

Wer will die Lex Matter?
Mit der Verrechnungssteuer und der AHV-Vorlage stehen komplexe und drängende Abstimmungsentscheide an. Man kann nur den Kopf schütteln darüber, wie sie aufgegleist wurden.
Von Daniel Binswanger, 06.08.2022
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Allmählich ist in der Schweiz der Boden des Sommerlochs erreicht – und am Horizont zeichnen sich bereits die Volksabstimmungen vom September ab. Es ist ein seltsamer Urnengang, auf den wir uns da zubewegen, ein wirklich verblüffendes Resultat des Schweizer Gesetzgebungsprozesses. Gerade wird sehr eifrig darüber geredet, wie handlungsunfähig und dysfunktional die heutige Landesregierung geworden sei. Wer die kommenden Abstimmungsvorlagen anschaut, kann jedoch nur zum Schluss kommen: Das Parlament toppt das locker.
Wenn wir einmal von der Massentierhaltungsinitiative absehen, muss man die zur Abstimmung kommenden Verfassungs- und Gesetzesänderungen als radikale Antithese zur Staf-Vorlage von vor nur drei Jahren betrachten.
Sie erinnern sich? Das «Bundesgesetz über die Steuerreform und die AHV-Finanzierung» (Staf) war umstritten und in vielerlei Hinsicht durchaus angreifbar. Dennoch stellte es einen erfolgreich ausgehandelten Kompromiss dar, der es schaffte, sowohl links wie rechts eine Mehrheit der Bürgerinnen an Bord zu holen und durch die eigentlich sachfremde Verknüpfung zweier Politikfelder in den beiden so zentralen wie heftig umkämpften Dossiers der Rentenreform und der Unternehmenssteuerpolitik einen breit akzeptierten Fortschritt zu erzielen. Das Rezept dafür war knifflig umzusetzen (und nicht über jeden Zweifel erhaben), aber die politische Methode der Kompromissfindung bestach durch ihre biblische Schlichtheit: Alle machten Konzessionen – und alle bekamen etwas dafür.
Die SP zeigte sich bereit, die Unternehmenssteuerreform mitzutragen, und konnte dafür aushandeln, dass zur weiteren Sicherung des heutigen Rentenniveaus nicht nur die Bundesbeiträge, sondern auch die AHV-Lohnabzüge um 0,3 Prozentpunkte erhöht wurden. Das war eine grosse Konzession der bürgerlichen Seite – und eine Massnahme, die einen starken umverteilenden Effekt von den hohen zu den tiefen Einkommen hat. Im Gegenzug akzeptierte die Linke die Unternehmenssteuersenkungen, die vornehmlich Kapital- und Aktienbesitzern zugutekamen und primär das obere Vermögens- und Einkommenssegment begünstigten. Es gab auch Gründe, diese Vorlage kritisch zu betrachten, aber das war vernünftige Politik.
Und heute? Wieder kommen gleichzeitig eine Steuer- und eine Rentenvorlage zur Abstimmung – wenn auch diesmal nicht direkt verknüpft –, aber von Ausgleich und politischer Vernunft spürt man keinen Hauch. Das gilt sowohl für die AHV- als auch für die Verrechnungssteuerreform.
Eigentlich ist unbestritten, dass die AHV zusätzliche Finanzmittel braucht und dass über kurz oder lang – nur schon aus banalsten Gründen der Gleichstellung – das Rentenalter von Männern und Frauen angeglichen werden sollte. Diese Tatsachen sind breit akzeptiert – und könnten auch der Ausgangspunkt sein für einen guten Kompromiss. Von Kompromiss ist aber nichts zu sehen.
Diesmal werden die zusätzlichen Mittel ausschliesslich durch eine Mehrwertsteuererhöhung erbracht, die degressivste aller Finanzierungsquellen. Keine zusätzlichen Lohnabzüge, keine steuerliche Zusatzfinanzierung durch den Bund, keine Kostendeckung mit ausgleichendem Effekt. Mit der Erhöhung des Rentenalters für Frauen schliesslich wird diejenige Hälfte der Bevölkerung, die im Schnitt die viel, viel schlechtere Altersabsicherung hat, einseitig mit einem zusätzlichen Leistungsabbau belastet. Kann man machen. Aber wo ist das Gegengeschäft? Wo ist der Beitrag der viel besser abgesicherten Bevölkerungshälfte? Wo ist der Sonderbeitrag der oberen Einkommensschichten? Die neue AHV-Reform ist eine Umverteilung, die nur in eine Richtung geht: von unten nach oben. Die Schwachen tragen die Last.
Noch befremdlicher ist die Verrechnungssteuerreform. Anstatt als Gegengeschäft zum AHV-Deal zu funktionieren, ist die Fiskalvorlage diesmal eine atemberaubende Übersteigerung seiner Unausgewogenheit. Eigentlich hätte es auch hier sehr gute Voraussetzungen für einen vernünftigen Kompromiss gegeben – und der Bundesrat hat über lange Jahre auf genau einen solchen Kompromiss hingearbeitet. Zu guter Letzt jedoch waren alle Anstrengungen umsonst: Die bundesrätliche Vorlage wurde im Nationalrat erfolgreich kaputtlobbyiert – und in wesentlichen Aspekten in ihr exaktes Gegenteil verkehrt.
Es ist eine alte Klage des Finanzplatzes, dass das Geldmarktgeschäft mit Anleihen und Fonds in der Schweiz sehr unterentwickelt ist, weil die Stempelsteuer und die Verrechnungssteuer die Emission und den Handel mit Obligationen hierzulande unattraktiv machen. Das ist ein Problem für Schweizer Konzerne, die sich über die Ausgabe von Anleihen Kapital beschaffen wollen und gezwungen sind, dies im Ausland über ihre Tochterfirmen zu tun (in der Regel in Luxemburg oder London), um zu guten Konditionen Investoren zu finden.
Allerdings, trotz aller Klagen, hat die Schweizer Wirtschaft mit der unvorteilhaften Obligationenbesteuerung eigentlich immer gut gelebt. Es sind ohnehin nur grosse Konzerne, die sich statt über Bankkredite über Unternehmensanleihen Kapital beschaffen, und die Emission im Ausland hat auch einen nicht zu unterschätzenden Vorteil: Schweizer Investorinnen haben mit dem heutigen Verrechnungssteuermodell keinerlei Probleme, ihre Einkünfte aus ausländischen Obligationen vor dem Fiskus zu verstecken. Die Verrechnungssteuer wird nämlich nur dann fällig, wenn das Unternehmen, das die Anleihen ausgibt, in der Schweiz domiziliert ist. Bei ausländischen Titeln entfällt sie. Darüber, ob die Schweizer Steuerzahlerinnen die ausländischen Zinsen, die auf ihr Schweizer Konto fliessen, dem Fiskus dann auch als Einkommen deklarieren, können wir lediglich spekulieren.
Ein wirkliches Problem mit dem Schweizer Modell bekam die Finanzindustrie erst mit der Finanzkrise. Zur Sicherung des Finanzsystems wurden den systemrelevanten Grossbanken damals hohe Eigenkapitalforderungen aufgebürdet, was das Bankgeschäft weniger profitabel machte. Etwas Abhilfe schufen da die Coco-Anleihen, sogenannte contingent convertible bonds, die für Anleger attraktiv sind, weil sie wie normale Obligationen einen festen (relativ hohen) Zins garantieren; die aber, wenn der Emittent in eine Schieflage gerät, in Aktien gewandelt werden und deshalb von den Regulierungsbehörden als Eigen- und nicht als Fremdkapital betrachtet werden. Das ist für die Banken, die heute hohe Eigenmittelforderungen erfüllen müssen, sehr vorteilhaft – weshalb für die Sanierung des Finanzsystems nach der grossen Krise stark auf Cocos gesetzt wurde.
In der Schweiz gab es da aber ein Problem: Cocos können nicht über ausländische Tochterfirmen ausgegeben werden. Damit die Zwangswandlung im Krisenfall funktioniert, muss dies im Sitzland des Mutterhauses geschehen. Schon im Jahr 2011 wurde deshalb für Cocos eine Ausnahmeregelung geschaffen, damit eine Emission dieser besonderen Titel auch hierzulande steuerbefreit möglich wird. Der Bundesrat hielt jedoch schon damals fest, dass eine Verzerrung des Obligationenmarktes zugunsten der Grossbanken volkswirtschaftlich schädlich sei, weshalb alle Anleihen derselben Fiskalregelung unterstellt werden sollten und das ganze Verrechnungssteuersystem reformiert werden müsse.
Diese bereits 2011 angeschobene Reform kommt heute endlich zur Abstimmung. Inzwischen aber ist sie zur Unkenntlichkeit entstellt.
Denn was der Bundesrat ganz und gar nicht wollte, war eine simple Abschaffung der Verrechnungssteuer auf Anleihen. Er sprach sich dezidiert dagegen aus, weil die Verrechnungssteuer eine Sicherungsfunktion hat, das heisst, sie stellt sicher, dass die Bürger ihre Zinserträge versteuern und nicht hinterziehen. Der eigentliche Zweck der Verrechnungssteuer ist ja die Verhinderung von Steuerhinterziehung. Wer seine Zinseinkommen als Einkommen ehrlich deklariert, kann sie schliesslich zurückfordern. Diese Sicherungsfunktion wollte der Bundesrat zu keinem Zeitpunkt abschaffen. Im Gegenteil: Er erkannte Handlungsbedarf und wollte sie verstärken.
Das hätte geschehen sollen durch den Übergang vom sogenannten Schuldner- auf das sogenannte Zahlstellenprinzip. Heute führen die Schuldner, das heisst die Firmen, welche die Anleihen herausgeben und die Zinszahlungen entrichten, die Verrechnungssteuer ab. 65 Prozent der fälligen Zinsen zahlen sie an die Inhaber der Anleihen, 35 Prozent direkt an die Eidgenössische Steuerverwaltung. Beim Zahlstellenprinzip hingegen hätten die Banken, in deren Depots die Anleihen liegen, die Zahlung an die Steuerverwaltung machen müssen. Das hätte zwei wesentliche Veränderungen mit sich gebracht: Erstens wären auch ausländische Anleihen für Schweizer Bürgerinnen verrechnungssteuerpflichtig geworden. Zweitens wären ausländische Inhaber von Schweizer Anleihen, die sie nicht bei einer Schweizer, sondern bei einer ausländischen Bank deponiert haben, von der Verrechnungssteuer befreit worden.
Der Effekt wäre ein doppelter gewesen: Der Schweizer Geldmarkt wäre für ausländisches Kapital sehr viel attraktiver geworden. Die Eidgenossenschaft hätte alle fiskalischen Forderungen gegenüber ausländischen Investoren aufgegeben – und im Gegenzug hätten die Schweizer Konzerne sich zu guten Konditionen auch im Inland internationales Kapital beschaffen können. Es hätte die sehr unschöne Folge gehabt, dass Investoren beispielsweise aus Russland oder Dubai dann fiskalisch ungeschoren davongekommen wären – aber es hätte den Schweizer Anleihenmarkt konkurrenzfähig gemacht. Und im Gegenzug hätten die Verteidiger der Steuerehrlichkeit auch etwas bekommen: In der Schweiz domizilierte Investorinnen hätten ein Hinterziehungsschlupfloch verloren. Es hätte nicht mehr die Möglichkeit gegeben, die Erträge aus ausländischen Obligationen risikolos am Fiskus vorbeizuschummeln. Zum einen dynamischere Kapitalmärkte – zum anderen eine bessere inländische Steuerdisziplin. Das wäre kluge Politik gewesen. Eine Politik, in der sich links und rechts hätten wiederfinden können.
Was der Bundesrat deshalb zurückwies, war die simple Abschaffung der Verrechnungssteuer für Obligationen. Schon 2011 erklärte er: «Die Befreiung der Cocos von der Verrechnungssteuer (…) könnte sich negativ auf die Steuermoral auswirken.» Zur Vernehmlassungsvorlage aus dem Jahr 2014, die das Zahlstellenprinzip ins Zentrum stellte, hiess es: «Dank der Reform kann die Steuer auch ihre Sicherungsfunktion besser wahrnehmen.» Einem Strategiepapier des «Beirats Zukunft Finanzplatz», eines Beratungsgremiums des Bundesrats, als dessen Leiter der des linken Übereifers relativ unverdächtige Aymo Brunetti eingesetzt wurde, war im April 2018 zu entnehmen, dass die Verrechnungssteuerreform darauf abziele, «die steuerlichen Rahmenbedingungen für den Kapitalmarkt Schweiz zu verbessern. Gleichzeitig sollte der Sicherungszweck der Verrechnungssteuer im Inland gestärkt werden.»
In einem Artikel vom April 2020, der von zwei Expertinnen aus Ueli Maurers Eidgenössischer Steuerverwaltung in der «Volkswirtschaft» publiziert wurde, steht die glasklare Ansage bereits in Titel und Lead: «Reform der Verrechnungssteuer: Bundesrat stärkt Fremdkapitalmarkt und Sicherungszweck». Die Verrechnungssteuerreform schliesse «Sicherungslücken und setzt Impulse für steuerehrliches Verhalten».
So weit die hehren Absichten. Und was steht jetzt im fertigen Gesetz? Das diametrale Gegenteil. Ganz plötzlich ist der «Sicherungszweck» – ein Kernanliegen der ganzen Reform – vollkommen überflüssig geworden. Das ursprüngliche Vorhaben, auf Zinserträgen eine Verrechnungssteuer nach einem besseren System zu erheben, hat sich gewandelt in deren simple Abschaffung. Ursprünglich ging es darum, eine Lücke im Dispositiv der Steuersicherung zu schliessen. Jetzt ist stattdessen das Dispositiv liquidiert worden.
In der Botschaft zum fertigen Gesetz vom April 2021 ist von der Steuersicherung als Ziel der Vorlage plötzlich rein gar nichts mehr zu lesen. Stattdessen wird nun mit einem Mal versichert, der Effekt auf die Steuerhinterziehung werde «gering ausfallen». Offenbar haben die Landesregierung, die Schweizer Steuerverwaltung, die hochkarätigen Expertengruppen des Bundes während zehn geschlagenen Jahren blanken Unsinn erzählt. Sie scheinen ein Problem erfunden zu haben, das gar nicht existiert!
Wie kann ein so mirakulöser Umschwung ganz unverhofft zustande kommen? Die Steuerhinterziehungslobby des Parlaments ist aktiv geworden. SVP-Nationalrat Thomas Matter wollte ja sogar die Verfassung ändern, um für alle Zeiten sicherzustellen, dass Steuerhinterzieher in der Schweiz niemals etwas zu fürchten haben werden. Seine Initiative – die auch der Grund dafür war, weshalb die Verrechnungssteuervorlage jahrelang verschleppt wurde – hat er zwar schliesslich zurückgezogen, aber der inländische automatische Informationsaustausch wurde erfolgreich verhindert. Die Schweizer Behörden haben weiterhin praktisch keine Handhabe, begüterte Bürgerinnen zu Steuerehrlichkeit zu zwingen (nur bei Lohnempfängerinnen ist das völlig anders). Im Gegenteil: Dank der Verrechnungssteuerreform werden jetzt für Kapitaleigner die Möglichkeiten, den Staat zu betrügen, noch einmal luxuriös erweitert.
Bezeichnenderweise unterstützten ursprünglich weder die Grossbanken noch Economiesuisse dieses Vorhaben. 2015 sprachen sich sowohl die Bankiervereinigung als auch der Wirtschaftsdachverband für ein Meldesystem zur Sicherstellung der Versteuerung von Zinseinnahmen aus. Die Zahlstellensteuer wollten zwar auch die Banken nicht, weil sie grossen administrativen Aufwand gebracht hätte. Aber sie hätten die Beträge an die Steuerverwaltung melden wollen. Die Wirtschaft plädierte für ein Meldesystem, ganz einfach deshalb, weil es eine effiziente, billige und faire Lösung gewesen wäre. Es war die Lösung, welche die Kräfte, denen es um die Zukunft des Finanzplatzes ging, ursprünglich favorisierten.
Doch jetzt hat sich die zähe Lobbying-Truppe von Schwarzgeldwirtschaft und Hinterziehung, eine bizarre parlamentarische Allianz von Gewerbevertretern, Treuhänderinnen, Wirtschaftsanwälten und einem ganz bestimmten, relativ kleinen Segment der Privatbanken, mal wieder durchgesetzt. Economiesuisse und die Bankiervereinigung haben inzwischen gekuscht. Die Hinterziehungslobby ist stärker als die Grossbanken. Sie ist stärker als der Bundesrat. Das ist nicht das Gesetz der Schweizer Landesregierung. Es ist die Lex Matter.
Wer daran glaubt, dass die Schweizer Fiskalpolitik wenigstens einigermassen fair sein und dem Wohl der Wirtschaft statt dem Wohl von ganz bestimmten Sonderinteressen dienen sollte, der wird die Lex Matter ablehnen. Nicht weil kein Handlungsbedarf bestünde, sondern weil Regierungshandeln nötig wäre. Er wird darauf bestehen, dass die ebenfalls sehr dringende AHV-Reform die Opferlasten vernünftig verteilt. Mit der Fähigkeit zu vernünftigen Kompromissen verlieren wir zunehmend die Fähigkeit zu vernünftiger Politik. Trotz der destruktiven Rivalitäten im Bundesrat ist der Brennpunkt dieser bedrohlichen Entwicklung das Parlament.
Der Schweizer Souverän muss deutlich machen, dass er diese Entwicklung nicht akzeptiert.
Illustration: Alex Solman