Aufwühlender Auftritt: Davide-Christelle Sanvee im Museum Tinguely. Markus Gössi/Museum Tinguely, Basel

«Sag was!»

Davide-Christelle Sanvee inszenierte einen Einbürgerungstest, den keine gebürtige Schweizerin bestand. Ein Treffen mit der Performance-Künstlerin im Museum Tinguely in Basel, in dem Sanvee sich als Jägerin und Gejagte zeigte.

Von Jules Pelta Feldman, 13.07.2022

Synthetische Stimme
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Eine junge Frau schreit mich an: «Say something! Say something!», brüllt sie mir immer und immer wieder ins Gesicht. Sicher, wie ich reagieren soll, bin ich nicht. Hatte sie nicht eben noch gerufen, dass sie selbst etwas sagen möchte: «I want to say something.» Fordert sie jetzt also mich auf, meine Stimme zu erheben? Oder will sie, dass ich den Mund halte, damit sie sich selbst Gehör verschaffen kann?

Ich sitze im Foyer des Museums Tinguely in Basel und bleibe stumm. Davide-Christelle Sanvee ist Performance-Künstlerin, und das ist ihr Auftritt. Sie wurde 1993 in Togo geboren; als sie sieben Jahre alt war, wurde Sanvees Vater nach Genf versetzt. Und die Kunst, ein fast zwanghaftes Malen und Zeichnen, nutzt sie lange vor ihrem Studium an der Genfer Haute école d’art et de design, um die Erfahrung zu verarbeiten, als schwarze Einwanderin in der Schweizer Gesellschaft anzukommen. Autobiografisch ist dieser Auftritt im Museum Tinguely, denke ich mir, eine persönliche Reaktion auf eine Welt, in der die Künstlerin ignoriert und herabgesetzt wird.

Zur Autorin

Jules Pelta Feldman ist Forscherin an der Hoch­schule der Künste Bern beim Projekt «Performance: Conservation, Materiality, Knowledge», das vom Schweizerischen National­fonds unterstützt wird. Sie arbeitet auch als freie Kunst­kritikerin, Kuratorin und Salonnière in Basel. Ihre Texte erscheinen bei «Art Forum», «Texte zur Kunst», im «Merkur» und beim Deutschlandfunk.

Es gibt allerdings ein Problem mit dieser Interpretation: Die Performance stammt gar nicht von Sanvee. Das Stück hat sich eine andere Künstlerin ausgedacht. Sie heisst Martina-Sofie Wildberger und führte «I want to say something» 2017 im Zürcher Corner College auf. Was genau schaue ich also bei Sanvee an?

Nach nur wenigen Minuten beendet ein Gong die Performance oder besser Re-Performance, und eine neue wird angekündigt. Fünfzehn Stücke von Künstlerinnen mit Bezug zur Romandie sind es insgesamt, die Sanvee hier noch einmal zur Aufführung bringt und die in erster Linie nur Insidern der französisch­sprachigen Performance-Szene bekannt sein dürften: Yan Duyvendaks «My Name is Neo (for fifteen minutes)» aus dem Jahr 2000 ist dabei, und es ist auch schon das älteste Stück. Philippe Wichts «Freakshow», die erst in diesem April im Espace libre in Biel zu sehen war, ist das jüngste.

Ist das eine Spurensuche, ein Sprint durch die Schweizer Kunst­geschichte? Ein Spiel mit Identitäten? Womöglich sogar das Ende einer noch gar nicht so alten Kunst­bewegung? Der aufwühlende Auftritt von Davide-Christelle Sanvee im Foyer des Museums Tinguely lässt mich mit ein paar Fragen zurück.

Der Körper als lebendes Archiv

Performance ist noch ein recht junges Medium, das Ende der 1950er-Jahre als experimentelle Alternative zu traditionellen Kunstformen wie der Malerei oder der Skulptur entstanden ist. Während ein Gemälde, das vor hundert oder auch vor zwanzig Jahren entstanden ist, jederzeit im Museum ausgestellt werden kann, gilt eine Performance in dem Moment, in dem sie an ihr Ende gekommen ist, in der Regel als für die Geschichte verloren.

Für viele Kunst­historikerinnen liegt jedoch gerade in der Vergänglichkeit der Performance ein hoher Wert: Von Authentizität und historischer Spezifität der Originale ist dann meistens die Rede. Im Rahmen ihrer sogenannten «La performance des performances» im Museum Tinguely tritt Sanvee nun aber ebenfalls wie eine Historikerin auf, die die Geschichte der Performance-Kunst sogar bewahrt, ja durch ihren eigenen Körper in die Gegenwart überführt – und womöglich neu schreibt.

Nach ihrem Auftritt gibt es Weisswein im Garten des Museums. Ich spreche die Künstlerin an, und sie entschuldigt sich dafür, mich angebrüllt zu haben. Im Kontrast zur Bandbreite der Persönlichkeiten, die sie soeben noch im Foyer darstellte – verführerisch, bestialisch, aggressiv, satirisch, spielerisch –, wirkt sie sogar schüchtern. Auf Englisch umschreibt sie ihre Praxis als eine Art der Imitation, auf Französisch, ihre Muttersprache, spricht sie von «incarner»: Ein «lebendes Archiv» kann die Gesten, Handlungen und Worte anderer Künstler nicht einfach kopieren, es verkörpert sie – wodurch sie auch verändert werden.

Davide-Christelle Sanvee am 11. Swiss Performance Art Award. Tine Edel/Performancepreis Schweiz 2021

Mit Ausnahme des Stücks «Hit Me Hard» von YoungSoon Cho Jaquet aus dem Jahr 2013 (einer Auseinander­setzung zwischen zwei Tänzerinnen und zwei Schlagzeugern, die hier von Sanvee als Solo aufgeführt wird) stammt jede der von Sanvee gezeigten Darbietungen im Museum Tinguely von einem weissen Künstler; etwa die Hälfte davon tragen die Namen von Männern. Diese Auswahl hat die Künstlerin bewusst getroffen. Sie ermöglicht es, neue, mitunter auch verstörende Seiten des Ausgangs­materials offenzulegen.

In Nagi Giannis «Hunters» etwa, das auch zu den fünfzehn Stücken gehört, die sich Sanvee ausgesucht hat, tollte eine Performerin in einem blauen Overall und mit rot geschminktem Gesicht auf ebenso alberne wie unangenehme Weise auf der Bühne herum, als wäre sie ein Tier. Davon konnte man sich vor einigen Jahren (übrigens ebenfalls im Museum Tinguely) bereits ein Bild machen, als «Hunters» anlässlich des Swiss Performance Art Award 2018 aufgeführt wurde. Die Performerin schlug damals mit den Armen wie mit Vogelflügeln und tat so, als würde sie Läuse essen, die sie von ihrem Körper gepflückt hatte. Währenddessen wurde sie von einem Jäger in Tarn­kleidung verfolgt, der sie – und das Publikum – hinter einem verspiegelten Jagdschirm verborgen beobachtete. In ihrer aktuellen Neuinterpretation des Stücks stellt Sanvee aber sowohl Jägerin als auch Gejagte dar.

Die Hindernisse der Einbürgerung

Sie inspiziert das Publikum durch ein Fernglas und tut, als würde sie auf einen Mikrofon­ständer pinkeln. Obwohl die Vorstellung albern ist – das Publikum lacht –, finde ich sie, wie gesagt, verstörend: Sanvees Bewegungen und ihr breites, eingefrorenes Grinsen erinnern zu sehr an Darstellungen von Afrikanerinnen als Tiere. Der Zuschauer wird zu einem Voyeur und ist gezwungen, sich mit seinen Erwartungen an das Aussehen und Verhalten einer schwarzen Performance-Künstlerin auseinanderzusetzen. Wenn das Publikum lacht, erzählt mir Sanvee später im Garten, wird es offener für politische Botschaften, die es sonst nicht hören will.

Als sie in Genf die Performance entdeckte, hatte sie das Gefühl, das Medium gefunden zu haben, das es ihr erlauben würde, die Komplexität von Identität, Territorium und sozialen Beziehungen auszudrücken, die sie beschäftigte. Als sie aufwuchs, drängte Sanvees Mutter sie noch, über ihre Erfahrungen mit Rassismus und Diskriminierung zu schweigen, in der Hoffnung, der Familie den Einstieg in die manchmal feindselige und misstrauische Schweizer Gesellschaft zu erleichtern. Sanvee entschied sich jedoch für das Gegenteil: Sie macht diese Erfahrungen mit ihrer Kunst für ein Publikum greifbar, für das Ausgrenzung kein unmittelbares Thema ist.

Für ihre Abschluss­prüfung im Jahr 2016 unterzog Sanvee die Jury einer Version des Schweizer Einbürgerungs­tests in Form eines Hindernis­parcours, der von Performern geleitet wurde, die – wie sie selbst einst – diese Prüfung bestanden hatten. Kein einziges Mitglied der weissen, in der Schweiz geborenen Jury kam durch. Für Sanvee stellte sich damit die Frage: Warum sollte sie für eine Anerkennung kämpfen müssen, die andere automatisch erhalten? Warum zählen ihre Perspektive und ihre Erfahrungen weniger als die von anderen?

Die Performance wird wiederbelebt

Jede der Wieder­verkörperungen von «La performance des performances» bricht in dieser Weise mit ihrer Vorlage: Sanvee stellt das Original infrage und bleibt trotzdem mit ihm im Dialog. Damit knüpft sie auch an die Debatten über das Fortleben von Performance-Kunst an.

Die Erfindung der sogenannten «Re-Performance», also der Wiederholung einer Aufführung, wird für gewöhnlich der Künstlerin Marina Abramović zugesprochen. Die 1946 in Jugoslawien (heute Serbien) geborene Abramović ist bekannt für intensive Performances, die unglaubliche Ausdauer erfordern und manchmal auch zu Selbst­verletzungen führen.

Dennoch – oder gerade deshalb – war sie bestürzt darüber, dass ihre eigene Arbeit und die anderer Performance-Künstler wenige Spuren in der Kunst­geschichte hinterliessen. Im Jahr 2005 versuchte Abramović, diese Situation zu ändern, indem sie mit dem Projekt «Seven Easy Pieces» im Guggenheim Museum in New York bahnbrechende Performances anderer Künstler nachstellte. Als das Museum of Modern Art (MoMA) ihr 2010 eine Retrospektive widmete, brachte sie einer Gruppe junger Performance-Künstlerinnen dann bei, Werke, die sie mit ihrem ehemaligen Partner Ulay geschaffen hatte, zu «re-performen».

Diese wurden in den Ausstellungs­räumen wie lebende Skulpturen präsentiert. Aufs Neue hatte das Publikum die Möglichkeit zu wählen, wem es sich zuwenden will, wenn es sich durch den engen menschlichen Torweg im Werk «Imponderabilia» (1977) zwängt. Auch wenn die Kritikerinnen die Unterschiede der Neuaufführung zum Original beklagten – für Museen, die mit der Bewahrung und Ausstellung von Kunst beauftragt sind, eröffnete das einen neuen Zugang zur experimentellen Kunst der Vergangenheit: Endlich liessen sich historische Positionen der Performance-Kunst nicht nur mittels Fotodokumenten, Videoaufnahmen oder auch Requisiten ausstellen. Sie konnten wiederbelebt werden.

Wie beliebt diese neue Form der Konservierung geworden ist, zeigt ein Blick in den aktuellen Schweizer Kunst­kalender. Im Rahmen des diesjährigen Art Basel Parcours wurde der Film «Persona» (2022) von Manon de Boer gezeigt, in dem die Tänzerin Latifa Laâbissi den berühmten – und fast gänzlich verlorenen – Hexentanz (1926) der Tänzerin Mary Wigman rekonstruiert. Der Parcours präsentierte auch eine Performance der Künstlerin Puppies Puppies (Jade Guanaro Kuriki-Olivo), die Ana Mendietas Performance «Untitled (Rape Scene)» aus dem Jahr 1973 neu inszenierte, die bereits eine Rekonstruktion der Vergewaltigungs- und Mordszene einer Frau namens Sarah Ann Ottens war.

Ein Auftritt als Glastreppe

Sanvee weiss um diese Entwicklung und nutzt sie für ihr eigenes Schaffen, um gegen das Vergessen zu arbeiten. Nicht nur Werke von Marina Abramović oder Ana Mendieta sind es wert, erinnert zu werden: Sanvee wählte für ihren Abend im Museum Tinguely ausschliesslich Lehrerinnen und Mitstreiter aus ihrer eigenen Szene aus, der Schnell­durchlauf – keine Re-Performance dauert länger als wenige Minuten – trägt dem raschen Alterungs­prozess Rechnung, dem auch die jüngere Performance-Geschichte unterliegt. Ausserdem gewinnt die Schweizer Kunst­geschichte einen performativen Stellenwert, den Sanvee gewissermassen im gleichen Atemzug auch wieder infrage stellt.

Für ihre «La performance des performances» hatte sie präzisere Wieder­aufführungen in Erwägung gezogen, einschliesslich Repliken der originalen Kulissen und Requisiten, erzählt sie. Letztlich entschied sie sich aber dafür, die «Reinkarnationen» der früheren Aufführungen «ihrem eigenen Körper» zu überlassen: Die Unterschiede zwischen Sanvee und den Künstlerinnen, in deren Rollen sie schlüpft, führen nicht nur vor Augen, dass eine präzise Wieder­aufführung einer Performance unmöglich ist. Die lokale Performance-Geschichte wird auch einer radikalen Neuinterpretation unterzogen, in der Sanvee als schwarze Künstlerin nun eine zentrale Rolle spielt, anstatt die ihr so oft zugewiesene Rolle der étrangère zu akzeptieren.

Es ist konsequent, dass viele ihrer Auftritte auch den sie umgebenden Raum thematisieren. Seit ihrem Master am Studio for Immediate Spaces, einem Programm für experimentelle Architektur in Amsterdam, studiert Sanvee die Architektur – was und wen Ausstellungs­räume sichtbar und unsichtbar machen, ein- und ausschliessen. Im Jahr 2019 trat sie im Gewand der grünen Glastreppe im Aargauer Kunsthaus auf, für «LE ICH DANS NICHT» gewann sie dann den Swiss Performance Award.

Es gibt mehr als eine Geschichte

Die Performance von Sanvee im Foyer des Museums Tinguely war übrigens Teil eines ausufernden, sommerlichen Programms, das die neue Ausstellung «Bang Bang. Translokale Performance Geschichte:n» begleitet. Darin geht es ebenfalls um die Geschichte der Performance-Kunst in der Schweiz, Sanvees Ansatz, diese fort- und umzuschreiben, erscheint wie der ideale Beitrag. Man mag sich allerdings wundern, dass das Museum Tinguely die Schweizer Performance-Kunst erneut historisch aufarbeiten muss. 2017 und 2018 erforschte das Museum in gross angelegter Zusammenarbeit mit der Kaserne und der Kunsthalle Basel nämlich erst die helvetische Ausprägung dieser Kunstform.

«Performance Process. Eine Annäherung an die Schweizer Performancekunst von 1960 bis heute» hiess das ambitionierte Projekt, international berühmte Künstlerinnen wie Anne Rochat, Roman Signer oder Christian Marclay traten auf. Es ist gut möglich, dass das neue Projekt eine Antwort auf ihren Vorgänger ist, da sich viele Künstlerinnen und Künstler von der Geschichte, die seinerzeit erzählt wurde, ausgeschlossen fühlten – vor allem jene, die in Basel aktiv sind.

Im Untertitel von «Bang Bang. Translokale Performance Geschichte:n» gibt es nicht zufällig einen mehrdeutigen Plural. Er erinnert endlich daran, dass Performance unterschiedliche «Geschichte:n» hat, je nachdem, wen man fragt und wohin man schaut. Auf beiden Seiten des künstlerischen Röstigrabens haben sich die Traditions­linien, die Performance-Communitys und nicht zuletzt die Hochschul­programme sehr unterschiedlich entwickelt. Neben der in Genf geborenen und ausgebildeten Kuratorin Séverine Fromaigeat, die im Museum Tinguely arbeitet, haben die Künstlerinnen Lena Eriksson, Muda Mathis, Chris Regn und Andrea Saemann von Performance Chronik Basel die Ausstellung zusammengestellt. Alle haben sich bewusst bemüht, Künstlerinnen, Kunsträume und Szenen aus dem ganzen Land einzubeziehen.

Im Foyer des Museums Tinguely zeigen Monitore denn auch eine schwindel­erregende Sammlung von Interviews mit Performance-Künstlerinnen und Video­dokumentationen ihrer Arbeiten, die nur einen kleinen Vorgeschmack auf den Reichtum der Ausstellung und die damit verbundene Recherche bieten. Für ihre Serie «Die Ahnengalerie» bietet die Künstlerin Eliane Rutishauser fast jedes Wochen­ende Porträt­sitzungen mit Schweizer Performance-Künstlern im Museum an (mit Voranmeldung), in der Hoffnung, ein umfassenderes Bild der zeitgenössischen Szene zu vermitteln. Und es stehen noch viele andere solcher Performances im Programm.

Während ich auf den Auftritt von Sanvee wartete, setzte sich denn auch Pascale Grau neben mich, eine Veteranin der Schweizer Performance-Kunst. Ich fragte sie nach dem Nachleben von Performance – ob sie glaube, dass sie in lebendiger Form erhalten werden könne. Ja, meinte sie, und kritisierte diejenigen, die darauf bestehen, dass eine Performance nur in Dokumenten weiterleben kann. Wenn wir uns zu sehr auf Fotos und Videos konzentrieren, sagte sie, sei das so, «als würde jemand auf den Mond zeigen, und wir starren nur auf seinen Finger».

An diesem Abend im Juni, während Davide-Christelle Sanvees Performance, hatten wir den Mond fest im Blick.

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