Serie «Gegen den Hunger» – Teil 1

Untitled (from LEBENSMITTEL), 2006-2010/Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt

Wieso müssen Menschen hungern?

Die Welt schlittert in eine Nahrungs­krise. Nicht nur wegen des Kriegs, auch weil die Kluft zwischen dem globalen Ernährungs­system und Milliarden von Menschen, für die es angeblich geschaffen wurde, jeden Tag grösser wird. Denn Nahrung gibt es an sich mehr als genug. Teil 1 der Miniserie «Gegen den Hunger».

Von Elia Blülle, 22.07.2022

Vorgelesen von Patrick Venetz
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Was ist Hunger?

Richtiger Hunger.

Nicht der Ich-habe-kein-Frühstück-gegessen-kurz-vor-Mittag-Hunger.

Djoen Besselink formt mit Daumen und Zeigefinger einen engen Kreis, steckt die Hand in die Webcam und sagt: «Das ist Hunger!»

Besselink, ein 37-jähriger Niederländer mit vielen Tattoos, koordiniert von der kenianischen Hauptstadt Nairobi aus die Einsätze von Ärzte ohne Grenzen im Nachbarland Somalia. Die Mediziner vor Ort messen die Oberarme von Kindern zwischen 1 und 5 Jahren mit sogenannten MUAC-Bändern. Ein Schnelltest, der aussieht wie ein papierener Kabelbinder. Das Band wird am Oberarm festgezurrt; misst es weniger als 11 Zentimeter – das entspricht ungefähr dem Umfang von einem Fünffranken­stück –, gilt das Kind als akut unterernährt. MUAC steht für Mid-Upper Arm Circumference. Auf Deutsch: Mittlerer-Oberarm-Umfang.

Seit einiger Zeit vermessen die Ärzte wieder besonders viele dünne Oberarme.

«Die Menschen sind so hungrig, sie essen die Blätter von Pflanzen, die man definitiv nicht essen sollte», erzählt Besselink der Republik im Juni, er arbeitet seit mehr als zehn Jahren in Krisen­regionen. «Die Nomaden flüchten in die Städte, weil die Dürre ganze Viehherden dahinraffte, die zuvor ausreichend Milch und Fleisch lieferten, um ganze Familien zu ernähren.»

Untitled (from LEBENSMITTEL), 2006-2010/Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt

Zu den Bildern

Die Bilder zu diesem Beitrag stammen vom deutschen Fotografen Michael Schmidt und entstanden im Rahmen der Serie «Lebensmittel». Damit dokumentierte er, wie Lebensmittel in der Industrie verarbeitet werden. Seine Bilder stammen etwa von Fischfarmen in Norwegen, Grossbäckereien in Deutschland oder Krabben-Schälbetrieben in Afrika. Die einzelnen Bilder sind sachlich gehalten, erst in Kombination betrachtet soll ein verstörender Eindruck entstehen.

Hunger schleicht sich oft abseits der Weltöffentlichkeit ein. Doch vor den MUAC-Bändern kann er sich nur selten verstecken. In Teilen von Somalia, Äthiopien und Kenia herrscht derzeit die längste Dürre seit 40 Jahren. Drei Regen­zeiten nacheinander sind ausgefallen, die Ernten eingebrochen, Rinder­herden verdursten. Also braucht es mehr Importe. Aber seit Russland die Ukraine überfallen hat, steigen die Lebensmittel­preise so rasant, dass die Menschen noch weiter in die prekäre Armut, in die Hungersnot abrutschen.

Sie verlieren die Kontrolle über ihren Darm. Die Haut schält sich ab, die Haare fallen aus. Sie haben Halluzinationen und erblinden durch den Mangel an Vitamin A. Zu hungern ist quälend und entwürdigend: Der Körper beginnt die eigenen Muskeln zu verzehren – und letztlich sogar das Herz.

«Wir müssen die Lage sofort in den Griff bekommen», warnte David Beasley, Leiter des Welternährungs­programms der Vereinten Nationen, bereits im Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Viele Regionen schlittern in eine Nahrungskrise, die gekommen ist, um zu bleiben – weit über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine hinaus.

Die Gründe dafür vermengen sich: regionale Konflikte, korrupte Regierungen, extreme Unwetter, Armut und zerrüttete Lieferketten.

Doch das ist nur die Oberfläche.

Serie «Gegen den Hunger»

Dürren, Krieg, Klimawandel – die Welt schlittert in eine Hungerkrise. Eine Krise mit Ansage, denn längst ist bekannt: Das Problem ist nicht die Produktion, sondern die Verteilung. Es ist höchste Zeit für ein neues Ernährungssystem. Zur Übersicht.

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Wieso müssen Menschen hungern?

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Hinter einem Gewächshaus der ETH Zürich, mitten in der Stadt, listet Johanna Jacobi in ihrem Büro auf, wer alles vor jener Situation gewarnt hat, die sich gerade entwickelt. Die 39-jährige Professorin forscht zu agrar­ökologischen Transitionen. Sie ärgert sich über den «extremen Reduktionismus», mit der die aktuelle Debatte gerade geführt werde.

«Unsere Ernährungs­systeme sind schon lange verwundbar. Der russische Krieg in der Ukraine, die Klimakrise und die Liefer­engpässe lassen die Probleme jetzt nur deutlicher zum Vorschein kommen», sagt Jacobi. «Allerspätestens der Weltagrar­bericht 2008 hätte uns alle aufrütteln sollen.»

Mehr als 400 Wissenschaftlerinnen fassten damals im Auftrag der Weltbank und der Vereinten Nationen die Forschung zum Ernährungssystem zusammen.

Ihr Fazit: Machen wir weiter wie bisher, drohen mehr Biodiversitäts­verluste, mehr Treibhausgas­emissionen und mehr Hungersnöte.

Weltweit nimmt der Anteil hungernder Menschen wieder zu

Eine Person gilt als unterernährt, wenn die eingenommenen Kalorien über einen längeren Zeitraum den Nährstoffbedarf nicht decken können.

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Quelle: Food and Agriculture Organization

Dabei hatte es vorher lange danach ausgesehen, als müsste bald niemand mehr hungern.

Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte es sich, wie Menschen Nahrung produzierten. Neue Anbau­methoden, Dünger, Pestizide und Maschinen holten alles aus dem Boden, was er hergab. Heute produziert die Land­wirtschaft mehr Getreide, mehr Früchte, mehr Fleisch und mehr Gemüse als je zuvor. Ein Schlaraffenland. Ende der 1960er-Jahre sprach der damalige Geschäftsführer der US-Entwicklungszusammenarbeit, William Gaud, von einer «Grünen Revolution» und benannte damit eine ganze Epoche.

Gaud dachte, ertragreiche Weizen- und Reis­sorten könnten der unter­entwickelten Welt helfen, sich selbst zu ernähren. Und die Zahlen gaben ihm recht: Im Jahr 1964 produzierte Indien noch 9,8 Millionen Tonnen Weizen. Fünf Jahre später waren es bereits 18 Millionen Tonnen. Diese Ertrags­steigerung in Indien war durch neue und widerstandsfähige Weizensorten ermöglicht worden, die Wissenschaftler in Mexiko unter der Schirm­herrschaft der Ford- und Rockefeller-Stiftung entwickelt hatten; superreiche amerikanische Philanthropen, die sich vornahmen, den Welthunger zu beenden. Eine Vision, die sich in den meisten Teilen der Welt tatsächlich erfüllte.

Untitled (from LEBENSMITTEL), 2006-2010/Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt
Untitled (from LEBENSMITTEL), 2006-2010/Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt

1950 starb weltweit im Schnitt jedes vierte Kind vor dem fünfzehnten Lebensjahr.

Heute trifft es nur noch jedes fünfundzwanzigste Kind – eine Verbesserung, die neben der Medizin auch der modernen Landwirtschaft und dem globalen Handel zu verdanken ist.

Allerdings hatte die grüne Revolution einen entscheidenden Nachteil: Sie frass, wie viele andere Revolutionen zuvor, ihre eigenen Kinder. Denn je mehr Getreide die Landwirte anbauen konnten, desto schneller fielen die Preise.

«Die Produktivität der amerikanischen Landwirte war ihr eigener ärgster Feind», schreibt der amerikanische Journalist Michael Pollan, der sich auf Fragen um Nahrungsmittel und Ernährung spezialisiert hat. Um die fehlenden Einnahmen zu kompensieren, mussten die Landwirtinnen immer mehr produzieren, was wiederum die Preise nach unten drückte.

Ein Teufelskreis.

Für die meisten kleinen Bauern war das ein Desaster. Viele gingen pleite. Vor allem in den USA sprangen industrielle Gross­konzerne ein, die sich Farm um Farm einverleibten. Gleichzeitig gewannen die Verfechter der Laissez-faire-Wirtschaft an Einfluss – und diese sahen nicht, warum die Landwirtschaft anders behandelt werden sollte als andere Wirtschafts­zweige. Sie höhlten staatliche Landwirtschafts­programme aus, die einst ins Leben gerufen worden waren, um die Produktion zu begrenzen und die Preise zu stützen.

In der Folge sanken die Preise noch weiter, und die US-Landwirtschaft landete endgültig in einer strukturellen Überproduktion. Die Landwirtinnen ernteten viel mehr, als die Menschen assen. Anstatt aber das Angebot entsprechend anzupassen, generierte und fand die Industrie neue Absatz­märkte – zum Beispiel verarbeitete Nahrung wie Frühstücks­flocken oder Futter für die Abermillionen von hoch­gezüchteten Schlachttieren.

Mit dem Getreide, das dann noch übrig blieb, fluteten sie den Weltmarkt.

Industrienationen wie die Schweiz schützten ihre Bauern mit Importzöllen und Subventionen vor der billigen Ware aus dem Ausland. Doch die ärmeren und verschuldeten Entwicklungs­länder öffneten ihre Schleusen. Sie mussten.

Als sich Clinton entschuldigte

In den 1980er-Jahren zwangen die Weltbank und der Internationale Währungsfonds Dutzende Entwicklungs­länder dazu, Subventionen und Handels­hemmnisse abzubauen, in der Hoffnung, dass so deren Volks­wirtschaft wachsen würde und sie ihre exorbitanten Schulden zurückzahlen könnten. Eine Strategie, die vielerorts scheiterte.

Die Industrienationen wollten die verschuldeten Staaten aufrütteln – und schüttelten dabei deren Landwirtschaft vielerorts in die Bewusstlosigkeit.

Ein besonders tragisches Beispiel ist Haiti: Das ärmste Land in der westlichen Hemisphäre war vor 1986 – trotz niedriger Erträge und traditioneller Anbaumethoden – in der Reis­bewirtschaftung noch selbstversorgend. Dann kam die Marktliberalisierung.

Heute importiert Haiti mehr als 80 Prozent des Reises aus den USA. Die bankrotten Bauern zogen von ihrem Land in die überfüllten Städte und verarmten. «Ich verantworte, dass Haiti heute keinen Reis mehr produziert», entschuldigte sich 2010 Bill Clinton, der in den 1990er-Jahren als US-Präsident die Liberalisierungspolitik vorangetrieben hatte. «Für einige Farmer in Arkansas mag das gut gewesen sein, aber es hat nicht funktioniert.»

Lokale – wenn auch unproduktive – Farmen verkümmerten überall auf der Welt, weil die Bauern mit den subventionierten Waren aus Europa und den USA nicht mithalten konnten. Und die neuen ausländischen Investoren richteten jene Land­wirtschaft, die konkurrenzfähig war, auf den Export aus, da sie mit Kaffee und Tee in Europa viel mehr Geld verdienen konnten.

Untitled (from LEBENSMITTEL), 2006-2010/Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt

Die Abhängigkeit von den Importen machen Länder wie Haiti anfällig für Preis­schwankungen, denen sie schutzlos ausgeliefert sind. Sie spüren jeden Schock. Sofort. Als 2008 die Nahrungsmittel­preise enorm anstiegen, marschierten Tausende Demonstrantinnen mit leeren Tellern durch die haitianische Hauptstadt Port-au-Prince und schrien: «Wir sind hungrig

Heute kommen rund die Hälfte aller weltweit erzeugten Nahrungskalorien von nur drei Pflanzenarten: Mais, Reis und Weizen. Das Weissbrot hat gesündere Grundnahrungs­mittel verdrängt. «Aber wie viel Sinn ergibt es, in einem Gebiet, wo Weizenanbau kaum möglich ist, Weissbrot zu essen?», fragt ETH-Professorin Johanna Jacobi. «Die sogenannte Grüne Revolution hat vielerorts nachhaltige Produktions­systeme durch Monokulturen ersetzt – etwa Reis-Hülsenfrüchte-Anbau durch den Weizenanbau in Indien.»

67-mal mehr Umsätze mit Nahrungsmittelexporten als vor 30 Jahren

Globaler Wert aller exportierten Lebensmittel in US-Dollar

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Quelle: World Integrated Trade Solution

Die grüne Revolution und der globale Handel haben die meisten Menschen vom Schicksal befreit, dass ihnen eine Dürre oder Heuschrecken­plage jederzeit die Existenz rauben könnte. Sie haben die Welt resilienter, reicher und glücklicher gemacht – aber auch neue Abhängigkeiten geschaffen.

Fast jede Ebene des Lebensmittel­systems wird von einigen wenigen Unternehmen kontrolliert. Vier Konzerne bestimmen zum Beispiel gemeinsam 70 Prozent des Pestizid- und 60 Prozent des globalen Saatmarkts. Das erlaubt ihnen, die Preise für ihre Produkte selbst in die Höhe zu treiben und kleinere Firmen daran zu hindern, ihre Dominanz zu gefährden.

Eine ähnliche Monopolisierung ist auch auf Länderebene zu beobachten.

Die Ukraine und Russland stellen zusammen etwa 28 Prozent des gehandelten Weizens her, 29 Prozent der Gerste und 75 Prozent des Sonnenblumenöls. Die USA produzieren einen Drittel des Maises.

Bei Turnschuhen oder Kopfhörern mögen solche Konzentrationen keine lebens­bedrohlichen Konsequenzen haben. Bei Nahrung ist das anders.

Der ewige Mythos: Hungersnot = Angebotskrise

Je vernetzter, je globalisierter und je wichtiger ein System ist, desto breiter sollten die Ressourcen und die Macht verteilt sein. Wie schnell sich ansonsten Krisen übertragen, zeigten die letzten Monate beispielhaft.

Die globale Ernährungs­sicherheit hat die Stabilität eines Jenga-Turms im Endstadium – ein, zwei Klötzchen raus, und er fällt in sich zusammen.

In den Docks von Odessa warten gerade Millionen Tonnen Getreide, die nicht exportiert werden können. Der russische Quasidiktator Wladimir Putin lässt die ukrainischen Häfen von seinen Streitkräften blockieren.

Er verfolge damit primär drei Ziele, schreibt Historiker Timothy Snyder:

  1. Die Zerstörung der Ukraine.

  2. Fluchtbewegungen aus Nordafrika und dem Nahen Osten zur Destabilisierung der Europäischen Union.

  3. Hungersnöte als Kulisse für eine Propaganda­kampagne gegen die Ukraine.

Ein teuflischer Plan, der die fehlende Resilienz des Nahrungs­systems schamlos ausnutzt. Ökonominnen warnen seit Jahren vor dieser Gefahr.

Nobelpreisträger Joseph Stiglitz schrieb etwa, die Welt habe die Globalisierung vorangetrieben, als ob Grenzen keine Rolle spielten: «Die Länder bauten Versorgungsketten auf, in denen sie Waren grenz­überschreitend hin und her schieben. Man sagte: Sorgt euch nicht um eure Energie- und Lebensmittel­sicherheit; überlasst die Produktion – auch von lebenswichtigen Gütern – anderen, die das effizienter und besser können.»

All jene, die eine solche Politik propagieren, ignorierten, dass Regierungen jederzeit von irrationalen Führern übernommen werden könnten, die bereit sind, auch dem eigenen Land zu schaden, schrieb Stiglitz 2017 mit beängstigender Weitsicht. Deshalb sei auch das, was jetzt geschehe, vorhersehbar gewesen, kommentierte er kürzlich: «Weil die Märkte derartigen Risiken nicht umfassend Rechnung tragen, wird zu wenig in die Widerstands­fähigkeit investiert. Das erhöht die Kosten für die Gesellschaft.»

Die Klimakrise macht das alles nur noch schlimmer. Im Mai war es in Teilen Indiens so heiss, dass Vögel vom Himmel fielen. Weizenfelder versengten. Noch im April wollte Indien 10 Millionen Tonnen Getreide exportieren, um eine Nahrungskrise zu verhindern. Jetzt gilt ein landesweiter Exportstopp.

Derweil hat der weltweit grösste Weizenproduzent, China, bereits im Frühling angekündigt, die nächste Ernte könnte die «schlechteste in der Geschichte» werden. Die «New York Times» berichtete jüngst, im Osten und Süden des Landes würden Dächer schmelzen, Strassen aufplatzen und einige Menschen suchten Schutz vor der Rekordhitze in unterirdischen Luftschutzbunkern. Und auch in Frankreich, dem grössten EU-Produzenten, drohen als Folge der aktuellen Hitzewelle massive Ernteausfälle.

All das treibt die Preise in die Höhe und trifft arme Menschen überproportional stark. Sie haben kein Erspartes. Jeder Rappen zählt. Essen oder nicht essen? Das ist immer auch eine Frage des Portemonnaies.

Die meisten Hungersnöte der neueren Geschichte waren keine Angebots­krisen, sondern Verteilungs­krisen. Den Mythos der Angebotskrise, der sich ausserhalb der Forschung bis heute hartnäckig hält, hat der Ökonom und spätere Nobelpreisträger Amartya Sen in den 1980er-Jahren beseitigt.

Menschen hungern nicht, weil es zu wenig Essen gibt.

Menschen hungern, weil sie zu wenig Essen haben.

Das Problem ist die Häufigkeit von Nahrungskrisen

So ist es auch heute. Rein theoretisch gäbe es genügend Lebensmittel auf der Welt, um 10 Milliarden Menschen zu ernähren. Die Industriestaaten-Organisation OECD schätzt, dass trotz Krieg und Pandemie genügend Getreide produziert wird, um die Welt­bevölkerung zu versorgen.

Hunger sei kein Problem des Lebensmittel­systems, sagte auch Ökonom Chris Barrett im Juni zur «New York Times». Grosse Nahrungsfirmen könnten jedes noch so entlegene Dorf erreichen, und das sogar ziemlich kosten­effizient. «Das Problem ist nur, dass die Menschen sich das nicht leisten können.»

Anstelle von Früchten und Gemüse kaufen sie dann oft hoch verarbeitete Lebensmittel, die viel Fett und Zucker enthalten, oder billige Grundnahrungs­mittel wie Reis oder Mais. Vor allem bei Säuglingen, die in den ersten beiden Lebens­jahren einseitig oder ungesund ernährt werden, steigt die Wahrscheinlichkeit von psychischem oder physischem Erkranken stark an.

So fressen sich auch kurze Hungerkrisen durch ganze Generationen.

Untitled (from LEBENSMITTEL), 2006-2010/Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt

Jetzt könnte man sagen, ökonomische Schocks seien immer temporär, und die Preise beruhigten sich nach einiger Zeit wieder. Alles halb so schlimm?

Doch das Problem ist nicht nur die Dauer von Nahrungskrisen, sondern vor allem auch ihre Häufigkeit. Es verhält sich wie beim Schlaf: Werden Sie einmal aufgeweckt, hat das kaum Einfluss auf Ihre Schlafqualität. Weckt man Sie aber stündlich immer wieder, sind Sie am anderen Morgen kaputt.

Eine viel zitierte Studie aus dem Jahr 2019 hat Daten aus den letzten 53 Jahren untersucht und festgestellt: Schocks haben in der Lebensmittel­wirtschaft zugenommen und werden noch weiter zunehmen.

Wieso? Weil dem Ernährungs­system gerade alle tragenden Säulen wegbrechen. Um zu verstehen, wieso das Ernährungs­system gerade kippt, stellen wir uns am besten eine Topfpflanze vor. Was braucht die? Wasser, Erde, Samen, Kohlenstoff und vor allem eines: ganz viel Sonne.

Fast alles Leben auf der Erde basiert auf Sonnen­energie. Pflanzen fangen sie ein, speichern sie in Form von Kohlenstoff­molekülen, und in der Nahrungs­kette wird diese Energie dann an Lebewesen weitergegeben, die nicht über die Fähigkeit verfügen, sie aus Sonnenlicht zu synthetisieren.

Essen Sie einen Salat, dann essen Sie im Prinzip gespeicherte Sonnenenergie.

Wirtschaftlich wäre es effizienter, Erdöl direkt zu trinken

Die industrielle Landwirtschaft hat diese Abhängigkeit von der Sonnen­energie aber durch etwas Neues ersetzt: die fossilen Energieträger.

Heute bewirtschaften Bauern 80 Prozent des globalen Ackerlandes intensiv – in Mono­kulturen, mit synthetischem Pflanzenschutz, schweren Maschinen und Stickstoff­dünger, für dessen Herstellung sehr viel Erdgas benötigt wird.

Ein Grund, wieso gerade überall auf der Welt die Nahrungsmittel­preise in die Höhe schnellen, ist auch, dass der russische Krieg in der Ukraine die fossile Energie verteuert. Steigt der Gaspreis, steigen automatisch auch die Nahrungsmittel­preise.

Seit 1960 hat sich der Gebrauch von Stickstoffdünger ungefähr verachtfacht. Aber auch der Transport und die Verarbeitung verschlingen Unmengen an fossiler Energie. Um den durchschnittlichen Nahrungsbedarf einer Schweizerin zu decken, fliesst jährlich fossile Energie mit dem Brennwert von ungefähr 160 Litern Erdöl. Das entspricht etwa drei vollen Autotanks.

Diese Art der Nahrungs­produktion ist schrecklich unökonomisch.

Denn wir stecken viel mehr fossile Energie in unsere Nahrung, als sie uns letztlich zurückgibt. In der Schweiz benötigt die Produktion einer Nahrungs­kalorie im Durchschnitt mehr als das Eineinhalbfache an Energie aus Erdöl und Erdgas. Der bereits erwähnte Autor Michael Pollan schreibt: «Unter dem Gesichtspunkt der industriellen Effizienz ist es eigentlich schade, dass wir das Erdöl nicht einfach direkt trinken können.»

Solange fossile Energie so billig war wie in den letzten Jahrzehnten, ergab der verschwenderische Umgang aus kurzfristiger Perspektive ökonomisch Sinn. Doch langfristig gedacht war das schon immer halsbrecherisch.

  • 40 Prozent der globalen Landflächen sind wegen Übernutzung in einem schlechten Zustand. Im schlimmsten Fall bedeutet das Verwüstung. Und auf Sand lässt sich weder Gemüse noch Mais oder Weizen anbauen.

Gesunde Böden, unendliche Mengen an sauberem Süsswasser, ein stabiles Klima und billige Energie – all das hat die grüne Revolution ermöglicht. Jetzt erleben wir in Echtzeit, was passiert, wenn diese Stützen kollabieren.

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Das war absehbar. Der Krieg in der Ukraine ist nur ein Beschleuniger.

Wieso werden also künftig mehr Menschen hungern? Die Antwort ist letztlich ziemlich banal: Das Nahrungs­system, das angeblich geschaffen wurde, um Milliarden Menschen zu ernähren, zerstört sich gerade selbst.

Mit dem Erdöl in der Landwirtschaft verhält es sich wie mit Doping im Fahrradsport: Würden sich ab morgen alle Athleten leistungs­steigernde Substanzen in die Venen jagen, purzelten schnell alle Rekorde. Es gäbe packende Rennen – bis die Ersten mit Herzinfarkten vom Velo stürzten.

Was tun?

Hier eine Liste mit Ideen, mit denen Regierungen, Verbände und Unternehmen die kommende Nahrungskrise eindämmen wollen:

  • David Malpass, Präsident der Weltbank, forderte die G7 auf, ihre Produktion von Nahrungsmitteln, Energie und Düngemitteln zu steigern.

  • In Brasilien will Präsident Jair Bolsonaro die Suche nach Mineralien im Amazonas­gebiet ausweiten, weil nun die Düngemittel­preise steigen.

All diese Vorschläge haben etwas gemeinsam: Sie wollen die Produktion von Nahrungsmitteln noch einmal steigern. Ist das aber wirklich eine gute Idee?

Im April schrieb die EU-Kommission, die EU sei weitgehend «autark» in der Lebensmittel­versorgung und verfüge über einen «massiven Überschuss». Sorgen mache man sich viel eher um die Erschwinglichkeit von Nahrungsmitteln aufgrund der hohen Marktpreise und der Inflation.

Weder in der Schweiz noch in der EU ist die Nahrungssicherheit in Gefahr.

Unlängst haben Wissenschaftlerinnen, Gesundheits­fachleute und die Vereinten Nationen aufgezeigt, was zu tun wäre, um die Folgen der gegenwärtigen Nahrungskrise für arme Menschen abzufedern.

  • Man müsste die preistreibenden Handelsbeschränkungen auflösen, die 30 Länder seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine eingeführt haben.

  • Es braucht Schuldenerlasse, damit arme Länder die Import­rechnungen bezahlen können und nicht noch tiefer in die Schuldenkrise abrutschen.

  • Temporär sollten Grund­nahrungsmittel oder Gutscheine verteilt werden, mit denen Menschen ausschliesslich gesunde Nahrung kaufen könnten.

  • Organisationen, die das Schlimmste zu verhindern versuchen, gilt es finanziell zu unterstützen. Allein das Uno-Welternährungs­programm – gefeierter Friedens­nobelpreisträger 2020 – hat gemäss eigenen Angaben ein aktuelles Finanzierungs­defizit von 22 Milliarden Dollar. Jüngst musste das Programm seine Essensrationen in Ostafrika um bis zu 50 Prozent verringern, weil die Preise stiegen und Budgetmittel fehlen.

Pragmatische Massnahmen können temporäre Hungersnöte verhindern.

Elisabeth Bürgi Bonanomi, Lehrbeauftragte für Recht und Nachhaltige Entwicklung an der Universität Bern, sagt, die Staaten müssten Handels­beziehungen auf bilateraler, aber auch auf multi­lateraler Ebene – zum Beispiel über die Welthandels­organisation WTO – gerechter und verlässlicher gestalten: «Besonders ärmere Länder sollten ihr Ernährungs­system schützen, aber gleichzeitig auch am internationalen Markt teilnehmen können.»

Den internationalen Handel könne man aber nicht gänzlich durch lokale Produktion ersetzen: «Richtig ausgestaltet kann der Handel eine wichtige Rolle bei der Transformation unserer Nahrungs­systeme spielen – etwa indem Handels­abkommen nachhaltige und klimaverträgliche Land­wirtschaft begünstigen.»

Längerfristig brauche es eine gesamtheitliche Transformation, die nicht mehr nur bei der Effizienz­frage stehen bleibe, sondern das Ziel im Auge behalte, sagt Johanna Jacobi von der ETH Zürich: «Der Aufbau eines nachhaltigen, resilienten, gesunden und fairen Ernährungssystems.»

Notwendig ist das vor allem auch deshalb, weil das Klima rauer wird. Der Klimarat der Vereinten Nationen schätzt, dass die Preise für Getreide bis 2050 um bis zu 30 Prozent steigen werden.

Gleichzeitig rechnen die Vereinten Nationen, dass 2060 bereits mehr als 10 Milliarden Menschen auf dem Planeten leben werden. Acht von zehn werden in Asien oder Afrika auf die Welt kommen – oftmals in Ländern, die nicht unbedingt für ihre politische und wirtschaftliche Stabilität bekannt sind.

Untitled (from LEBENSMITTEL), 2006-2010/Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt

Wie politisch explosiv steigende Preise sein können, zeigen die aktuellen Unruhen in Sri Lanka oder Indonesien, aber auch frühere Proteste. Zum Beispiel vor zwölf Jahren, als ein Mann in der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid eine Protestwelle entfachte, wie sie die Welt noch nie gesehen hat.

Ab 2010 stiegen die Lebensmittel­preise auf der ganzen Welt an. Am 17. Dezember beschlagnahmten tunesische Polizisten den Gemüsestand von Mohamed Bouazizi, einem Strassenverkäufer, und beraubten ihn seiner einzigen Lebens­grundlage.

Später an diesem Tag übergoss er sich vor dem Sitz der Provinz­regierung mit Benzin, zündete sich an und inspirierte Dutzende Nachahmer. Es kam zu Demonstrationen, die sich rasend schnell ausbreiteten und in die Bürgerkriege in Syrien und Libyen mündeten.

Westliche Medien bezeichneten die Protestwelle als «Arabischen Frühling».

Von einer «Hungerrevolution» sprachen die Protestierenden in der Region.

Die Frage nach der Ernährungs­sicherheit ist nicht nur eine Frage von Leben und Tod oder des Klima- und Umwelt­schutzes. Sie ist vor allem auch eine Frage von Krieg, Frieden und globaler Sicherheit.

Wie können sich also künftig 10 Milliarden Menschen ernähren, ohne dass wir dafür die Natur, unsere eigene Lebens­grundlage, nachhaltig zerstören?

Antworten auf diese Frage gibt es morgen in Teil 2 dieses Beitrags.

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