Alarm, Affenpocken!
Schon wieder sorgt ein Virus für einen internationalen Gesundheitsnotstand. Was die Affenpocken von Covid-19 unterscheidet und was die Welt tun kann, um die Verbreitung noch einzudämmen.
Von Ronja Beck und Sharon Funke, 08.08.2022
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Es ist nicht so, als hätten uns Wissenschaftlerinnen nicht schon lange vor dem unschönen Szenario gewarnt, in dem wir uns gerade wiederfinden.
Britische Forscher, die Infektionsfälle in der heutigen Demokratischen Republik Kongo untersuchten, sagten bereits 1988 voraus, was der Welt drohen könnte: grössere und längere Affenpocken-Epidemien, als wir sie bis dahin kannten.
Die Pocken waren da schon offiziell ausgerottet, Impfkampagnen seit 1980 gestoppt, die Immunität in der Bevölkerung damit auf dem absteigenden Ast. Und ein artverwandtes Virus wartete nur darauf, in die Lücke zu springen.
Vor wenigen Jahren dann, genauer gesagt 2017, trugen sich in Westafrika seltsame Dinge zu. In Nigeria, fast 40 Jahre nach dem letzten offiziellen Affenpocken-Fall, steckten sich plötzlich Hunderte Menschen mit dem Virus an – und zwar nicht in ländlichen, sondern in urbanen Gebieten, was ungewöhnlich war. Das Virus schien, im Gegensatz zu früheren Ausbrüchen, vermehrt von Mensch zu Mensch zu springen.
Doch den globalen Norden kümmerte das wenig. Bis auf vereinzelte Fälle waren Affenpocken in unseren Breitengraden ja auch kein Thema. Das sollte sich diesen Mai ändern, als ein Reisender aus Nigeria mit Ausschlag ein Londoner Spital aufsuchte und der PCR-Test auf Affenpocken positiv ausfiel. Und als in den Tagen und Wochen darauf viele weitere Ansteckungen folgten, in England (ohne Verbindungen zum Reisenden), dann in Portugal, in Spanien, in den USA, in Australien, in der Schweiz.
Infizierte gab es plötzlich in bis heute über 80 Ländern, in denen Affenpocken-Fälle bisher höchstens die absolute Ausnahme waren.
In vielen Städten oder Regionen sind die Zahlen innert weniger Wochen stark gestiegen. Raves in Belgien und Spanien sollen zur raschen Verbreitung beigetragen haben.
Gemäss den offiziellen Fallzahlen und verglichen mit der Bevölkerungszahl ist Spanien zurzeit das am heftigsten betroffene Land. Wobei Verzerrungen nicht ausgeschlossen sind, je nachdem, wie viel in den Ländern auf das Virus getestet wird oder eben nicht – Stichwort Dunkelziffer.
Die Entwicklung der Fallzahl in der Schweiz ist im Verhältnis zur Bevölkerung sehr ähnlich wie in Deutschland.
In der Schweiz erfassten die Behörden seit dem 21. Mai 316 Fälle. Seit Mitte Juli müssen Ärzte und Kliniken dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) Infektionen innert 24 Stunden melden und unter anderem angeben, wo sich die infizierte Person angesteckt hat.
Affenpocken sind nicht Covid-19
Am 23. Juli zog die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schliesslich die Reissleine, zumindest symbolisch: Sie erklärte den Ausbruch zur «gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite». Was ein bisschen umständlich formuliert ist für: Liebe Staaten, ihr müsst jetzt handeln, und zwar gemeinsam, wenn ihr die Verbreitung des Virus noch irgendwie stoppen wollt.
Mit ihrem Entscheid hat die WHO einen Katalog an Handlungsempfehlungen für die internationale Gemeinschaft veröffentlicht: Informiert betroffene Gruppen, baut ein Contact-Tracing auf, impft Risikopersonen und so weiter. Die gesundheitliche Notlage ist als Alarmstufe Rot zu verstehen, als dringender call to action, wenn auch auf freiwilliger Basis.
Dass es so weit gekommen ist, ist keineswegs selbstverständlich. Das verantwortliche Expertinnenkomitee war gespalten. Ein Teil stufte das momentane Risiko für die Bevölkerung höher ein als der andere: Nach einer siebenstündigen Debatte votierten 6 Expertinnen für den Gesundheitsnotstand und 9 dagegen. Am Schluss schuf WHO-Direktor Tedros Ghebreyesus den Präzedenzfall und erklärte trotz fehlendem Konsens den Affenpocken-Ausbruch zur Notlage. Diese höchste Alarmstufe existiert offiziell seit 2007. Die WHO traf zum siebten Mal in ihrer Geschichte und zum ersten Mal seit Beginn der Covid-Pandemie diesen Entscheid.
Das heisst noch lange nicht, dass die Affenpocken gerade das Tor zur nächsten Pandemie auftreten. Dem Affenpockenvirus fällt es bisher deutlich schwerer als Sars-CoV-2, Menschen anzustecken. Enger Körperkontakt gilt bisher als Hauptroute. Besonders in den Pusteln findet sich viel Virus. Eine Infektion ist aber auch über Tröpfchen, Körperflüssigkeiten und Kontakt mit kontaminiertem Material, zum Beispiel Bettwäsche, möglich. Meist gelangt das Virus «über kleinste Hautverletzungen sowie alle Schleimhäute» in den Körper, wie das Robert-Koch-Institut schreibt. Auch Personen (noch) ohne Ausschlag können ansteckend sein, bis sie vollständig genesen sind.
Eine Übertragung über Aerosole, also kleinste schwebende Viruspartikel, scheint nach allem, was wir bisher wissen, kaum eine Rolle zu spielen. Was aber nicht heisst, dass sie komplett ausgeschlossen ist: Die WHO hält eine Infektion durch Aerosole «über kurze Distanz» für möglich, verschiedene Expertinnen sehen das ähnlich. Sie betonen aber auch: Dass das Virus über die Luft grössere Distanzen zurücklegen kann – so wie Sars-CoV-2 – sei unwahrscheinlich.
«Die beiden Viren sind wirklich komplett anders. Bei den Übertragungswegen wie bei den Symptomen. Wir können sie nicht vergleichen», sagt Nicola Low, Professorin für Epidemiologie an der Universität Bern und Vizevorsitzende des Expertenkomitees der WHO. Das zeigt sich schon beim Grundgerüst: Das Affenpockenvirus ist ein doppelsträngiges DNA-Virus, kein einsträngiges RNA-Virus wie Sars-CoV-2. Es mutiert, wie das für Viren dieser Art typisch ist, im Vergleich also deutlich langsamer. Und was haben wir die letzten zweieinhalb Jahre gelernt? Mutationen können echte Gamechanger sein, im Guten wie im Schlechten.
Apropos Mutationen: Auch wenn sich das Affenpockenvirus langsamer verändert, so verändert es sich doch schneller als erwartet. Forscher in Portugal haben bei 15 Infizierten das Virusgenom analysiert und Verbindungen zum Ausbruch von 2017 in Nigeria festgestellt. Aber auch deutlich mehr Mutationen, als seither zu erwarten gewesen wären.
Das kann verschiedene Dinge bedeuten. Zum Beispiel, dass sich das Virus unter dem Radar der Behörden schon länger verbreitet. Oder dass die Evolution gerade aufs Gaspedal drückt. Was diese Mutationen für die Fitness des Virus bedeuten, wissen wir (noch) nicht. Auch wenn Forscher das Affenpockenvirus vor 50 Jahren das erste Mal im Menschen entdeckt haben, stecke die genetische Forschung «noch in den Kinderschuhen», sagt der britische Wissenschaftler Hugh Adler, der Affenpocken-Patienten in England behandelt. Dass sich die Krankheit verschlimmere, habe er bisher nicht festgestellt.
Allgemein scheint eine Infektion mit dem Virus bei den meisten Menschen – auch wenn die Erkrankung sehr schmerzhaft sein kann – bis jetzt glimpflich zu verlaufen. Seit Jahresbeginn sind laut Angaben der WHO weltweit 12 Menschen gestorben, 4 in Nigeria, 2 in der Zentralafrikanischen Republik, 2 in Spanien und je 1 Person in Brasilien, Peru, Ghana und Indien. Bei früheren Ausbrüchen in Afrika wurde bei der Virusvariante, die nun weltweit zirkuliert, eine Sterblichkeitsrate von 1 Prozent festgestellt. Wobei länderübergreifende Vergleiche hier immer schwierig sind, je nach Gesundheitssystem und behördlicher Aufmerksamkeit können die Unterschiede gewaltig sein.
Die bisher grösste Studie zum momentanen Ausbruch, für die die Autorinnen aus 16 Ländern über 500 Fälle analysierten, führte Erstaunliches zutage. So haben sich die Infizierten gemäss den klinischen Angaben fast ausschliesslich beim Geschlechtsverkehr angesteckt.
Ob der Hautkontakt schuld war oder ob das Virus sich auch über Samenflüssigkeit überträgt (womit Affenpocken zu einer sexuell übertragbaren Krankheit würden), wird zurzeit noch untersucht.
Nur ein Viertel der Fälle hatte bewusst Kontakt mit einem Infizierten. Fast alle zeigten zudem den typischen pustelartigen Ausschlag. Dieser tritt erfahrungsgemäss einige Tage nach ersten Symptomen wie Fieber oder Muskelschmerzen auf. Die Krankheit ähnelt zu Beginn häufig einer leichten Grippe. Meist dauern die Symptome zwischen 2 und 4 Wochen. Zwischen Infektion und Ausbruch der Symptome, Inkubationszeit genannt, lagen bei den untersuchten Fällen 3 bis 20 Tage, im Mittel waren es 7.
Bis auf eine Trans- oder nicht binäre Person waren die Patienten in der Studie allesamt männlich, und beinahe alle definierten sich als schwul. Auch wenn das Virus ausserhalb Afrikas zurzeit fast ausschliesslich bei Männern zirkuliert, die Sex mit Männern haben: Jeder oder jede kann sich mit dem Affenpockenvirus anstecken. Kinder, Schwangere und ältere Menschen haben ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf.
Ganze 13 Prozent der Infizierten wurden laut der erwähnten Studie hospitalisiert, meist wegen Schmerzen oder weil sie zusätzlich eine bakterielle Infektion erlitten. Zu schwerwiegenden Komplikationen kam es nur vereinzelt. 5 Prozent der Erkrankten behandelten die Ärztinnen mit Therapien spezifisch gegen Affenpocken.
Was in dieser Sache zum wichtigsten Punkt führt: Können wir eine Erkrankung behandeln und, noch wichtiger, verhindern?
Impfen, impfen, impfen
Auch hier zeigen sich fundamentale Unterschiede zu Sars-CoV-2: Wir haben Medikamente wie den antiviralen Wirkstoff Tecovirimat, der sich in Laborstudien vielversprechend zeigt. Und wir haben Impfstoffe, und das schon ziemlich lange.
Die wurden zwar gegen Pocken entwickelt, sollen aber gemäss WHO, die sich auf Studien aus den 1980ern stützt, zu 85 Prozent auch vor Affenpocken schützen.
Obwohl die Pocken seit 40 Jahren ausgerottet sind, ging das behördliche Interesse an den Impfstoffen nie ganz verloren. Mit den Affenpocken hat das wenig zu tun. Vielmehr mit wissenschaftlichen Instituten, die am Pockenvirus forschen. Und mit Regierungen, die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 fürchteten, das Virus mit einer gewaltigen Sterblichkeitsrate von 30 Prozent könnte in die falschen Hände geraten.
Auch die Schweiz verfügt, gemäss Angaben des BAG, über genug Pockenimpfstoff, um notfalls die gesamte Bevölkerung zu impfen. Es handelt sich dabei jedoch um Impfstoff der ersten Generation, produziert im Jahr 1973, wie die Armee auf Nachfrage der Republik meldet. Bei diesem wird ein artverwandtes Virus gespritzt, das milde Symptome verursacht und dafür gegen den Pockenerreger immun macht. Weil sich das gespritzte Virus im Körper vermehren kann, kann es jedoch besonders bei Menschen mit unterdrücktem Immunsystem oder spezifischen Hauterkrankungen in seltenen Fällen zu Komplikationen kommen, die schlimmstenfalls, konkret bei ungefähr 1 bis 2 Personen von einer Million, tödlich enden.
Glücklicherweise gibt es inzwischen Impfstoff der dritten und jüngsten Generation, der nochmals deutlich sicherer und verträglicher ist. Gespritzt bis zu 4 Tage nach Kontakt mit einer infizierten Person, kann er noch eine Erkrankung verhindern, danach immerhin die Symptome abschwächen.
Der Impfstoff unter dem Namen Imvanex (in den USA: Jynneos), der in zwei Dosen verabreicht wird, ist zurzeit heiss begehrt: Zahlreiche Staaten sowie die EU haben in den letzten Wochen mit dem deutsch-dänischen Hersteller Bavarian Nordic Deals geschlossen, um besonders gefährdete Personen impfen zu können. So wie das die WHO und zahlreiche Wissenschaftlerinnen raten.
Die USA, die die Entwicklung des Impfstoffes unterstützt haben, sollen bis Mitte 2023 in mehreren Chargen gesamt fast 7 Millionen Dosen erhalten. Grossbritannien hat bis jetzt über 120’000 Dosen bestellt. Deutschland will 240’000 Dosen bekommen, unabhängig von der EU-Kommission, die über 160’000 Dosen an die Mitgliedsländer verteilen will.
Und die Schweiz? Man prüfe eine Beschaffung, meldet das BAG seit Ende Mai. Die Gründe für das Ausharren sind dabei komplizierter, als es zunächst den Anschein macht. Die Herstellerfirma sei nur bereit, grössere Mengen zentral zu liefern, sagt das BAG, und bestätigt damit eine Recherche von «Watson». Gespräche mit Bavarian Nordic blieben gemäss der «NZZ am Sonntag» bisher erfolglos. Ein Zulassungsgesuch in der Schweiz sei nicht geplant, meldete das Unternehmen Ende Juni.
Risikofaktor Tier
Es sei wirklich wichtig, dass sich das rasch und dauerhaft ändere, sagt Epidemiologin Nicola Low. Und ist damit keineswegs allein. Das Impfen von gefährdeten Personen gilt zwar nicht als einziges, aber doch auf lange Sicht als wirksamstes und akzeptabelstes Mittel im Kampf gegen das Affenpockenvirus. In den USA warnen Wissenschaftlerinnen: Die Zeit, in der sich das Virus noch eindämmen lässt, läuft ab.
Je länger das Affenpockenvirus in dem Ausmass zirkuliert, desto grösser ist zudem die Gefahr, dass sich Tiere infizieren und der Erreger von dort aus immer wieder auf Menschen überspringen kann. Wer das verhindern wolle, müsse den Ausbruch unter den Menschen in den Griff bekommen, sagte kürzlich die amerikanische Krankheitsökologin Barbara Han.
Eine solche Infektion von Mensch zu Tier wurde bei Affenpocken bis heute noch nie beobachtet – zum Glück. Die Prävention und Kontrolle der Ausbreitung bei Menschen ist schon Challenge genug. Bei Tieren wird es jedoch schnell zu einem Ding der Unmöglichkeit. «Dann ist es wahrscheinlich nicht mehr möglich, das Virus zu eliminieren», sagt Nicola Low. Zumal wir nicht wissen, welche Tiere als Wirt infrage kommen. In West- und Zentralafrika scheinen bisher vor allem Nagetiere ein Problem zu sein. Aber in Europa?
Am Ende ist die Gleichung einfach: Je mehr Fälle, desto höher die Risiken. Das Risiko einer Infektion von Mensch und Tier. Das Risiko einer ungünstigen Mutation. Und das Risiko, dass sich das Virus auch bei uns längerfristig einnistet, immer wieder zu grösseren Ausbrüchen führt und zu einem Wegbegleiter wird, auf den wir alle verzichten können.
In einer früheren Version haben wir die Übertragung durch Aerosole stark verkürzt beschrieben. Wir haben die Stelle ergänzt, um das Thema umfassender abzuhandeln. Und wir haben den Hinweis auf eine Recherche von «Watson» unterlassen, das haben wir korrigiert.