Binswanger

Corona macht mal Ferien

Bundesrat Berset beschäftigt die Medien als Hobby­pilot. Hätten wir nicht vielleicht noch andere Sorgen?

Von Daniel Binswanger, 16.07.2022

Synthetische Stimme
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Irgendwie möchte man Bundesrat Berset für seinen Irrflug ins Sommer­loch von Herzen gratulieren. Ich meine: So eine Fehl­leistung muss man erst einmal zustande kriegen. Ebenfalls preisverdächtig – aber bereits von sehr viel geringerem Unterhaltungs­wert – sind die Schweizer Medien, die es fertigbringen, aus Bersets Luft­nummer allen Ernstes Rücktritts­forderungen abzuleiten.

Natürlich ist es vorbildfunktions­mässig eher suboptimal, wenn ein Bundes­rat aus dem linken Lager unfreiwillig als Hobby-Sportflieger geoutet wird. Man kann die Kirche aber ruhig im Dorf lassen: Die Cessna 182, mit der Berset vermutlich unterwegs gewesen ist, soll pro Stunde 55 Liter Benzin konsumieren. Wenn wir für die bundes­rätliche Spritz­tour insgesamt sechs Flug­stunden veranschlagen, kommen wir auf etwa fünf Autotank­füllungen.

So viel Treibstoff nur zum Vergnügen in die Luft zu pulvern, ist sicherlich nicht umwelt­bewusst. Allerdings: Jede einzelne Passagierin in einem Retour-Linienflug über den Atlantik belastet die Umwelt deutlich stärker. Doch hätte Berset seinen Urlaub mit einem Amerika-Trip begonnen, hätte das keine Menschen­seele gestört.

Die SVP lässt sich von solchen Details natürlich nicht irremachen und ergreift triumphierend die Gelegenheit, Cüpli-Sozialisten jetzt als Cessna-Ökos anzugehen. Alle zelebrieren noch einmal kurz ihre moralische Überlegenheit und denunzieren «linke Heuchelei» – bevor sie in den wohlverdienten Urlaub abfliegen.

Ebenfalls bereits im Sommerloch scheint sich die Covid-Pandemie zu befinden. Auch das sorgt für seltsame Medieneffekte – doch dieser Entwicklung sollten wir mit etwas Ernst begegnen. Wir geniessen es in vollen Zügen, wieder unter Menschen und an Veranstaltungen zu gehen. Allerdings ist es bekanntlich nicht die Pandemie als solche, die nun Sommer­pause hat. Die Omikron-BA.4- und -BA.5-Welle türmt sich gerade in schwindel­erregende Höhen. In die Ferien verabschiedet hat sich dafür die Corona-Politik.

Im Mai und im Juni sind in Bern noch tonnenweise Evaluationen und Strategie­papiere veröffentlicht worden – vom Bundesrat, von der Bundes­kanzlei, von der Geschäfts­prüfungs­kommission, vom Schweizerischen Wissenschafts­rat. Sie enthielten viele bedenkens­werte Kritik­punkte, Analysen der Rollen­verteilung und Vorschläge für funktionierende Entscheidungs­strukturen. Die Einrichtung eines inter­departementalen Krisenstabs wird ernsthaft angedacht – und vielleicht, vielleicht im Jahr 2023 dann irgendwann auch mal kommen. Mit der Frage hingegen, was im Herbst geschehen soll, scheint man sich mit mässiger Intensität auseinander­zusetzen. Die Covid-Strategie macht erst mal Sommer­pause.

Es gibt keine wissenschaftliche Taskforce mehr, die regelmässig kommunizieren könnte. Es gibt mit dem Ende der «besonderen Lage» keine Sonder­zuständigkeiten des Bundes mehr, und die meisten Kantone legen die Hände in den Schoss. Es gibt nur noch sporadisch kommunizierte Zahlen und nur noch reduzierte Gensequenzierungen von Virusproben.

Dabei hätte die Bevölkerung gerade jetzt, wo einerseits die Infektions­zahlen hoch sind und andererseits das Alltags­leben keinerlei Einschränkungen mehr unterworfen ist, einen hohen Informations- und Anleitungs­bedarf. In welchen präzisen Situationen wäre das Masken­tragen wirklich empfehlenswert? Welche Isolations­massnahmen sollte man Infizierten nahelegen, auch wenn sie nicht mehr obligatorisch sind? Wie vorteilhaft ist es für über 60-jährige Bürgerinnen, sich jetzt schon zum zweiten Mal boostern zu lassen, obwohl sie es selber bezahlen müssen? Zu alledem wird spärlich bis gar nicht kommuniziert.

Hat irgendjemand einen Plan, um die Dinge rechtzeitig hochzufahren, wenn sich im September eine bedrohliche Entwicklung abzuzeichnen beginnt? Es stellt sich der bizarre Eindruck ein, die Schweiz gehe auf den kommenden Herbst fast noch schlechter vorbereitet zu als auf den letzten und den vorletzten.

Da muss man dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen dankbar sein, wenn es auch bei hochsommerlichen Temperaturen die Covid-Debatte wenigstens am Laufen halten will. Der «Club» von dieser Woche war der Pandemie­entwicklung gewidmet.

Manuela Bieri, eine Long-Covid-Betroffene und Vertreterin des Vereins Long Covid Schweiz, konnte von ihren Erfahrungen sprechen und davon, wie wichtig es wäre, dass die Politik die Long-Covid-Problematik endlich offensiv adressierte. Huldrych Günthard, Professor und leitender Arzt am Universitäts­spital Zürich, brachte seinen Zorn darüber zum Ausdruck, dass die Schweiz den zweiten Booster für die über 80-Jährigen, nicht aber für die über 60-Jährigen bezahlt. «Wo sind wir denn? Sind wir das ärmste Land auf der Welt?», fragte der Spezialist für Infektions­krankheiten mit ätzendem Sarkasmus.

Rudolf Minsch, der Chefökonom von Economie­suisse – nicht unbedingt ein Interessen­vertreter, der die letzten zwei Jahre als grosser Freund von proaktiven Massnahmen aufgefallen wäre –, merkte mit diplomatischer Zurück­haltung an, in welchen Bereichen die Lernkurve der Schweizer Behörden leider immer noch sehr flach sei. Eigentlich in den meisten: Es gibt weiterhin keinen Krisen­stab. Es gibt weiterhin keine vernünftige Echtzeit-Daten­erhebung. Es gibt weiterhin keine systematischen politischen Anstrengungen, um öffentliche Gebäude und Arbeits­plätze gut belüftet und pandemie­gerecht zu machen.

Seit es in der Pandemie­bekämpfung nicht mehr nur um den blossen Schutz von Menschen­leben, sondern vor allem auch um die Vermeidung von Arbeits­ausfällen geht, hat der Wirtschafts­dachverband einen bemerkens­werten Gesinnungs­wandel durchgemacht. Das staatliche Handeln erscheint jetzt plötzlich als so ungenügend, dass selbst Economie­suisse sich inzwischen eine viel aktivere Corona-Politik wünscht.

Den bizarrsten Auftritt hatte allerdings Caspar Hirschi, Geschichts­professor an der Universität St. Gallen, der für den Schweizerischen Wissenschafts­rat die «wissenschaftliche Politik­beratung» während der Pandemie untersucht. Die Publikation des definitiven Berichts ist erst für den Herbst vorgesehen, und man darf gespannt sein. Hirschi überraschte jedenfalls mit ein paar verblüffenden Hypothesen.

Das Problem, so Hirschi, sei weniger die Kommunikation zwischen der wissenschaftlichen Taskforce und dem Bund gewesen als das Kompetenz­gerangel und Zuständigkeits­chaos zwischen dem Bund und den Kantonen. Der zweite Teil dieser Aussage ist unbestritten: Unvergessen bleibt die Situation, als im November und Dezember 2020 die Todeszahlen durch die Decke gingen, während Bund und Kantone sich gegenseitig paralysierten. Gerade in dieser Phase jedoch habe die Zusammen­arbeit zwischen Bund und wissenschaftlicher Taskforce sehr gut funktioniert, so Hirschi. Es beweise, dass die wissenschaftliche Beratung durch eine improvisierte Ad-hoc-Kommission eigentlich gar nicht schlecht gewesen sei.

Das ist eine befremdliche Argumentation. Natürlich haben die Schweizer Verantwortungs­träger, als die Situation in den Spitälern wirklich desperat zu werden begann, damit angefangen, auf Epidemiologen und Gesundheits­expertinnen zu hören. Was wäre ihnen sonst noch übrig geblieben? Aber die alles entscheidende Frage ist doch: Weshalb ist das nicht viel früher geschehen, zu einem Zeitpunkt, als man die tödliche Katastrophe vom Spätherbst 2020 noch hätte verhindern können? Schon im August haben Epidemiologinnen, innerhalb und ausserhalb der Taskforce, sehr insistent davor gewarnt, dass wir auf eine Katastrophe zulaufen. In der Tat, sie wurden schliesslich gehört. Als es viel zu spät war.

Hier liegt bis heute der Kern des Problems, und die «Club»-Sendung illustrierte es schliesslich auf schon beinahe karikaturistische Weise. Es wurde ein Tweet der Epidemiologin Isabella Eckerle eingeblendet, in dem sie sehr eindringlich davor warnt, dass die Herbst­welle noch schlimmer werden dürfte als die aktuelle Sommer­welle beziehungsweise dass diese nur ein Vorgeschmack sei auf das, was noch kommen werde. Natürlich weiss niemand mit 100-prozentiger Sicherheit, was im Herbst geschehen wird, aber dass dieses Szenario sehr plausibel ist und dass wir uns heute darauf vorbereiten sollten, kann im Ernst nun wirklich niemand bestreiten.

Historiker Caspar Hirschi nahm diesen Tweet jedoch zum Anlass, um uns zu belehren, dass Frau Eckerle bedauerlicher­weise etwas Entscheidendes noch immer nicht begriffen habe: Prognosen seien unsicher. Das zeige ja gerade die Sommer­welle, mit der absolut niemand gerechnet habe. Früher in der Sendung hatte Hirschi das Grundlagen­papier zur epidemiologischen Lage zitiert, das der Bundesrat am 18. Mai publizierte und in dem es heisst: «Wie in den letzten zwei Jahren dürfte sich das Infektions­geschehen in den Sommer­monaten auf niedrigem Niveau bewegen.» Wenn die Sommer­welle so unvorhersehbar war, wie sollen wir dann schon heute zu einer allfälligen Herbst­welle etwas Vernünftiges sagen können?

Diese Demonstration scheint auf den ersten Blick bestechend, doch hat sie einen kleinen Schönheits­fehler. Der Bundesrat war tatsächlich vollkommen ahnungslos im letzten Mai. Aber könnte es vielleicht daran liegen, dass er wissenschaftlich falsch beraten wird beziehungsweise weiterhin auf die relevanten Stimmen nicht hört? Es gab nämlich Epidemiologinnen, die sehr korrekt prognostiziert haben, was diesen Sommer geschehen könnte. Zum Beispiel Isabella Eckerle.

Am 26. April, also gut drei Wochen bevor der Bundesrat seine von Hirschi zum Mass des Erkenntnis­standes erhobene Falsch­einschätzung publizierte, schrieb Eckerle mit Bezug auf eine südafrikanische Untersuchung folgenden Tweet: «Erstaunlich ist diese rasche Zunahme, da in Südafrika die Mehrheit schon vor Omicron infiziert war & dann nochmal mit Omicron. Rate an Impfung allerdings geringer. Wenn es schlecht läuft, könnte BA.4/BA.5 unsere Sommer­welle werden in Europa.» Das ist exakt das, was geschehen ist.

Im selben Twitter-Thread macht Eckerle noch eine weitere Anmerkung, die auch für das Pandemie­management im Herbst eine fatale Relevanz haben könnte: «Dieses Mal wird es viel länger dauern, bis wir wissen, ob diese Varianten auch in der #Schweiz zirkulieren, da Finanzierung zur genomischen Virus-Überwachung deutlich reduziert wurde. Keine gute Idee, denn dieses Virus hat wohl noch einiges auf Lager.»

Der «Club»-Diskussion die Krone aufgesetzt hat dann aber schliesslich Rudolf Hauri, der Präsident der Vereinigung der Kantons­ärztinnen und Kantons­ärzte – ein Verantwortungs­träger, der theoretisch einen Beitrag dazu leisten könnte, dass der Bundesrat weiss, wovon er redet. Sein Kommentar zu Isabella Eckerle: «Das ist Kaffeesatz­lesen.»

Gibt es zwischen Politik und Wissenschaft in unserem Land wirklich keine Kommunikations­probleme? Diese These scheint gewagt.

Man staunt jedenfalls, was für Feind­bilder aufgebaut werden im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. In der Runde bestand weitgehender Konsens darüber, dass die Schweiz auch auf diesen Corona-Herbst mit sehr mangelhafter Vorbereitung zugeht. Selbst Economie­suisse ist inzwischen an Bord. Aber vor den Gefahren des Herbsts in klaren Worten zu warnen, das scheint ein Tabu zu sein.

Immer schön mit der Ruhe. Wir beobachten. Wir denken «in Szenarien» – was eigentlich nur besagen will, dass man bis zuletzt auf der Bremse bleibt. Wir stimmen einen summer song an auf das helvetische Improvisations­genie. Die Bundes­verwaltung ist jetzt ohnehin in den Ferien. Und wir alle sind dringend gebeten, erst mal baden zu gehen.

Illustration: Alex Solman

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