeit haben Selenskis erste Zeit im Amt begleitet – bis der 24. Februar alles veränderte. Sollten die Ukrainerinnen in absehbarer Zeit wieder in Frieden leben können, kommen womöglich auch die alten Diskussionen wieder auf.

Viel wichtiger – und mit Blick auf Selenskis Fernseh-Background auch erhellender – ist jedoch etwas anderes: dass es zwischen Selenskis Rolle bei Kwartal und seinem Agieren als Präsident eines kriegs­versehrten Landes über den radikal verschiedenen Kontext hinweg überraschende Parallelen gibt.

Im Kwartal-Universum war Selenski zu jeder Zeit Teamplayer und Leader in einem. Von den ersten improvisierten Studenten­sketchen bis zum Netflix-kompatiblen Welterfolg: Selenski galt zwar in allen Phasen unbestritten als Mastermind und bühnen­wirksamer Star der Gruppe, aber die kreativen Prozesse waren immer Gemeinschafts­arbeit.

Selenski war nie Solist, sondern Teamcaptain. Ist es überzogen zu sagen, dass er genau in dieser Rolle auch sein Land durch den Krieg führt?

Wenn er in seinen Ansprachen das Wir aller Ukrainerinnen beschwört, wenn er sich öffentlich im Tross seines Stabes, bei den Truppen, bei den Bürgern zeigt oder wenn er in der internationalen Gemeinschaft den Schulter­schluss sucht, dann bleibt der Präsident demonstrativ und wirkungsvoll einem Kollektiv zugewandt. Der Mann im Kakishirt ist das längst ikonisch gewordene Gesicht des ukrainischen Widerstands – aber die Helden­erzählungen hat er immer auf seine Lands­leute umgelenkt, als deren Fürsprecher und Stütze er sich glaubwürdig zeigt. Die «Selenskyj-Gang», das sind jetzt eine Zeit lang alle.

3. Selenski-Gegner und Propaganda

Es gehört zu den Ironien der Geschichte, dass Wolodimir Selenski noch im Präsidentschafts­wahlkampf von seinen Gegnern permanent als kremltreuer Vasall hingestellt wurde. Das Poroschenko-Team verbreitete Wahl­werbung mit zwei Gesichtern: dem von Poroschenko und dem von Putin. Botschaft: Wählt den amtierenden Präsidenten oder ihr bekommt Putin ins Haus.

Wenn man diese Geschichte heute bei Sergii Rudenko nachliest, ist sie nur noch eine Anekdote, über die man vielleicht den Kopf schüttelt, weil sie so viel über das Elend von Wahl­kämpfen aussagt. Andere Wahlkampf­geschichten sind verstörender.

Ebenfalls während dieser Zeit verbreiteten sich Gerüchte um Selenskis angebliche Drogen­abhängigkeit – ein Diskreditierungs­versuch, auf den Selenski reagierte, indem er Poroschenko öffentlichkeits­wirksam zu einem medizinischen Drogentest der Kandidaten aufforderte. (Beide Tests negativ.)

Aus heutiger Perspektive aber wirft die Geschichte ein Licht auf das Vorgehen der Kreml­propaganda. Wenn Wladimir Putin den russischen Angriffs­krieg damit erklärte, dass die Ukraine von «einer Bande Drogen­abhängiger und Nazis» regiert werde, dann ist diese vollkommen irrsinnige Behauptung eben nicht einfach zufällig. Putins Propaganda führt vielmehr gezielt in einen bereits geschaffenen Raum der raunenden Unter­stellung. Sie profitiert von einer medialen Umgebung, in der die blosse Assoziation von Personen­name und Schlagwort die Dynamik von Verschwörungs­theorien, Verdachts­kultur und Fake News in Gang setzt – inklusive manipulierter Videos, die prorussische Kreise in die digitalen Netzwerke einspeisen.

Wo es ohnehin nicht um Fakten und plausible Begründungen geht, sondern um Denunziation, kann die einmal getroffene Unter­stellung auch gleich mit dem offenkundig Absurdesten kombiniert werden: dem Nazi-Vorwurf an einen Mitte­politiker jüdischer Herkunft, der aus einer Familie von Holocaust-Überlebenden kommt. Weil der Kampf gegen «Nazis» in Russland die Meister­erzählung ist, mit der sich offenbar alles rechtfertigen lässt.

Die Kreml­propaganda, die sich nicht um Wahrheit, nicht um Logik, nicht um ethische Mindest­standards schert, mag absurd erscheinen – willkürlich aber ist sie nicht, sondern gezielte und kalkulierte Desinformation, die an bereits bestehende Verleumdungs- und Desinformations­kampagnen andockt und sie verstärkt. Auch das rufen die neuen Selenski-Biografien in Erinnerung, ohne dass die Autoren es eingehend thematisieren.

4. Über sich hinauswachsen

Letzter und zentraler Punkt: wie sich mit Beginn der russischen Invasion 2022 die Bewertung von Selenskis Präsidentschaft noch einmal völlig verändert.

Bei Sergii Rudenko hat sich dieser Wandel geradezu ins Buch eingeschrieben. Die nach Kriegsbeginn verfassten Szenen heben sich von den ursprünglichen schon durch die Tonlage ab – weil Rudenko erkennt, wie sein recht kritisches Gesamtbild von der Gegenwart überholt wird.

Wenn Rudenko geradezu lustvoll die Skandale in Selenskis Partei vor dem Jahr 2022 aufzählt oder die uneingelösten Wahl­versprechen rekapituliert, dann hat man noch einmal ein klareres Bild davon, welch schwierigen Stand Selenski innen­politisch noch vor wenigen Monaten hatte.

Durch die russische Invasion bekommt im Februar 2022 alles im Land neue Vorzeichen – auch alte Rivalitäten. Mit Kriegs­beginn verkündet Ex-Präsident Poroschenko, er und sein Nachfolger seien jetzt im selben Team. Selenski erwirbt sich vom ersten Kriegstag an grössten Respekt, weltweit und im eigenen Land, auch seitens ehemaliger Gegner.

Wenn Rudenko seine anerkennenden Passagen zu Selenskis neuer Rolle im Krieg allerdings mit dem Satz resümiert: «Wir haben einen anderen Menschen vor uns», dann verkennt die rhetorische Über­spitzung mindestens so viel, wie sie erklärt. Denn die Story vom plötzlichen Helden über Nacht hatte schon immer das simple Plausibilitäts­problem, dass da, trotz der historischen Zäsur, immer noch derselbe Mensch ist, auch wenn er statt des präsidialen Anzugs nun ein kakifarbenes T-Shirt trägt.

Es mag die Wendepunkt-Erzählung um ihre filmreife Zuspitzung bringen: Doch das Über-sich-hinaus-Wachsen des Wolodimir Selenski hat schon vor dem 24. Februar begonnen. Zum einen in Schwellen­situationen wie dem Aufeinander­treffen mit Wladimir Putin im Minsk-II-Format, wo er – eindrücklich beschrieben bei Genté/Siohan – dem immensen Druck standhält und den ukrainischen Souveränitäts­anspruch verteidigt. Zum anderen dadurch, dass er offenkundig abseits und innerhalb der Politik Erfahrungen gemacht hat, die ihn für die Rolle im Krieg vorbereitet haben. Dass es die mit Abstand wichtigste seines Lebens ist, dafür spricht schon jetzt fast alles.

Wie hingegen seine Art, diese gewaltige Aufgabe zu interpretieren, einmal im Rückblick bewertet werden wird, können die Biografen von heute so wenig wissen wie irgendwer. Nicht nur, aber auch deshalb muss die grosse Selenski-Biografie erst noch geschrieben werden.

Ich will es genauer wissen: Wolodymyr Selenskyj oder Wolodimir Selenski?

Die Republik orientiert sich bei der Schreibung von Eigennamen aus dem russischen Sprach­raum grundsätzlich an der russischen Schreib­weise, nicht an der zum Beispiel ukrainischen oder belarussischen. Seit dem 24. Februar wird dieser Punkt verständlicher­weise breiter diskutiert – für alle Seiten befriedigend lösen lässt er sich nicht wirklich. Bei bisher unbekannten Ortschaften haben wir uns entschieden, die Wikipedia-Schreibweise zu übernehmen, das ist dann mehrheitlich die ukrainische (zum Beispiel Krywyj Rih, nicht russisch Kriwoi Rog).
Der ukrainische Präsident wird bei uns normaler­weise Wolodimir Selenski geschrieben, nicht Wolodymyr Selenskyj. In diesem Beitrag finden Sie allerdings immer wieder die ukrainische Schreibweise des Namens – allerdings nur, wenn es um die Buchtitel und Zitate aus den Büchern geht.

Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus mit einem Monatsabonnement oder einer Jahresmitgliedschaft!