Am Gericht

Irrglaube

Seit zwei Jahren wird in der Schweiz bestraft, wer Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung herabsetzt. Einem selbst ernannten Prediger ist das völlig egal. Und den Straf­prozess nutzt er als Bühne.

Von Brigitte Hürlimann, 17.08.2022

Synthetische Stimme
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Das Ergebnis war überdeutlich, damals, am 9. Februar 2020. 63,1 Prozent der Abstimmenden sagten Ja zu einer Ergänzung des Schweizerischen Straf­gesetzbuchs. Neu steht dort seither festgeschrieben, dass niemand aufgrund seiner sexuellen Orientierung öffentlich geäusserten Hass erdulden muss – oder öffentliche Herab­setzung und Diskriminierung.

Die Gesetzes­änderung war 2013 von SP-Nationalrat Mathias Reynard angeregt worden. Sie fand im Bundes­parlament zwar eine Mehrheit, wurde aber schon in diesem Kreis emotional und kontrovers diskutiert. Wenig überraschend ergriffen die EDU, die Junge SVP und weitere Gruppierungen das Referendum. Sie sprachen von einem «Zensur­gesetz», das die Meinungs- und Glaubens­freiheit bedrohe. Es bestehe die Gefahr einer Gesinnungs­justiz – und dass man sich nicht mehr kritisch mit Homo- oder Bisexualität auseinander­setzen dürfe.

Ganz ähnlich sieht das ein 63-jähriger Mann, der an der Zürcher Bahnhof­strasse lauthals über schwule und lesbische Menschen herzog – unter Berufung auf die Bibel. Nicht alle Passanten liessen sich seinen Auftritt gefallen. Sie alarmierten die Polizei und lösten damit eine Straf­untersuchung, eine Anklage­erhebung und einen Straf­prozess aus. Doch das alles lässt den selbst ernannten Bussprediger kalt. Es ist auch nicht das erste Mal, dass er wegen öffentlicher Reden mit dem Straf­recht in Konflikt gerät.

Ort: Bezirks­gericht Zürich
Zeit: 29. Juli 2022, 9 Uhr
Fall-Nr.: GG220177
Thema: Diskriminierung und Aufruf zu Hass aufgrund der sexuellen Orientierung, Hinderung einer Amts­handlung

Es ist zeitweise kaum auszuhalten, was dieser ältere, unauffällig-biedere Herr da vorne auf der Anklage­bank von sich gibt. Der Mann spart nicht mit Pathos. Theatralisch erhebt er seine Stimme, zeigt mit den Armen gen Himmel – und scheint seinen Auftritt so richtig zu geniessen. Beschuldigten­rolle hin oder her.

Einzelrichter Tobias Brütsch reagiert mit Engels­geduld und lässt ihn ausreden, in den Zuschauer­reihen hingegen macht sich Konsternation breit. Ist es menschen­möglich, sich hier und heute solche Botschaften anhören zu müssen? Die mit derartiger Überzeugung und Inbrunst vorgetragen werden?

Ein halbes Dutzend Medien­vertreterinnen haben sich an diesem hoch­sommerlichen Freitag­morgen am Bezirks­gericht Zürich eingefunden, zusammen mit einer Handvoll weiterer Prozess­besucher. Das ist ein eher ungewöhnlicher Aufmarsch. An den meisten Verhandlungen bleiben die Zuschauer­reihen nämlich leer; ausser, es geht um Schwerst­kriminalität. Oder es sind Prominente involviert. Beides ist hier nicht der Fall.

Und doch ist das Interesse am Prozess nicht weiter erstaunlich.

Denn es geht um eine neue und umstrittene Strafnorm, die bisher nur selten von Schweizer Gerichten angewandt werden musste. Der Abstimmungs­kampf und die Diskussionen darüber, ob das strafrechtliche Diskriminierungs­verbot auf die sexuelle Orientierung ausgeweitet werden soll, sind noch in frischer Erinnerung.

Keine Nennung der Geschlechts­identität

Vergeblich hatte damals eine Mehrheit der national­rätlichen Kommission für Rechts­fragen übrigens vorgeschlagen, auch die Geschlechts­identität in den erweiterten Diskriminierungs­artikel aufzunehmen. Ein Anliegen, das unter anderem die Schweizerische Konferenz der Gleichstellungs­beauftragten, der Gewerkschafts­bund, der Städte­verband, diverse Schwulen-, Lesben- und Transgender-Organisationen oder die Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz eingebracht hatten.

Abgestimmt wurde dann lediglich – aber immerhin – über die Ausweitung der Norm in Bezug auf die sexuelle Orientierung; und sie wurde dann auch angenommen.

Doch zurück in den voll besetzten Gerichts­saal nach Zürich. Der selbst ernannte Buss­prediger sagt, er gehöre weder der reformierten noch der katholischen Kirche an. Die hätten Schlimmes verbrochen. Seine Konfession sei Jesus Christus. Er predige seit 1983, und zwar so oft der Heilige Geist ihn dazu treibe.

Ob er wisse, was ihm die Staats­anwältin vorwerfe, will Einzel­richter Brütsch zu Beginn der Verhandlung wissen.

Das sei ihm vollständig klar, sagt der Mann, der ohne Rechts­vertreter vor dem Richter­podest sitzt.

«Warum haben Sie auf eine Verteidigung verzichtet?»

«Das stimmt nicht. Ich habe nicht verzichtet. Der Heilige Geist ist mein Beistand, Jesus Christus mein Anwalt.»

Er führe die Befehle Gottes aus, so der 63-jährige Schweizer weiter. Er ist verheiratet, kinderlos, von Beruf Nachhilfe­lehrer, Eigentümer eines Einfamilien­hauses. Vor Gericht trägt er eine kurze, beige Hose, weisse Turn­schuhe, den hellblauen Pulli locker um die Schultern gelegt.

Wer in Unzucht lebe und nicht glauben wolle, fährt er fort, werde verdammt.

Ungefähr in diesem Stil soll es dann weiter­gehen, den ganzen Vormittag lang.

Was kümmern den selbst ernannten Prediger die irdische Straf­justiz und die hiesige Gerichts­barkeit, wenn er doch im Namen Gottes unterwegs ist? Und deshalb immer recht hat, das einzig Wahre verkündet? Es sind die anderen, die sich irren; eben jene, die sich nicht bekehren lassen wollen und deshalb in der Finsternis landen werden, davon ist der Mann überzeugt. Homosexuelle hätten die Liebe Gottes nicht verstanden, ihre Beziehung sei vor Gott nichtig, und jedermann könne sich für die Hetero­sexualität (und damit für ein gottgefälliges Leben) entscheiden, wenn er oder sie es nur wolle. Wer es nicht tue, sei zu «Toren und Narren» geworden und müsse den Lohn der Verirrung in Kauf nehmen.

Und so weiter und so fort.

«Es muss bis zum Ende der Tage gepredigt werden», belehrt der 63-Jährige den Richter. Homo­sexualität sei eine Gräuel­sünde, etwas ganz Schlimmes. Diese Menschen müssten gerettet werden.

Einfach nur über ihn lachen? Aber ...

Ungefähr so hat es auch an jenem Samstag­nachmittag im Juni 2021 an der Zürcher Bahnhof­strasse getönt. Der Ort war bewusst gewählt, das gibt der Mann am Prozess offen zu, denn überall auf der Welt und in der Stadt Zürich ganz besonders herrsche «Sodom und Gomorrha».

Nun, man könnte ja einfach nur lachen über diesen älteren Herrn. Ihn als harmlosen Spinner abtun. Als eine arme, verirrte Seele. Doch man stelle sich vor, der Mann würde einer anderen Religion angehören, sich auf eine andere heilige Schrift berufen und mitten in der Stadt derartige Reden schwingen, er wäre kein Schweizer, nicht hellhäutig …

Ob dann noch jemand lachen würde?

Und eben, das hiesige Stimmvolk hat klar entschieden, dass es sich niemand gefallen lassen muss, aufgrund der sexuellen Orientierung herab­gesetzt zu werden. Die Strafbarkeit greift allerdings nur dann, wenn die Tiraden grob menschen­verachtend sind, im öffentlichen Raum und vorsätzlich verkündet werden.

Das heisst, mit anderen Worten: Schwulen- oder lesben­feindliche Witze am Stamm­tisch oder im Freundes- und Familien­kreis sind nach wie vor erlaubt, ebenso Provokationen, Karikaturen oder kontroverse Diskussionen.

Die Hürden für eine Bestrafung sind also hoch, und es ist in den zwei Jahren seit Bestehen der Strafrechts­ergänzung auch nicht zu einer Flut von Anklagen oder Prozessen gekommen; anders, als es das Referendums­komitee und dessen Sympathisantinnen befürchtet hatten.

Mit der Polizei «Katz und Maus» gespielt

Schade bloss, hat sich der Mann auf der Anklage­bank gegen eine irdische Verteidigung entschieden, und ebenfalls schade, hat Staats­anwältin Anna Kaiser auf eine Teilnahme an der Verhandlung verzichtet. Nur zu gerne hätten die Prozess­beobachter eine juristische Auseinander­setzung über die neue, erweiterte Diskriminierungs­strafnorm mitverfolgt.

Die Staatsanwältin fordert in ihrer Anklage­schrift eine bedingte Freiheits­strafe von acht Monaten, kombiniert mit einer bedingten Geldstrafe von 10 Tagessätzen à 150 Franken. Der Beschuldigte murmelt etwas von Religions- und Meinungs­äusserungs­freiheit, gibt seine Handlungen und Worte aber mehr oder minder zu – in Berufung auf seinen «göttlichen Auftrag».

Darum sei er an jenem Nachmittag an der Zürcher Bahnhof­strasse auch davongerannt, als die Polizei anrückte, alarmiert von zwei Passanten, die sich an seinem Geschwafel gestört hatten. Er lasse sich nicht einfach fangen von der Polizei, sagt der Beschuldigte, er mache mit ihr ein «Katz-und-Maus-Spiel». Was ihm zusätzlich noch eine Anklage wegen Hinderung der Amts­handlung einbrockt.

Doch auch das ist ihm egal.

Ebenso die einschlägige Vorstrafe von letztem Herbst wegen eines ähnlichen Vorfalls. Damals war es zur Auseinander­setzung mit einer Passantin gekommen, und der «Bussprediger» verletzte die Frau mit seiner Bibel an der Hand. Diese Sache sei abgegolten, meint der Mann, er habe die Busse bezahlt: «Ihr habt eure Worte gesprochen, und ich habe meine Sünde bekannt.»

Die erneute Strafandrohung für den zweiten Vorfall beeindruckt ihn nicht sonderlich: «Ich gebe mein Hab und Gut gerne dahin, damit ihr fortfahren könnt mit eurer Recht­sprechung.» Falls er freigesprochen werde, wolle er keine Entschädigung.

«Ihre Ansichten sind aus der Zeit gefallen»

Richter Tobias Brütsch unterbricht die Verhandlung für die geheime Urteils­beratung, der Saal wird geleert, zurück bleiben der Einzel­richter, der Gerichts­schreiber und die Gerichts­praktikantin. Nach einer Dreiviertel­stunde öffnet sich die Tür wieder. Die Zuschauer­reihen füllen sich. Gespannte Stille. Dann wird der 63-jährige Schweizer schuldig gesprochen, und zwar in beiden Anklage­punkten.

Auf eine Freiheits­strafe verzichtet das Gericht, der Mann kommt mit einer bedingten Geldstrafe von 95 Tagessätzen à 160 Franken davon.

Der Sachverhalt sei nicht bestritten, resümiert der Einzel­richter. Die Religions- und Meinungs­äusserungs­freiheit gälten nicht uneingeschränkt. Der Souverän habe in der Volks­abstimmung von 2020 der Erweiterung des Diskriminierungs­tatbestands mit grossem Mehr zugestimmt. Der Eingriff in die Grund­rechte gestützt auf die neue Strafnorm sei verhältnis­mässig – auch wenn der Beschuldigte mit einem «religiösen Rettungs­gedanken» gehandelt habe.

«Ihre Ansichten sind aus der Zeit gefallen. An einem öffentlichen Ort mit einer Vielzahl an Personen muss man nicht damit rechnen, mit solchen Botschaften konfrontiert zu werden.»

Und weil ihm der Mann auf der Anklage­bank ständig ins Wort fällt, bei der mündlichen Urteils­begründung, wird der Richter kurz unwirsch: «Jetzt hören Sie mir zu. Ich habe Ihnen vorhin auch zugehört.»

Er habe selektiv, buchstabengetreu und fundamentalistisch aus der Bibel zitiert, fährt der Richter fort – und halte sich ja selbst nicht an die Gebote. «Mit der gleichen Logik könnte man Ihnen vorwerfen, gegen das Zinsverbot zu verstossen. Sie zahlen für Ihr Haus eine Hypothek, was Sie heute bestätigt haben», so Tobias Brütsch.

«Ja, leider, da haben Sie recht», murmelt es auf der Anklagebank.

«Ich hoffe, dass dieses Urteil ausreicht und Sie sich in Zukunft entsprechend verhalten werden, was Ihre Predigten im öffentlichen Raum betrifft. Dass die Botschaft bei Ihnen angekommen ist.»

Auf die Schluss­worte des Richters gibt es keine Reaktion mehr. Kein Gemurmel, kein Armerheben, keine Beschwörung Gottes. Der verurteilte Mann marschiert schweigend aus dem Saal. Aber erhobenen Hauptes.

Illustration: Till Lauer

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