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Die Schrecklichen zur Einsicht bringen

Kann man von kriegslüsternen Macht­habern Selbst­kritik erwarten? Unbedingt, meinte der Renaissance­maler Raffael. Heute dagegen möchten einige Intellektuelle einen Gewalt­herrscher vor allen Kränkungen bewahren.

Von Kia Vahland, 31.05.2022

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«Ich folge meinen Instinkten, und ich liege nie falsch», sagte Benito Mussolini. Wer das anders sah und den Ansichten des Duce widersprach, erfuhr alle Repressalien des faschistischen Staates, der Wider­rede nicht duldete. Mussolini wurde 1945 von italienischen Partisanen erschossen; als role model moderner Diktatoren sowie rechter Populisten dient er trotzdem bis heute.

Was sie nicht alles von seinen Instinkten gelernt haben: von law and order reden, aber jedes Recht brechen. Im Namen der Nation Eroberungs­kriege anzetteln, aber auch das eigene Land in den Abgrund führen. Den Volks­tribun spielen, aber sich und die eigene Clique auf Kosten des Volkes bereichern. Ein hyper­viriles, sexualisiertes Selbst­bild mit nacktem Ober­körper pflegen und zugleich Vergewaltigungs­witze reissen und Frauen erniedrigen. Mit der eigenen Gewalt­bereitschaft prahlen. Und dann: alle Wider­sprüche in einer enormen Propaganda­schlacht zu Kennzeichen wahrer Grösse umdeuten.

Auch Bürgerinnen haben gelernt von Mussolini und anderen strongmen, wie die Historikerin Ruth Ben-Ghiat antidemokratische Potentaten und Möchtegern-Allein­herrscher des 20. und 21. Jahrhunderts nennt. Sie haben gelernt, sich einzufühlen in die Psyche extremistischer Macht­haber und zu überlegen, was diese so kränken könnte, dass sie ihre noch schlimmeren Drohungen wahr machen.

Im Umgang mit Wladimir Putin sind es Intellektuelle und Politikerinnen im freien Westen, die voraus­eilend erörtern, was den Mann im Kreml alles reizen, ja «demütigen» (so die «Emma»-Heraus­geberin Alice Schwarzer) könne, mit welchen Zugeständnissen man ihm helfen müsse, sein Gesicht zu wahren, wenn er in der Ukraine nicht bekommt, was er will.

Es ist Putin selbst, der sich als beängstigend unberechenbar inszeniert. Die Aufgabe unabhängiger Intellektueller wäre es, die genauen Wirk­mechanismen dieser Propaganda offenzulegen – und zu verstehen, dass jemand, der die Wirklichkeit so umdeutet wie der russische Regierungs­chef, sowieso auch Niederlagen zu Erfolgen erklären wird.

In der Vormoderne gingen manche Denkerinnen und Künstler noch viel weiter: Sie lehnten es nicht nur ab, einem üblen Macht­haber zu helfen, sein Gesicht zu wahren. Sie erschufen ihm einfach ein neues. Der Renaissance-Papst Julius II., geborener Giuliano della Rovere, hiess in der Bevölkerung nur il terribile, der Schreckliche. Er war ein unleidlicher Charakter, aufbrausend, kleinlich, und ein Kriegs­treiber war er auch. Allein 1512 in der Schlacht von Ravenna gegen die Franzosen fielen 12’000 bis 15’000 Soldaten, die meisten aufseiten des Kirchen­staates – eine damals unvorstellbar hohe Zahl.

Raffael, «Papst Julius II.»: Was sieht «il terribile», der Schreckliche, wenn er in sich geht? The National Gallery London/akg

Raffael porträtierte Julius wohl im Jahr 1511. Er entschied sich, den Papst nicht als den zu malen, der er war, sondern als jenen, der er sein könnte (zu sehen ist das Bildnis heute in der National Gallery in London). Weder ein Schwert gibt Raffael Julius mit noch Tiara oder Sänfte. Stattdessen setzt er ihn in einem Vorzimmer seines Palastes auf einen Sessel mit Eichel­knöpfen, dem Symbol der della Rovere. Mit der Linken hält der Heilige Vater sich an seinem Stuhl fest; seine Mozetta, sein Umhang, umfängt ihn dunkelrot schimmernd. Doch sein Gesicht und die leicht gebeugte Körper­haltung wirken nicht herrisch, sondern nachdenklich und betrübt. Er hat tiefe Ringe unter den Augen, sein Blick scheint nach innen zu gleiten. Sein Bart ist mit dünnstem Pinsel gestrichelt, er umrandet das Gesicht wie fein gesponnene Wolle und heischt in dieser Zartheit nicht nach Ehrfurcht, sondern nach Sympathie. Der Bart kündet von den Niederlagen gegen die Franzosen; Julius hatte geschworen, sich erst wieder zu rasieren, wenn die militärische Lage sich bessern sollte.

Es ist die intimste Nahsicht, die es bis dahin von einem Papst gegeben hat. In seiner Besinnung wirkt Julius fast zerbrechlich. Der oberste Feldherr als selbst­kritischer, realistischer Denker, der gerade in seiner Schwäche stark ist wie sein Symbol, die Eiche: Auch das mag Propaganda sein, nur eine besonders geschickte. Es ist aber womöglich zugleich der Versuch, von unten zu regieren und dem Chef ein anderes, humanistischeres Selbstbild schmackhaft zu machen als das des unzurechnungs­fähigen Wüterichs. Kein unfehlbarer Instinkt­herrscher soll Julius sein, sondern jemand werden, der Verantwortung für seine Taten und Fehlschläge übernimmt.

Dieses Konzept entwickelten Denker und Künstler im Barock weiter, als Kritik an der Macht noch schwieriger geworden war als vor der Gegen­reformation. Der Schrift­steller Torquato Accetto sprach im 17. Jahrhundert von dissimulazione onesta, ehrlicher Verstellung. In der bildenden Kunst hiess das, einen Herrscher in seinen Räumen und Bildern immer wieder auf gesellschaftliche Ziele wie Frieden, Freiheit, Wohlstand zu verpflichten und ihn nicht damit davon­kommen zu lassen, sich als Regel­brecher und Gewalt­täter auch noch zu feiern.

Julius gefiel sich auf Raffaels Bildnis. Er liess es in Kirchen aufstellen und mehrfach reproduzieren (eine mässige Kopie, wohl aus Raffaels Werkstatt, hängt im Städel­museum Frankfurt). Einige Monate nach Julius’ Tod im Jahr 1513 kam es zu einem regelrechten Volks­auflauf in der römischen Kirche Santa Maria del Popolo, als dort Raffaels originales Bildnis zu sehen war. Der gemalte Denker-Herrscher scheint auch eine – unerfüllte – Sehnsucht der Bürger nach umsichtiger Führung getroffen zu haben.

Solche optimistischen Bildideen haben den Lauf der Geschichte nicht grund­legend geändert, und sie sind heute im Zeitalter der Fotografie nicht wiederholbar. Sie formulierten aber eine Erwartung an Herrschaft, der sich diese stellen musste. Das ist um einiges souveräner, als sich freiwillig den lächerlichen Selbst­bildern manipulativer und uneinsichtiger Tyrannen unter­zuordnen und sogar Kriegs­verbrecher vor den Folgen ihrer Taten beschützen zu wollen.

Nicht wir müssen den Regierenden gefallen, sondern sie uns.

Illustration: Alex Solman

Zur Literatur

Ruth Ben-Ghiat: «Strongmen. Mussolini to the Present». W. W. Norton & Company, New York 2021. 400 Seiten, ca. 26 Franken.

Kia Vahland: «Michelangelo & Raffael. Rivalen im Rom der Renaissance». C. H. Beck, München 2012. 207 Seiten, ca. 32 Franken.

Ulrich Pfisterer: «Raffael. Glaube, Liebe, Ruhm». C. H. Beck, München 2019. 384 Seiten, ca. 80 Franken.

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