Stimmen gegen das Schweigen

Warum Marianna Kijanowskas Gedichtband über Babyn Jar zu den wichtigsten Werken der ukrainischen Gegenwart gehört. Eine literaturhistorische Einordnung.

Von Claudia Dathe (Text) und Maria Skliarova (Illustration), 05.07.2022

Synthetische Stimme
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Marianna Kijanowskas Gedicht­band «Babyn Jar. In Stimmen» führt in den September des Jahres 1941. Damals erschossen NS-Sonder­kommandos in der Schlucht von Babyn Jar (Russisch: Babij Jar) bei Kiew an zwei Tagen mehr als 33’000 jüdische Frauen, Männer und Kinder. Es war das grösste Einzel­massaker des Zweiten Welt­kriegs, an dem deutsche Polizisten, SS-Männer, Wehrmachts­angehörige und lokale Kräfte beteiligt waren. Kijanowska wandelt mit ihren Gedichten die bedrückende Zahl in einen beklemmenden Chor. Die namen­losen Opfer bekommen eine Stimme.

67 Menschen lässt Kijanowska zu Wort kommen. Die Stimmen gehören Menschen, die auf den Befehl des Kommandanten der besetzten Stadt Kiew hin Ausweise, Kleidung, Wert­gegenstände und Geld zusammen­packen, sich am Morgen des 29. September 1941 an der Melnikowa-Strasse einfinden und zur «Weiber­schlucht» laufen, wo sie ermordet werden.

Jede Stimme spricht im Resonanz­raum des Todes. Eine Frau beschreibt das zögerliche Zusammen­suchen von Habseligkeiten vor dem Abkommandiert­werden; ein Mann erzählt vom Ablegen der Kleider vor der Grube; ein anderer, wie er über Leichen steigt und den Blick nicht abwenden kann; ein vierter von seiner Kindheit; ein fünfter vom künftigen Vater-Sein; eine sechste vom Hochzeits­kleid im Schrank.

Auch Aussen­stehende, die die Schüsse von der Schlucht hören, teilen sich mit. Jede Stimme zeigt einen kleinen Ausschnitt. Aus einem Geflecht von Wegsehen und Hinsehen, Weghören und Hinhören, Ahnen, Misshandelt­werden, Laufen, Drängen, Ausblenden und Rufen ersteht der Augenblick des In-den-Tod-Gehens. Es fehlen das Davor und das Danach, und so dauert das Grauen unendlich lange an.

Marianna Kijanowska ist die erste ukrainische Gegenwarts­autorin, die sich in einem umfassenden Werk mit den Ereignissen in der Schlucht von Babyn Jar auseinander­setzt. In der Ukraine wurde der Band breit rezipiert. 2020 wurde Kijanowska dafür mit dem bedeutendsten Literaturpreis des Landes, dem Schewtschenko-Preis, ausgezeichnet. Eine deutsche Übersetzung der Gedichte liegt bislang nicht vor. Die Republik veröffentlicht erstmals Auszüge aus dem Gedichtband auf Deutsch.

Zu den übersetzten Gedichten: «jetzt erst kann ich darüber sprechen»

Hier finden Sie fünf erstmals auf Deutsch übersetzte Gedichte aus dem Band von Marianna Kijanowska. Und Sie können die fünf Gedichte als Audiofile hören, gelesen von Marianna Kijanowska in ukrainischer Sprache.

Im ukrainischen Original sind die meisten Gedichte gereimt. Der Reim schafft eine Distanz und zugleich einen Kontrast zur Atem­losigkeit des Erzählten. Kijanowska gibt den Menschen Namen: Levi, Nechana, David, häufig werden sie als Vater, Mutter, Gross­mutter, Bruder familiär identifiziert. Die Stimmen erzählen aus der Ich-Perspektive; das Ukrainische kann im Präteritum das Geschlecht kenn­zeichnen, und so wird deutlich, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Durch die Namen und Rollen treten die Menschen als Teil einer vertrauten Gemeinschaft in Erscheinung, ihre Beziehungen werden plastisch. Kijanowskas Protagonisten lassen ihren Mutmassungen freien Lauf, ein Gedanke reiht sich an den nächsten, ein endloser Strom. Zur Erzählung wird er durch die schriftliche Fixierung.

Stilistisch erzeugt die Autorin diesen Eindruck durch die Verwendung von Umgangs­sprache und den Verzicht auf Zeichen­setzung. In jedem Gedicht entsteht ein eigener Klangraum. An vielen Stellen werden durch Wörter einer Zeile, in der sich Vokale wieder­holen, aus dem Klang Bedeutungen geschaffen, etwa ein Appell durch Aneinander­reihung von Wörtern mit dem Laut «a» oder Bedrohung durch die Verwendung von Wörtern mit «o», Gewalt durch Verwendung von Wörtern auf «kr».

So lösen sich die Gedichte von der blossen Schriftlichkeit und werden zu einem Chor von Stimmen.

Marianna Kijanowska begann mit der Arbeit an dem Band, nachdem sie in Babyn Jar eigene Gedichte vorgetragen hatte. Auf die Frage, die ihr immer wieder gestellt wird, warum sie sich ausgerechnet mit dem Massaker von Babyn Jar auseinander­gesetzt habe und nicht mit anderen tragischen Ereignissen der ukrainischen Geschichte, antwortet sie, auch Babyn Jar sei ein Teil der ukrainischen Geschichte, der jede Ukrainerin etwas angehe.

Im Sommer 2016 fing Kijanowska an, Gedichte über den Donbass zu schreiben, wo zu jener Zeit bereits Krieg herrschte. Drei Gedichte aus diesem Zyklus, die ebenfalls den Moment des Sterbens thematisieren, sind auch in den Band aufgenommen worden. Die lyrischen Texte werden dort von künstlerischen Arbeiten von Ada Rybatschuk, Wolodymyr Melnytschenko, Zinovii Tolkatchev und Dmytro Peisachow ergänzt.

Mit «Babyn Jar. In Stimmen» antwortet Kijanowska auf das Schweigen, das in der Sowjetunion über die Ereignisse in Babyn Jar und an anderen Orten der Vernichtung von Juden gebreitet wurde und in dessen Folge die Geschichte der jüdischen Mitbevölkerung fast vollständig aus der Erinnerung verdrängt wurde. Wie etwa in Schowkwa, einer Kleinstadt im Gebiet Lwiw (Lemberg), in der Kijanowska aufgewachsen ist.

Im Jahr 1931 waren von 13’000 Bewohnern 4400 jüdischen Glaubens, nur 70 von ihnen überlebten die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkriegs. Als Kind hatte Kijanowska häufig mit Freunden auf dem Marktplatz, der an der Stelle des ehemaligen jüdischen Friedhofs angelegt worden war, «Seeräuber» gespielt und dabei Bruch­stücke von Steinplatten «erbeutet». Erst später begriff sie, dass es sich um Grab­platten des jüdischen Friedhofs handelte.

Eine kontaminierte Landschaft

Die Tilgung der Erinnerung an die jüdischen Bewohnerinnen und die an ihnen begangenen Untaten setzte bereits unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Obwohl es sich dabei um Verbrechen des besiegten Kriegs­feindes Deutschland handelte und sowjetische Untersuchungs­kommissionen diese Verbrechen erfassten und dokumentierten, hatte die Sowjet­führung kein Interesse daran, dass diese Informationen an die Öffentlichkeit gelangten, und blendete sie in ihrer Darstellung des Zweiten Weltkriegs aus.

Dafür gab es, wie der Historiker Timothy Snyder in «Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin» ausführt, mehrere Gründe.

Zum einen hätte die Erinnerung an jüdische Opfer dem Narrativ des einmütigen Sowjetvolks, das mit vereinten Kräften das faschistische Deutschland bezwungen hatte, entgegen­gestanden. Und zwar nicht, weil mit der Erwähnung der jüdischen Opfer eine Opfer­gruppe heraus­gehoben worden wäre. Vielmehr hätte die Frage nach dem praktischen Vollzug der Massen­erschiessungen zwangs­läufig die anti­sowjetische Haltung von Teilen der Bevölkerung in den besetzten Gebieten und im sowjetischen Kernland zutage gefördert.

Zum anderen hätte der Bericht über die Massaker in den vom Krieg betroffenen Gebieten eine detaillierte Darstellung des Kriegs­verlaufs erfordert. Das jedoch wollte man unbedingt vermeiden: Die sowjetischen Invasionen in der West­ukraine und im Baltikum in Folge des Molotow-Ribbentrop-Pakts und die damit verbundenen Verbrechen der Roten Armee sollten nicht in das Blickfeld gerückt werden.

Darüber hinaus hätte die Tatsache, dass die meisten Jüdinnen und Juden auf dem Gebiet der Sowjet­union nicht vor der anrückenden Wehrmacht geflohen waren, zu einer weiteren Erkenntnis führen können: dass nämlich die deutschen Verbrechen und Repressionen gegen die jüdische Bevölkerung in den zwischen 1939 und 1941 besetzten ostmittel­europäischen Gebieten bewusst verschwiegen worden waren, um die Erfolge der eigenen Invasionen nicht zu gefährden.

Das Verschweigen des Massakers von Babyn Jar war demnach Ausdruck der Verzerrung der Kriegs­geschehnisse, um das Narrativ der nationalen Einheit durchzu­setzen und die instabile Loyalität in den eroberten westlichen Landes­teilen zu stützen.

Die Sowjetführung machte sich durch dieses Verschweigen zum Komplizen der Täter. Kein Denkmal wurde errichtet. Die Schlucht von Babyn Jar wurde zu einer jener kontaminierten Landschaften, die laut dem Sachbuch­autor und Journalisten Martin Pollack entstehen, wenn namenlose Opfer aus der Welt geschafft und unsichtbar gemacht werden sollen. Die NS-Sonder­kommandos hatten der jüdischen Bevölkerung von Kiew das Leben und die Würde genommen, die Sowjetmacht nahm ihnen später ihre Identität und die Erinnerung.

Gegen das Diktat des Schweigens

Landschaften jedoch beugen sich dem Verschweigen nicht. So wie die Trümmer der Grab­platten auf dem Marktplatz von Schowkwa die Geschichte der jüdischen Bevölkerung preisgaben, so drang auch das Massaker von Babyn Jar an die Öffentlichkeit. Im Jahr 1961 brach in Kureniwka unterhalb der Schlucht ein Damm, und eine Schlamm­lawine spülte die sterblichen Überreste von tausenden Toten mitten in der Stadt an die Oberfläche.

Auch einige Schrift­steller, Künstlerinnen und Intellektuelle in der Ukraine wider­standen dem Diktat des Schweigens.

Als erster versucht 1943 der ukrainische Dichter Mykola Baschan mit seinem Gedicht «Die Schlucht» das Grauen von Babyn Jar in Worte zu fassen (eine deutsche Nach­dichtung von Martin Remané erschien 1972 in der Baschan-Gedicht­sammlung «Eine Handvoll Hoffnung»). Der Text zeigt die kontaminierte Landschaft, in der noch Reste des Verbrechens zu entdecken sind, die aber bereits von Gras und Kraut überwuchert wird. Im Schlussvers mahnt Baschan: «Verflucht sei, wer da sagt mit frommer Miene: ‹Vergesst!› … Dreifach verflucht, wer sagt: ‹Verzeiht!›»

1944 entsteht das Gedicht «Babij Jar» des Kiewer Autors und Journalisten Ilja Ehrenburg. Zentral ist für ihn die Grube als Ort des Sterbens. Ilja Ehrenburg war Vorsitzender der Literarischen Kommission des Jüdischen Anti­faschistischen Komitees, das Dokumente über die Ermordung von Jüdinnen in den besetzten Gebieten der Sowjet­union zusammen­tragen sollte. Das daraus entstandene Schwarzbuch, an dessen Fertig­stellung in der Folge auch der sowjetische Schriftsteller Wassili Grossmann beteiligt war, durfte in der Sowjet­union allerdings nicht erscheinen und fiel dem Schweigen anheim.

Während der Tauwetter­periode nach Stalins Tod machen der Autor und Kriegsveteran Viktor Nekrassow mit seinem Artikel «Warum ist das nicht getan?» (Original von 1959, Faksimile in einer Ausgabe der Zeitschrift «Osteuropa» zu Babyn Jar) und der Dichter Jewgeni Jewtuschenko mit seinem Gedicht «Über Babyn Jar, da steht keinerlei Denkmal» auf das Massaker aufmerksam.

Dmitri Schostakowitsch vertont kurz darauf Jewtuschenkos Gedicht in seiner Sinfonie Nr. 13. Nekrassow und Jewtuschenko rücken die Landschaft, ihre monströse Prägung und die durch Bebauungs­pläne drohende Tilgung der Erinnerung ins Bewusstsein und mahnen die Errichtung eines Denkmals an.

Ein solches wird vorerst auch weiterhin nicht gebaut, aber in den 1960er- und 1970er-Jahren versammeln sich regelmässig ukrainische und jüdische Bürger der Stadt, um mit Trauer­kundgebungen die Erinnerung an die Ereignisse von 1941 wachzuhalten. Das Aufbegehren gegen das Schweigen bleibt dabei ein zentrales Thema. So sagt der ukrainische Dichter und Dissident Iwan Dsjuba in seiner Rede zum 25. Jahrestag des Massakers 1966: «Vielleicht sollten wir auf Worte verzichten und gemeinsam schweigen und derselben Sache gedenken. Aber das Schweigen hat nur dort Gewicht, wo alles, was gesagt werden kann, bereits gesagt wurde. Wenn jedoch längst noch nicht alles, wenn noch gar nichts gesagt ist, dann ist das Schweigen ein Komplize der Unwahrheit und der Unfreiheit.»

Im selben Jahr erscheint Anatolij Kusnezows Roman «Babij Jar. Die Schlucht des Leids». Kusnezow hatte als Dreizehn­jähriger die deutsche Besatzung in Kiew erlebt und die Erschiessung der Juden gehört, da er in Kureniwka in unmittelbarer Nähe der Schlucht wohnte. In seinem dokumentarischen Roman schildert er die Besatzung und die Ereignisse von Babyn Jar aus der Perspektive als Jugendlicher. In der sowjetischen Ausgabe von 1966 waren alle sowjet­kritischen Passagen gestrichen. Mit diesen Streichungen kam das Buch 1968 auch in der DDR heraus. Erst 2001 erschien in neuer Übersetzung die vollständige Ausgabe auf Deutsch, die ehemals zensierten Passagen sind darin kursiv gesetzt.

Kusnezow war nicht Augenzeuge der Ereignisse, die Darstellung im Roman stammt von Dina Pronitschewa, einer Jüdin, die der Erschiessung entkam. Sie schildert den Weg der Menschen bis in die Schlucht, das Ablegen der Kleidung, die verdeckt liegende Grube, das Verschwinden der Menschen, die Verwirrung, die Panik, den Gestank. Ihre Zeilen lassen sich mit Marianna Kijanowskas «Stimmen» als ein Text lesen, in dem die äusseren Ereignisse und die persönliche Wahr­nehmung zu einem beklemmenden Gesamt­eindruck verschmelzen.

Im Jahr 1976, 35 Jahre nach dem Massaker, errichtete man schliesslich in Babyn Jar doch noch ein Denkmal. Es trug die Inschrift: «Hier wurden in den Jahren 1941 bis 1945 über hundert­tausend Kiewer Bürger und Kriegs­gefangene von den deutsch-faschistischen Besatzern ermordet.» Kein Wort über die Herkunft der Opfer, sie blieben namenlos. Dass die Morde Teil der Shoah, des grössten und singulären Menschheits­verbrechens, waren, wurde nicht explizit benannt.

Der Holocaust als ukrainische Erinnerung

Mit dem Zusammen­bruch der Sowjet­union und der Unabhängigkeit der Ukraine wurde Babyn Jar Bestandteil der ukrainischen Erinnerungs­politik. Im Jahr 1991 fand eine einwöchige Gedenk­veranstaltung statt, mit der man zeigen wollte, dass das Verschweigen der Vergangenheit angehört. Während dieser Gedenk­woche wurde auch das Denkmal «Menora» enthüllt, das erste, das explizit an die jüdischen Opfer erinnert.

In den darauf­folgenden Jahren hing die Wahr­nehmung des Holocaust auf dem eigenen Territorium von der Gesamt­ausrichtung des jeweiligen Präsidenten ab: Während prorussische Präsidenten wie Janukowytsch weiterhin den Heldenkult des Zweiten Weltkriegs zelebrierten, versuchten europäisch orientierte Präsidenten wie Juschtschenko den Holocaust als relevanten Aspekt der ukrainischen Erinnerung zu thematisieren.

Die Erinnerungs­kultur der ukrainischen Mehrheits­gesellschaft galt überwiegend den eigenen Traumata, unter anderem der gescheiterten Staats­bildung von 1918, der Hungersnot der Jahre 1932 und 1933 und den stalinistischen Repressionen. Die Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung wurden hingegen kaum thematisiert.

Das spiegelt auch die bislang eher überschau­bare Anzahl an künstlerischen Auseinander­setzungen mit dem Thema wider. Zu den nennens­werten Kunstwerken der unabhängigen Ukraine, die sich nach 1991 mit dem Holocaust in der Ukraine im Allgemeinen oder mit dem Massaker von Babyn Jar befasst haben, gehören die Filme «Spell your name» (2006) von Serhiy Bukovsky und «Babi Jar. Context» (2021) von Sergei Loznitsa.

Serhiy Bukovskys Film basiert auf Berichten von Holocaust-Überlebenden und Rettern in der Ukraine, die Steven Spielberg in den 1990er-Jahren für sein Archiv der Shoah gesammelt hatte. Von den insgesamt 3400 interviewten Personen kommen im Film 14 zu Wort. Sie erzählen nicht nur ihre persönliche Geschichte des Überlebens oder Rettens, in den Darstellungen werden auch die gesell­schaftlichen Umstände während der deutschen Besatzung erfahrbar. Der Film zeigt Menschen, die unter den Bedingungen mehrfacher Front­wechsel, zusammen­brechender öffentlicher Strukturen, permanenter Androhung von Gewalt und Verschleppung, allgegen­wärtigem Hunger und permanenter Gefahr der Denunziation moralisch folgen­reiche Entscheidungen treffen mussten. Ihr Verhalten steht exemplarisch für das der Bevölkerung auf dem Gebiet der Ukraine, die durch den Krieg in die Konfrontations­zone zweier unter­schiedlicher totalitärer Regime geriet.

Im Jahr 2014 erschien der Roman «Vielleicht Esther» von Katja Petrowskaja, die aus Kiew stammt und seit 1999 in Berlin lebt. Darin zeichnet sie die Lebens­spuren ihrer jüdischen Familie in Kiew nach, aus der zwei Frauen in Babyn Jar umgekommen sind. Petrowskaja setzt Bruch­stücke von Erinnerungen zu einer episodischen Familien­biografie zusammen, deren zentrale Frage die nach Erinnern und Vergessen ist. Der im Original auf Deutsch geschriebene Roman wurde ins Ukrainische übersetzt, ist aber in der Ukraine weder rezensiert noch breit rezipiert worden.

Marianna Kijanowska ist die erste Gegenwarts­autorin in der Ukraine, die dem Thema ein ganzes Buch widmet. 66 Jahre nach dem Massaker von Babyn Jar errichtet die Autorin den Opfern ein Denkmal in Stimmen, das ihnen ihren Namen, ihre Identität und ihre Würde zurückgibt.

Zur Autorin

Claudia Dathe studierte Übersetzungs­wissenschaft (Russisch, Polnisch) und Betriebs­wirtschafts­lehre in Leipzig, Pjatigorsk (Russland) und Krakau. Nach längeren Auslands­tätigkeiten in Kasachstan und der Ukraine arbeitet sie seit 2005 als literarische Übersetzerin und Kultur­managerin, und sie ist Koordinatorin des Projekts «Europäische Zeiten» an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Dathe übersetzt Literatur aus dem Russischen und Ukrainischen, unter anderem von Andrej Kurkow, Serhij Zhadan, Ostap Slyvynsky und Yevgenia Belorusets. Für die Republik hat sie Auszüge aus Marianna Kijanowskas Gedicht­zyklus «Babyn Jar. In Stimmen» erstmals ins Deutsche übersetzt.

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