Am Gericht

Die Ausschaffung des Herrn K.

Vor fast zwanzig Jahren wurde sein Asylgesuch abgelehnt. Seither lebt Herr K. als Sans-Papiers in der Schweiz. Er hofft, als Härtefall anerkannt zu werden. Doch dann wird er unvermittelt abgeschoben. Aber hätte er überhaupt verhaftet werden dürfen?

Von Carlos Hanimann, 29.06.2022

Synthetische Stimme
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In der Schweiz gibt es je nach Schätzung zwischen 80’000 und 300’000 Sans-Papiers. Menschen, die ohne legalen Aufenthalts­status hier leben, arbeiten, lieben. Unterschieden wird dabei in der Regel zwischen primären Sans-Papiers und Sans-Papiers aus dem Asyl­bereich. Erstere sind den Behörden in aller Regel nicht bekannt: Sie sind etwa mit einem Touristen­visum in die Schweiz eingereist und verliessen das Land nicht mehr. Oder aber sie sind schon unerkannt eingereist und leben seither hier.

Zur zweiten Gruppe gehört Herr K. Er kam 2003 mit dem Flugzeug aus Algerien in die Schweiz. Algerien war damals von Bürger­kriegen geprägt, Herr K. ersuchte in der Schweiz um Asyl. Sein Antrag wurde abgelehnt. Aber Herr K. verliess die Schweiz nicht. Das ist kein Einzelfall. Neben Herrn K. gibt es 594 weitere Algerierinnen, die das Land verlassen müssten. Da sie nicht freiwillig ausreisen, bleibt den Behörden nur eine Zwangs­rückführung. Die ist aber – auch aus diplomatischen Gründen – gar nicht so einfach.

So geschieht es, dass abgewiesene algerische Asylsuchende in der Schweiz immer wieder aufs Neue verhaftet werden – mal wegen illegalen Aufenthalts, mal, um einen Ausschaffungs­versuch vorzubereiten.

Nicht immer geht es dabei mit rechten Dingen zu.

Ort: Zürich
Zeit: 19. Mai 2022
Fall-Nr.: VB.2022.00248
Thema: Ausschaffungshaft

Jemand musste etwas im Schilde führen, denn ohne dass Herr K. etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.

Es war am 20. April dieses Jahres, als um 8.30 Uhr morgens mehrere Polizisten die Container­siedlung am Rande des Flughafens Zürich betraten und Herrn K., einen 44-jährigen Algerier, der seit 19 Jahren in der Schweiz lebt, festnahmen.

Er solle seine Sachen packen, sagten sie ihm. Er werde ausgeschafft. Herr K. kannte das Prozedere, denn es war nicht das erste Mal, dass ihn die Polizei ins Gefängnis steckte. Er wehrte sich nicht. Aber er verweigerte die Aussage und verlangte ein Gespräch mit seinem Anwalt, so, wie es sein Recht war. Das wurde ihm verwehrt.

So schildert es Herr K. Und so steht es auch in der Beschwerde, die sein Anwalt später am Verwaltungs­gericht Zürich eingab.

Die Polizisten brachten ihn stattdessen in einen doppelt eingezäunten, grauen Klotz mit vergitterten Fenstern. Flugzeuge donnerten darüber hinweg. Das Flughafen­gefängnis von Zürich befand sich nur wenige Schritte von der Container­siedlung entfernt, in der er bis dahin gewohnt hatte. Im Flughafen­gefängnis werden abgewiesene Asyl­bewerberinnen eingesperrt, die gegen die Aufenthalts­bestimmungen verstossen haben oder – wie im Fall von Herrn K. – abgeschoben werden sollen.

In der Zelle blieben Herrn K. zwei Dinge: die Gewissheit, dass er das Gefängnis schon mehr als einmal durch­gestanden hatte. Und die Hoffnung, dass dies das letzte Mal sein würde.

Als Herr K. vor dreieinhalb Jahren schon einmal in Ausschaffungs­haft sass, besuchte ich ihn ein paar Mal im Flughafen­gefängnis. Ende 2018 war er einmal mehr festgenommen worden. Er wusste nicht mehr, wie oft ihm das schon passiert war. Was aber aus seinen Akten hervorging: Er hatte schon über siebzehn Monate im Gefängnis verbracht. Dabei hatte er sich seit über zehn Jahren nichts mehr zuschulden kommen lassen – ausser dem immer gleichen ausländer­rechtlichen Delikt, das allein in der Anwesenheit seines Körpers begründet lag: illegaler Aufenthalt.

Schon damals hatte ein Gericht festgestellt, dass die Inhaftierung rechtswidrig war, weil er die maximale Haftdauer von zwölf Monaten abgesessen hatte. Also steckte man ihn unter dem einzigen Titel ins Gefängnis, der noch blieb: Ausschaffungs­haft. Dabei war aufgrund seiner Vorgeschichte und seiner Bekundungen absehbar, dass er nicht freiwillig in ein Flugzeug nach Algerien steigen und eine Zwangs­ausschaffung auf einem Linienflug deshalb unrealistisch sein würde. Und Sonder­flüge akzeptierte Algerien (damals wie heute) nicht.

Die Behörden versuchten es dennoch. Sie fuhren Herrn K. nach Genf, brachten ihn auf einen Linienflug von Air Algérie, aber Herr K. wehrte sich, sodass der Kapitän der Flug­gesellschaft sich weigerte, ihn an Bord zu nehmen.

Ein paar Wochen später musste Herr K. entlassen werden.

Bei meinen Besuchen im Flughafen­gefängnis hatten wir über sein Leben in der Schweiz gesprochen: über seine Flucht aus Algerien im Jahr 2003, über die Schwierigkeiten, mit denen er anfangs zu kämpfen hatte, über die Fehler, die er damals beging (er wurde mehrmals beim Klauen erwischt und einmal mit einer Spielzeug­pistole angehalten), über das Überleben als Sans-Papiers – und auch über die Zukunfts­pläne, die er schmiedete: Er wollte seinen Aufenthalts­status endlich legalisieren und ein Härtefall­gesuch einreichen.

Er erfüllte fast alle Bedingungen dafür: Er lebte seit fast zwanzig Jahren als abgewiesener Asyl­bewerber in der Schweiz, hatte sich in dieser Zeit ein grosses Netz aufgebaut, war gut in Zürich verankert, bezahlte seine Krankenkassen­prämie und hatte seit Jahren nicht mehr gegen das Strafrecht verstossen.

Wie gut sich Herr K. allen Widrigkeiten zum Trotz hier integriert hatte, lässt sich aus zahlreichen von Freunden und Bekannten verfassten Referenz­schreiben herauslesen. Sie sollten den Behörden bei ihrer Einschätzung des Gesuch­stellers helfen.

Blättert man durch die Schreiben, liest man von einem hilfs­bereiten, willens­starken und humorvollen Mann, der fast die Hälfte seines Lebens in der Schweiz verbracht hat und vermutlich mehr über dieses Land und seine Leute weiss als viele Schweizer.

In den Briefen erzählen Freundinnen und Bekannte von gemeinsamen Wanderungen im Appenzeller­land, über Besuche von Spielen des FC Zürich, von Ausstellungen und kulturellen Veranstaltungs­reihen in der Region, die sie mit ihm sahen oder gar organisierten. Eine Architektin schrieb, Herr K. habe ihr geholfen, sich nach ihrer Ankunft in der Schweiz zurecht­zufinden: «Ich selbst wohnte erst seit Mai 2021 in der Schweiz und war sehr froh, aufgeschlossene und wissbegierige Menschen wie Herrn K. kennen­gelernt zu haben.» – Der illegalisierte Ausländer als Integrations­helfer.

Eine Bedingung aber hatte Herr K. in all diesen Jahren in der Schweiz nicht lückenlos erfüllt: Er wohnte nicht immer in einem der für abgewiesene Asyl­bewerber vorgesehenen Rückkehr­zentren.

Es sind die schäbigsten aller Asyl­unterkünfte: Den Bewohnerinnen wird dort mit allen möglichen Mitteln das Leben in der Schweiz so madig gemacht, dass sie möglichst «freiwillig» in ihr Herkunfts­land zurück­reisen. Herr K. aber zog es vor, bei Freunden in WGs zu leben. Deswegen hatten die Behörden 2018 sein erstes Härtefall­gesuch abgelehnt: Es hiess, er sei zwischen­zeitlich untergetaucht.

Als er im Frühling 2019 das Gefängnis verlassen durfte, nahm er sich vor, auch diese letzte Bedingung zu erfüllen, fünf Jahre nicht unterzutauchen, um dann erneut ein Härtefall­gesuch stellen zu können.

Dreieinhalb Jahre hielt er sich eisern an die Regeln: Er zog in das Rückkehr­zentrum Rohr, die Container­siedlung nur wenige Schritte vom Flughafen­gefängnis entfernt, kritzelte jeden Tag zweimal seinen Namen auf ein Papier und belegte damit seine Anwesenheit in der Not­unterkunft. Er erhielt dafür täglich 8 Franken Nothilfe­geld und vermied es, irgendetwas zu tun, was den Erfolg des Härtefall­gesuchs hätte in Gefahr bringen können. Kurz: Er kam seiner «Mitwirkungs­pflicht», die das Gesetz vorschreibt, vollumfänglich nach.

Doch dann kam der 20. April 2022, und Herr K. wurde – einmal mehr – festgenommen und in Ausschaffungs­haft gesteckt.

Sein Anwalt erhob sofort Beschwerde gegen die Haft. Er begründete es im Wesentlichen wie folgt:

  • Herr K. sei das rechtliche Gehör verwehrt worden, als die Polizei ihm das Gespräch mit dem Anwalt verweigerte. Deshalb habe Herr K. auch nicht am Haftüberprüfungs­verfahren teilgenommen. (Herr K. wollte nicht ohne rechtliche Vertretung daran teilnehmen.)

  • Das Zwangsmassnahmen­gericht, das innerhalb von 96 Stunden über die Recht­mässigkeit und Angemessenheit der Haft zu befinden hatte, habe diese Frist missachtet.

  • Ausserdem gebe es überhaupt keinen Grund zur Annahme, dass Herr K. unter­tauchen würde, zumal er seit dreieinhalb Jahren gleich neben dem Flughafen­gefängnis wohne und diesen Ort auch nie in rechtswidriger Weise verlassen habe. Es sei im Übrigen weder ein Flug nach Algerien für Herrn K. gebucht noch seien die entsprechenden Papiere für eine Ausschaffung vorbereitet worden.

Vier Wochen sass Herr K. im Flughafen­gefängnis, ohne zu wissen, wie es nun weiter­gehen würde. Dann, am 17. Mai 2022, betraten vier Polizisten seine Zelle.

Du hast jetzt einen Flug nach Algerien, sagten sie ihm. Ab heute bist du frei. So schildert es Herr K.

Vier Polizisten nahmen ihn mit, machten ihn auf einem Stuhl fest, gefesselt an Händen und Füssen. Herr K. soll sich dagegen gewehrt und die Polizisten darauf hingewiesen haben, dass sie das nicht tun dürften. Aber die Polizisten sollen bloss geantwortet haben: Das ist eine internationale Ausschaffung. Das laufe immer so. Am Ende hätten sich sechs Polizisten um ihn gekümmert, sagt Herr K. Sie hätten ihn geschlagen, um ihn gefügig zu machen, bis er am ganzen Körper festgezurrt war und sich nicht mehr bewegen konnte.

Dann brachten sie ihn zu einer Maschine der Turkish Airlines. Herr K. schrie, so fest er konnte, sagte, er wolle mit dem Piloten reden, er wolle nicht ausgeschafft werden. Viele Piloten weigern sich, einen renitenten Passagier an Bord zu nehmen, weil es für die anderen Passagiere Angenehmeres gibt, als mit einem am ganzen Körper gefesselten und von mehreren Polizisten begleiteten Mann in einem Flugzeug zu sitzen, der ununterbrochen und aus vollem Leib um Hilfe schreit.

Dieses Mal war es anders. Das Personal von Turkish Airlines habe nur gelacht und Herrn K. vor dem Abflug gesagt: Du hast keine Chance.

Am 17. Mai 2022 wurde Herr K. komplett gefesselt und begleitet von Polizisten nach Istanbul überstellt. Dort sperrte man ihn bis in die frühen Morgen­stunden in einen Raum, bis er keinen Ausweg mehr sah und sich bereit erklärte, in ein Flugzeug nach Algerien zu steigen. Wenige Stunden später, es war mittlerweile der 18. Mai, landete Herr K. in Algier.

Am 19. Mai erhielt Herr K. eine Nachricht aus der Schweiz. Das Verwaltungs­gericht des Kantons Zürich habe seine Beschwerde nun geprüft und ein Urteil gefällt.

«Die Beschwerde wird gutgeheissen», steht darin.

Herr K. war zu Unrecht im Gefängnis gesessen, da das Zwangs­massnahmen­gericht, das die Ausschaffungs­haft zu überprüfen hatte, das Urteil nicht rechtzeitig eröffnet, sondern die Frist um 72 Stunden verpasst hatte. Dabei gelte «die richterliche Haft­kontrolle innert 96 Stunden» als «zentrale prozessuale Garantie», die «vor einem willkürlichen Entzug der Freiheit schützen soll». Ein so schwer­wiegender und eindeutiger Verfahrens­fehler, dass sich das Verwaltungs­gericht mit den anderen Beschwerde­punkten wie etwa der Verweigerung des rechtlichen Gehörs nicht einmal auseinander­setzte.

«Der Beschwerde­führer», heisst es im Urteil des Verwaltungs­gerichts, «ist umgehend aus der Ausschaffungs­haft zu entlassen.»

Das Urteil kam zwei Tage zu spät.

Illustration: Till Lauer

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