Wachsende Begehrlichkeiten
Die Schuldenbremse hielt den Bundeshaushalt jahrelang im Gleichgewicht. Doch die Ausgaben der nahen Zukunft strapazieren das Staatsbudget.
Von Thomas Preusse, 15.08.2022
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Nur mit einem «Trick» sei es möglich, das Budget 2023 auszugleichen, erklärte Finanzminister Ueli Maurer am 29. Juni vor den Medien. Der «Trick» besteht darin, dass die Kosten für die Geflüchteten aus der Ukraine separat verbucht werden. Für die Zukunft sieht der Säckelmeister des Bundes allerdings rot: Wenn man jetzt weiter schaue für die nächsten Jahre, dann sehe das nicht gut aus – gar nicht gut, müsste man sagen.
Wir haben jetzt einfach zehn Jahre in der Staatsrechnung, da war alles möglich – haben gesagt, Tischlein deck dich, die Einnahmen stiegen, man konnte sich alles leisten, und das hat jetzt definitiv geändert.
Stimmt das? Ist die Staatsrechnung jahrelang gewachsen? Und: Sind die fetten Jahre nun vorbei? Diesen Fragen gehen wir heute in einer Analyse des Bundeshaushalts der letzten 32 Jahre nach.
Absolut betrachtet wuchsen sowohl Ausgaben als auch Einnahmen massiv an – nominal von je um die 32 Milliarden 1990 auf etwa 75 Milliarden 2021. Doch die Einnahmen legen bei steigender Lohnsumme und Firmengewinnen automatisch zu. Die Ausgaben tun dies mit wachsender Bevölkerung ebenfalls.
Im selben Zeitraum machte auch die Schweizer Wirtschaft vorwärts, das Bruttoinlandprodukt (BIP) stieg von 370 auf 742 Milliarden. Setzt man nun den Bundeshaushalt ins Verhältnis zur Wirtschaftsleistung, sieht das Ganze vergleichsweise unspektakulär aus.
Während in den kriselnden 1990er-Jahren die Ausgaben schneller wuchsen als die Einnahmen, pendelten sich nach der Jahrtausendwende Ausgaben und Einnahmen ein – auch dank der Schuldenbremse. In den 2010er-Jahren kam es nie zu einem Defizit, und es wurden Überschüsse von bis zu einem halben BIP-Prozent generiert.
Dann brach die Covid-19-Pandemie aus, und die rosigen Jahre für die Bundesfinanzen nahmen ein jähes Ende. Ausserordentliche Ausgaben führten 2020 und 2021 zu hohen Defiziten von 15,8 und 12,2 Milliarden Franken respektive von 2,2 und 1,6 Prozent des BIP.
Um die Entwicklung besser zu verstehen, schauen wir uns Einnahmen und Ausgaben genauer an.
Woher das Geld kommt
Die Einnahmen lassen sich auf drei Bereiche respektive drei Grafiken herunterbrechen: Verbrauchssteuern, direkte Bundessteuer und Verrechnungssteuer – sowie die übrigen Abgaben und Einnahmen.
Zu den Verbrauchssteuern zählt die Mehrwertsteuer. Über die letzten 32 Jahre gesehen bringt sie dem Bund am meisten Geld ein. Die Mehrwertsteuer löste 1995 die Warenumsatzsteuer ab und besteuert seitdem auch Dienstleistungen. Beim Satz gab es insgesamt vier Erhöhungen, am bedeutendsten war diejenige 1999 von 6,5 Prozent auf 7,5 Prozent – das sogenannte Demografieprozent zugunsten der AHV. Änderungen des Mehrwertsteuersatzes müssen jeweils vom Volk abgesegnet werden. Die nächste Erhöhung zugunsten der AHV kommt am 25. September zur Abstimmung.
2021 entsprachen die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer 3,2 Prozent des BIP. Weitere 1,1 BIP-Prozente nimmt der Bund mit anderen Verbrauchssteuern ein: der Mineralölsteuer, der Tabaksteuer, der Alkoholsteuer und dem Netzzuschlag auf Strom.
Die direkte Bundessteuer wird von Privatpersonen auf Löhne sowie von Unternehmen auf Gewinne entrichtet. Sie war über die letzten Jahrzehnte hinweg die zweitgrösste Geldquelle des Bundes. 2019 überholte sie sogar die Mehrwertsteuer und steht seither an der Spitze.
2021 entsprach die direkte Bundessteuer 3,4 Prozent des BIP. Die Einkünfte durch sie sind vor allem wegen der explodierenden Unternehmensgewinne so stark angewachsen. Vergleicht man die Einnahmen aus dem Jahr 2021 mit Zahlen von 1990, so beträgt heute die Steuersumme aus Gewinnen das 5,5-Fache, jene aus Einkommen hingegen das 2,8-Fache. Sowohl Einkünfte aus Unternehmensgewinnen als auch Einkommen haben stärker zugelegt als das Bruttoinlandprodukt.
Die Verrechnungssteuer trägt im Schnitt weitere 0,8 BIP-Prozente zu den Bundeseinnahmen bei. Als Sicherungssteuer sorgt sie dafür, dass Anleger ihre Einkünfte aus ihrem Kapital korrekt versteuern. Ist dies der Fall, können sie die Verrechnungssteuer zurückfordern. Tun sie dies nicht, so bleibt das Geld beim Bund. Ausländische Investorinnen können nur unter gewissen Umständen die Verrechnungssteuer vollumfänglich zurückfordern. Deshalb haben Bundesrat und Parlament die Abschaffung der Verrechnungssteuer für gewisse Anlegergruppen beschlossen, worüber im September ebenfalls abgestimmt wird.
Die Stempelabgaben brachten 2021 Einnahmen in der Höhe von 0,4 Prozent des BIP. Verkehrsabgaben, Konzessionen, Investitionen und Beteiligungen sind in der Grafik als übrige Einnahmen zusammengefasst.
Die zwei grössten ausserordentlichen Einnahmen des Bundes waren 2005 der Goldverkauf der Schweizer Nationalbank und 2009 ein Gewinn beim Abbau des UBS-Engagements, nachdem der Bund die Bank im Jahr zuvor gerettet hatte.
Fazit auf der Einnahmenseite: Die ordentlichen Einnahmen steigen etwa im Gleichtakt mit dem BIP. Die direkte Bundessteuer hingegen wuchs wesentlich schneller und ermöglichte Mehrausgaben.
Wofür das Geld verwendet wird
Wofür der Bund das Geld ausgibt, wird auf der Website der Finanzverwaltung in 12 Aufgabengebiete und 48 verschiedene Aufgaben aufgeschlüsselt. Wir schauen uns an, wie sich die 7 grössten Aufgabengebiete in den letzten 32 Jahren entwickelt haben.
Auch auf der Ausgabenseite sind ausserordentliche Ereignisse sichtbar: 2007 floss das Geld aus dem Goldverkauf der Nationalbank zur AHV. Im folgenden Jahr ist die UBS-Rettung in den übrigen Ausgaben verbucht. Zuletzt sorgten die ausserordentlichen Ausgaben zur Bewältigung der Covid-Pandemie für einen sichtbaren Anstieg. Die meisten Ausgaben hat die Pandemie im Bereich der sozialen Wohlfahrt ausgelöst. Bundesgeld für Tests, Impfungen und Härtefälle vergrössern besonders 2021 die übrigen Ausgaben.
Wo wurde in den letzten Jahrzehnten mehr ausgegeben und wo weniger? Um zwei entgegengesetzte Trends klar zu sehen, nehmen wir uns die Aufgabengebiete soziale Wohlfahrt und Sicherheit heraus.
Am meisten Geld gibt der Bund für die soziale Wohlfahrt aus. Diese Ausgaben sind im Gesetz vorgesehen und können deshalb nicht jährlich vom Parlament angepasst werden wie andere, sogenannt ungebundene Aufgaben.
In normalen Zeiten machen die Ausgaben für die soziale Wohlfahrt ungefähr 3 Prozent des BIP aus. Rund die Hälfte davon fliesst in die AHV. In Zeiten wirtschaftlicher Krisen kommt es jeweils zu hohen Zusatzausgaben für die Arbeitslosenversicherung, um Kurzarbeit zu entschädigen. Die Invalidenversicherung hat sich in den letzten Jahren bei 0,5 Prozent des BIP stabilisiert. Die übrigen Sozialausgaben entfallen auf Krankenversicherung, Ergänzungsleistungen, Kosten im Zusammenhang mit Migration, Militärversicherung, Wohnbauförderung und im Zusammenhang mit Familienpolitik.
Die Militärausgaben hingegen gehören zu jenen Ausgaben, die jährlich angepasst werden können. Sie sanken bis 2006 relativ kontinuierlich bis auf 4,2 Milliarden Franken. Seither sind die Ausgaben für die militärische Sicherheit in absoluten Zahlen wieder etwas gestiegen und haben sich bei rund 0,7 Prozent des BIP eingependelt.
Die übrigen Sicherheitsausgaben (0,1 Prozent des BIP) werden für den Bevölkerungsschutz, den Zivildienst, die Polizei, den Strafvollzug, den Nachrichtendienst und die Grenzkontrollen aufgewendet.
Unter dem Eindruck des Russland-Ukraine-Krieges gab es im Parlament eine Trendwende: In der Sommersession wurde entschieden, das Militärbudget schrittweise bis 2030 auf 1 Prozent des BIP zu erhöhen.
Schwieriger Balanceakt
Sind die fetten Jahre also vorbei? Darauf deuten die aktuellen Prognosen hin. Das Budget 2022 sieht aufgrund der Covid-19-Krise nochmals ein Defizit vor. Aufgrund der bereits beschlossenen Mehrausgaben für die Armee, der zukünftigen ordentlichen Ausgaben für die Geflüchteten aus der Ukraine und des Gegenvorschlags zur Gletscherinitiative rechnet die Finanzverwaltung im Basisszenario ab dem Jahr 2026 mit einem nach Schuldenbremse nicht erlaubten Fehlbetrag von 1,3 Milliarden Franken jährlich. Im Worst-Case-Szenario wären es dann sogar 7 Milliarden jährlich.
Die Finanzpläne 2024 bis 2026 müssen also von Parlament und Bundesrat bereinigt werden, um der Schuldenbremse gerecht zu werden. Mit anderen Worten: Irgendwo muss gespart werden.
Insgesamt sind im Jahr 2025 voraussichtlich 65 Prozent der Bundesausgaben gebunden und lassen sich nur mit mehrjährigen Gesetzes- oder sogar Verfassungsänderungen anpassen. Übrig bleiben die Bereiche Bildung, Landwirtschaft, Umweltschutz, Entwicklungshilfe und Polizei, Strafvollzug, Nachrichtendienst. Oder eben das Militär. Der Finanzplan 2026 sieht Ausgaben nach Aufgabengebiet in der Höhe von 87,7 Milliarden Franken vor. Würde man ein Gedankenspiel machen und die Kosten nur bei den ungebunden Ausgaben reduzieren, wären es im Basisszenario 4 Prozent, die gespart werden müssten. Im Worst Case sogar 23 Prozent. Das wäre dramatisch.
Deshalb fordert Ueli Maurer das Parlament auf, diesen Worst Case abzuwenden: «Das Wichtigste ist wohl, dass das Parlament keine neuen Ausgaben mehr beschliesst und [bei] Ausgaben, die beschlossen sind, akzeptiert, dass die nach hinten verschoben werden.» Die Alternativen wären, im Eiltempo unpopuläre Reformen mit Leistungsabbau durchzubringen oder eine Verfassungsänderung für mehr Schulden vorzunehmen oder die Steuern zu erhöhen. Zu Letzterem meint der Finanzminister: «Da haben wir ja wohl keine Chance, dass Leute freiwillig mehr Steuern bezahlen, also müssen wir das im Budget unterbringen. Das ist unsere Aufgabe.»
Die Militärausgaben sind die grössten bereits beschlossenen Mehrbelastungen. Die kleine Erhöhung dieser Ausgaben auf 1 BIP-Prozent ohne Gegenfinanzierung könnte sich als erstaunlich heimtückisch erweisen.