Die Malediven als lebenswertes Urlaubsziel? Alle Bilder in diesem Beitrag stammen vom Inselstaat im Indischen Ozean. Hier die Hauptstadt Malé, im Vordergrund der internationale Flughafen.

Das Klima-Paradox

Die soziale Frage für das Zeitalter der Klimakrise: Denker wie Dipesh Chakrabarty und Pierre Charbonnier formulieren sie. Und benennen die Konflikt­linien der Klimagerechtigkeit.

Von Daniel Graf (Text) und Sébastien Leban (Bilder), 28.05.2022

Synthetische Stimme
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In Indien herrschen seit Anfang Mai Temperaturen von über 45 Grad Celsius. Zuvor hatte auf dem Subkontinent bereits der April Hitzerekorde gebrochen. Und davor der März.

Den gesundheits­gefährdenden, teilweise lebens­bedrohlichen Temperaturen ist der arme Teil der Bevölkerung schutzlos ausgesetzt. Den Privilegierteren bleiben als Gegenmittel: Klima­anlagen. Diese laufen also seit Wochen auf Hochtouren – und werden weitgehend mit Kohle betrieben. Falls es noch ein Bild für die Selbst­befeuerungs­spirale der Klimakrise gebraucht hat: In Indien ist es derzeit ganz unmetaphorisch zu beobachten.

Just in diesen Wochen ist das grosse, von vielen lange erwartete Klimabuch des Historikers Dipesh Chakrabarty auf Deutsch erschienen, der seit einem bahnbrechenden Aufsatz von 2009 zu den weltweit meistdiskutierten Stimmen der Klima­debatte gehört. «Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter» ist die Summe von Chakrabartys bisherigem Nach­denken über die Klima­krise. Wie der etwas erratische Titel andeutet, geht die Perspektive des Buches weit hinaus über den üblichen Forschungs­bereich der Geschichts­wissenschaft, hinein in die völlig anderen Zeit­dimensionen von Geologie und Erdsystem­forschung, von dort zurück in die unmittelbar drängenden Fragen der Gegenwart. Und dass der heute in Chicago lehrende Chakrabarty in Kolkata geboren ist, in dem Land also, das seit Wochen von einer verheerenden Hitzewelle heimgesucht wird, ist für die Konflikt­fragen, die sein Buch verhandelt, von weit mehr als bloss anekdotischer Relevanz.

Nun erscheint in diesen Tagen ein zweites Buch auf Deutsch, das sich für eine vergleichende Lektüre mit Chakrabartys Text anbietet, vielleicht sogar aufdrängt: die ideen­geschichtliche Studie «Überfluss und Freiheit» des französischen Philosophen Pierre Charbonnier. Obwohl beide Denker – trotz gemeinsamer geistes­geschichtlicher Referenzen – grundverschiedene Schreibstile, Perspektiven und Methoden wählen, treffen sie sich inhaltlich an den entscheidenden Punkten. Beide Bücher machen mit Nachdruck deutlich: Die Klimakrise wird nur zu bewältigen sein, wenn wir sie auch als soziale Frage begreifen. Ökologische Fragen sind von Fragen sozialer Gerechtigkeit nicht zu trennen.

Zu den Bildern

Die Bildserie zu diesem Beitrag stammt vom französischen Fotografen Sébastien Leban. In seinen Arbeiten dokumentiert er unter anderem die Folgen des Klima­wandels. Hier am Beispiel der Malediven – ein Sehnsuchtsort für viele Urlaubs­suchende, aber auch eine Region, die vom Klima­wandel direkt betroffen ist: Die Meeres­spiegel steigen wegen der Klima­erwärmung an, und die Malediven liegen nur gerade einen Meter über dem Meeres­spiegel. Es ist der Kontrast zwischen Urlaubs­idylle und Folgen des Klima­wandels, den Leban in seinen Bildern herausarbeitet.

Diese Erkenntnis hat unter dem Schlagwort Klima­gerechtigkeit bereits Einzug in den politischen Diskurs und eine Vielzahl von Büchern gehalten. Sehr viel stärker als bisher aber schärfen Chakrabarty und Charbonnier unsere Sinne für die Konflikt­linien, die zwischen ökologischen und sozialen Anliegen verlaufen – und dafür, dass mühsam erkämpfte Freiheiten und Wohlstands­gewinne über Jahr­hunderte hinweg auf der völligen Vernachlässigung ökologischer Aspekte basierten.

Unmissverständlich machen Chakrabarty und Charbonnier klar, dass wir Gerechtigkeit in Zeiten der Klimakrise grundlegend neu denken müssen: als Fragen­komplex von Macht und Verantwortung zwischen Menschen. Und zugleich über den Menschen hinaus.

1. Dialektik der Freiheit

Dass «Überfluss und Freiheit» in Frankreich quer durch die Medien­landschaft diskutiert wurde, ist, obwohl dieses Buch blitzgescheit ist, ein kleines Wunder. Selbst die gekürzte Fassung in deutscher Übersetzung von Andrea Hemminger ist mit ihren gut 500 Seiten noch ein ziemlicher Brocken. Vor allem aber ist «Überfluss und Freiheit» kein süffig geschriebenes Publikums-Sachbuch, sondern quellengesättigte, von stupender Belesenheit getragene Philosophie – akademischer Sound durchaus inbegriffen.

Charbonniers Grundüberlegung: Der Diskurs über Umwelt­verschmutzung und -zerstörung ist vergleichs­weise jung. Sehr viel älter allerdings ist das Nachdenken über unsere «kollektiven Beziehungen zur materiellen Welt», also wie wir natürliche Ressourcen einsetzen, um unsere Bedürfnisse zu stillen; wie wir Land als Wohnraum in Besitz nehmen; wie der Mensch der Agrar­gesellschaft Land als Nahrungs­quelle nutzbar macht; wie er dem Boden seit der industriellen Revolution nicht mehr nur Nahrung, sondern die fossilen Energie­träger entnimmt.

Zwingend in Plastikflaschen: Auf den Malediven gibt es kein Trinkwassersystem.
Müllentsorgung auf der Insel Maafushi.

Den Autor interessiert nun, wie all diese Techniken des Umgangs mit der Natur zu unterschiedlichen Zeiten bewertet und begründet werden. Und vor allem, wie die Auseinander­setzung über Sinnhaftigkeit und Zweck dieses Umgangs die zentralen Begriffe im politischen Denken der Moderne mit hervorbringt: Freiheit, Gleichheit, Eigentum, Sicherheit, Wohlstand.

Charbonnier also geht es um eine ökologische Ideen­geschichte, die schon lange vor der Geschichte des Umwelt­bewusstseins beginnt. Dazu unternimmt er einen atemberaubenden Ritt durch die Denk­landschaften der letzten gut 400 Jahre: von Hugo Grotius und John Locke über Adam Smith, Alexis de Tocqueville, Pierre-Joseph Proudhon, Karl Marx und Émile Durkheim bis zu Thorstein Veblen und Karl Polanyi.

Die Pointe, die Charbonnier aus der Summe minutiöser Einzel­lektüren heraus­profiliert: Die Art und Weise, wie moderne Gesellschaften ihre Fortschritts­versprechen konzipiert und (immer nur für manche Menschen) verwirklicht haben, basierte im Lauf der Jahrhunderte in immer höherem Masse auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Charbonniers Buch ist also massgeblich auch eine materielle Geschichte vom menschlichen «Gebrauch der Welt»:

Die Bedeutung, die wir der Freiheit geben, die Mittel, die eingesetzt wurden, um sie einzuführen und zu bewahren, sind keine abstrakten Konstrukte, sondern Produkte einer materiellen Geschichte, in der Böden und Bodenschätze, Maschinen und die Eigenschaften von Lebewesen entscheidende Handlungshebel geliefert haben.

Aus: Pierre Charbonnier, «Überfluss und Freiheit».

Das wirft auch eine andere Perspektive auf zwei einander entgegen­gesetzte Gross­erzählungen vom menschlichen Fortschritt.

Auf der einen Seite steht die «Alles wird immer besser»-Fraktion, wie sie vielleicht am prominentesten vom Psychologen und Linguisten Steven Pinker verkörpert wird. Auf der anderen Seite: eine Schadens­bilanz, eine immer länger werdende Liste bereits eingetretener und bald drohender Verheerungen.

Die eine Seite zückt reihenweise Langzeit-Global-Statistiken und sagt: Rückgang von extremer Armut, Kinder­sterblichkeit, Unter­ernährung, Zunahme von Lebens­erwartung, Alphabetisierung, Median­einkommen weltweit. Die andere Seite verweist auf die Wissenschaft der Gegenwart und sagt: sechstes grosses Arten­sterben, Zunahme von Extremwetter­katastrophen, Hunger- und Migrations­krisen, drohende Selbst­auslöschung. Charbonnier schliesslich sagt: Es besteht kein Widerspruch. Beide Erzählungen bilden komplementär die Bilanz der menschlichen Freiheits­expansion, der Ausweitung unserer Einflusszone. Die Erfolgs­geschichte der Moderne mit ihren unbestreitbaren Fortschritts­gewinnen und die Geschichte des drohenden Klima­kollapses – sie sind ein und dieselbe. Die alte Leibniz-Frage, ob wir in der besten oder schlechtesten aller Welten leben, ist dann auch müssig, denn:

Es ist möglich, zumindest für einige, in einer Welt, die sich verschlechtert, besser zu leben.

Charbonniers Dialektik der Freiheit reicht allerdings weiter. Im historischen Panorama seines Buches wird deutlich: Wenn der Mensch der Moderne seine wachsende kollektive und individuelle Autonomie auf den immer stärkeren Verbrauch von Ressourcen gegründet hat, dann ist die gegenwärtige Phase der ökologischen Ideen­geschichte diejenige, in der immer klarer (und verheerender) zutage tritt, dass die Folgen dieser Energie­gewinnung nie adäquat eingepreist waren. Und das greift nun die Grundlage des gesamten Fortschritts­projektes an.

Charbonnier in einem geradezu Bonmot-artigen Satzanfang – auf den eine abgründige Ergänzung folgt:

Es gibt nichts, was materieller ist als die Freiheit, insbesondere die Freiheit der modernen Gesellschaften, die mit den Produktions­kapazitäten der Erde und der Arbeit einen Pakt geschlossen haben, der nun brüchig wird.

Weil der moderne Freiheits­erwerb auf eine «Reihe von Über­beanspruchungen der Umwelt» gebaut ist, droht mit der Überhitzung des Klimas nun die maximale Unfreiheit: die Zerstörung der eigenen Existenz­grundlage.

Just an diesem Punkt wird auch die Untrennbarkeit von ökologischer und sozialer Frage besonders offensichtlich – weil zeitgleich mit den klimatischen Folgen der menschlichen Freiheits- und Wohlstands­gewinne umso krasser vor Augen tritt, wie viele Menschen davon bisher ganz oder teilweise ausgeschlossen waren. Der Kampf gegen die Klimakrise steht also zugleich unter der Prämisse, dass das Wohlstands­versprechen der Moderne in vielen Teilen der Welt und für einen Grossteil der Menschen überhaupt erst noch einzulösen ist.

Das ist – neben dem Mensch-Natur-Verhältnis – gewisser­massen der zweite historische Strang, der an den gegenwärtigen Punkt führt. In einer Welt radikal ungleicher Lebens­verhältnisse bestehen die grossen Emanzipations­kämpfe bis heute darin, die Freiheiten der wenigen auch für die bisher Ausgeschlossenen zu erstreiten. Diesen langen, noch unvollendeten Prozess nennt Charbonnier «Symmetrisierung»: ein treffender Ausdruck, der deutlich macht, dass damit Schieflagen korrigiert und die Ideen der Aufklärung auf ihre universelle Gültigkeit verpflichtet werden.

Die Klimakrise aber verschärft die Ausgangs­lage auch hier:

Die Kämpfe für Gleichheit und Freiheit, gegen Beherrschung und Ausbeutung, haben die Menschheits­geschichte stets angetrieben. Doch sind sie zunehmend in einen Konflikt eingebettet, dessen Gegenstand der Boden – der diese Grund­divergenzen noch verstärken kann – und dessen Schutz ist.

Es geht also darum, zwei untrennbar ineinander verschränkten Mega­problemen gleichzeitig zu begegnen: der Klimakrise und den offen gebliebenen Gerechtigkeits­versprechen der Moderne.

Wie beides zusammen­gedacht werden kann, ist die Frage, die auch Dipesh Chakrabarty umtreibt. Und sein Verdienst, ebenso wie das von Charbonnier, besteht darin, beides zu tun: einerseits keinen Zweifel daran zu lassen, dass die Gerechtigkeits- und die Klimafrage zusammen gedacht und gelöst werden müssen. Andererseits die Gefahr anzuerkennen, dass sich schlimmsten­falls beide Anliegen wechsel­seitig sabotieren.

Die Erweiterung der Insel Maafushi, damit mehr Hotelanlagen Platz haben.

Mit anderen Worten: Es gibt einen Imperativ der Vereinbarkeit – und zugleich ein Problem der Vereinbarkeit, solange Freiheit und Wohlstand auf ihren bisherigen materiellen Voraus­setzungen errichtet werden. Wenn die Basis für wachsenden Wohlstand und Autonomie historisch die Ausbeutung der Natur und seit der Industrialisierung vor allem ihrer fossilen Energie­träger war und wenn ebendiese Ressourcen­nutzung mittlerweile zur Existenz­bedrohung für die Menschheit geworden ist, dann braucht Charbonniers Symmetrisierung eine neue materielle Grundlage.

Das heisst nichts anderes, als dass auch die Zukunfts­versprechen der Moderne dekarbonisiert werden müssen. Da weder eine Ökodiktatur noch ein realitäts­blinder Ressourcen-Hedonismus die Lösung sein kann, braucht es, wie Charbonnier formuliert, eine «Neudefinition des Projekts der Autonomie»:

Der theoretische und politische Imperativ von heute besteht somit darin, die Freiheit im Zeitalter der Klimakrise, das heisst im Anthropozän, neu zu erfinden.

Charbonnier, «Überfluss und Freiheit».

Eine Autonomie-Konzeption fürs Anthropozän – dies und nichts weniger ist die Aufgabe. Ihr hat auch Dipesh Chakrabarty sein Buch gewidmet. Und die gegenwärtigen Problem­stellungen zwischen sozialen und ökologischen Anliegen zeichnet er noch einmal schärfer.

2. Paradoxien der Klimakrise

Weil Paradoxien und gegenläufigen Denk­bewegungen in Chakrabartys grosser Klimakrisen-Analyse eine gewichtige Rolle zukommt, darf man vielleicht voraus­schicken, dass es sich auch mit seinem Buch ein wenig paradox verhält.

Falls es jemals Chakrabartys Ziel gewesen sein sollte, aus den zahlreichen Aufsätzen und Vorarbeiten ein konsequent durch­komponiertes, schlackenlos argumentiertes Sachbuch zu bauen, müsste man das Unter­nehmen wohl als spektakulär gescheitert betrachten. Nur: Eines der relevantesten, anregendsten, kenntnis­reichsten und dringlichsten Bücher der letzten Jahre ist «Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter» trotzdem – ungeachtet aller Redundanzen, gedanklichen Sprünge und eines fröhlichen Eklektizismus unter­schiedlicher Denk­schulen, der zugleich Chakrabartys grosse Stärke ist.

Chakrabarty beginnt mit dem grundlegenden Klima-Paradox, genauer gesagt: mit der fundamentalen Paradoxie des Anthropozäns; jenes gerade angebrochenen Erdzeitalters also, in dem das Handeln des Menschen auch nach geologischen Zeit­massstäben tiefe – konkreter: verheerende – Auswirkungen auf die Zukunft der Erde hat.

Kurz gesagt, haben die Menschen die Fähigkeit erlangt, in planetarische Prozesse einzugreifen, sie sind aber nicht unbedingt – zumindest noch nicht – in der Lage, sie wieder in Ordnung zu bringen.

Aus: Dipesh Chakrabarty, «Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter».

In den weniger höflichen Worten von Pierre Charbonnier klingt das so:

Darin liegt auch das ganze Paradoxon, das im Konzept des sich heute grosser Beliebtheit erfreuenden Anthropozäns zum Ausdruck kommt: Die Menschheit hat sich selbst eine solche Macht verliehen, dass sie zu einem geologischen Akteur geworden ist, doch hat sie gleichzeitig ein Monster geschaffen, ein Objekt, das weit ausserhalb der Reichweite ihrer Kontroll­fähigkeit liegt, auf die sie doch so stolz ist. Die Politik des Anthropozäns entlarvt so nur die eklatante Diskrepanz zwischen der Höhe der Anforderungen, die uns durch die Klima­prüfung aufgebürdet werden, und der Reichweite unserer Regulierungs­dispositive.

Charbonnier, «Überfluss und Freiheit».

Wer also in Gefahr ist, das viel diskutierte Konzept des Anthropozäns und die «beträchtliche biologische und geomorphologische Rolle des Menschen» (Chakrabarty) als erhebende Botschaft von der Macht des Menschen zu verstehen, der sei an die bisherige menschliche Kompetenz zur Problem­lösung erinnert.

Chakrabarty verschreibt unserer Spezies dann auch ein Gegen­programm zur «Krone der Schöpfung»-Denkweise.

Er lässt den Menschen schrumpfen – indem er den Bildausschnitt erweitert.

Wenn nämlich der Mensch zum geologischen Faktor geworden ist, dann konfrontiert uns die Klimakrise mit den Zeit­massstäben der Tiefen­historie, die unendlich weit über die Dimensionen der menschlichen Geschichte und die Geschichte der Neuzeit hinausgehen. Damit, so Chakrabarty, seien alle rein globalisierungs- und kapitalismus­kritischen Perspektiven auf die Klimakrise zu eng. Es brauche immer auch ein Denken, das den Menschen im gewaltigen Zeithorizont der Erdsystem­wissenschaft betrachtet – und damit relativiert. Seine Metapher dafür ist eine Verschiebung vom Massstab des Globus hin zu dem des Planeten:

Der Globus, behaupte ich, ist eine humano­zentrische Konstruktion; der Planet bzw. das Erdsystem dezentriert den Menschen.

Chakrabarty, «Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter».

Chakrabarty also will die Klimakrise nicht mit alleinigem Fokus auf die Menschheit verstehen. Vielmehr leitet er von der geomorphologischen Rolle des Menschen auch die besondere Verantwortung für alles Nicht­menschliche ab. Aber eben: das entscheidende Wort lautet auch.

Denn worum es Chakrabarty letztlich geht, ist eine doppelte, gegenläufige Denk­bewegung, vom Menschen weg und zum Menschen hin. Der Mensch im Anthropozän ist immer beides zugleich: Teil einer Spezies, die gemeinsam zu einer geophysischen Kraft geworden ist. Und Teil einer Spezies, die untereinander von immenser sozialer Ungleichheit bestimmt ist – sowohl innerhalb von Gesellschaften als auch zwischen den Nationen und Welt­regionen.

Dank Japans Hilfe: Die Inseln der Malediven haben viele Schutzwälle gegen hohe Flutwellen und Küstenerosion.

Das ist die zweite Paradoxie des Anthropozäns: Die Klimakrise verstehen bedeutet, die Perspektive über den Menschen hinaus zu richten – und gleichzeitig umso präziser auf die Verhältnisse zwischen Menschen.

«Die planetarische Umweltkrise», schreibt Chakrabarty, fordert uns dazu auf, «unsere Vorstellungen von Politik und Gerechtigkeit auf nichtmenschliche Wesen auszuweiten, und zwar sowohl auf lebendige als auch auf nicht­lebendige». Im Anschluss an Denkerinnen wie Donna Haraway, Jane Bennett, Philippe Descola oder Bruno Latour fordert Chakrabarty eine Ausdehnung des politischen Denkens auf andere Lebewesen und die Natur im Ganzen, und er mahnt, anknüpfend an Positionen etwa von Amartya Sen, dass nicht allein das menschliche Gedeihen wichtig sei.

Wichtig für wen?

Die Pointe bei Chakrabarty ist, dass er im Grunde einen Verantwortungs-Appell mit einem quasi­egoistischen Selbsthilfe­programm verbindet.

Erstens: Nicht um der Natur, sondern um des Menschen willen muss der Mensch die Klimakrise lösen. Die Natur an sich – das zeigt die lange Erdgeschichte – kommt auch ohne uns zurecht. Wenn es um die Bewohnbarkeit des Planeten geht, dann sprechen wir eben zuerst von Bewohnbarkeit für uns. Und wir hätten längst guten Grund, uns mit all den vom Arten­sterben bedrohten Wesen im selben Boot zu sehen.

Zweitens: Dieses Problem­bewusstsein über die menschliche Sphäre hinaus kann möglicher­weise als kollektives Ziel eine verbindende, universalistische Perspektive stärken. Denn die menschlichen Gesellschaften, die die Klimakrise gemeinsam bewältigen müssen, stehen zugleich vor gewaltigen Gerechtigkeits-Asymmetrien und entsprechenden Verteilungs­kämpfen.

Seit Jahren weisen die unterschiedlichsten Anwältinnen des Schlagworts Klima­gerechtigkeit darauf hin, dass die reichen Industrie­nationen historisch am meisten Emissionen verursacht haben, am meisten von ihnen profitiert und dementsprechend auch am meisten Verantwortung für die Einhaltung der Klimaziele hätten. Dies umso mehr, als die Ausbeutung der Natur historisch eng mit der kolonialistischen Ausbeutung verschränkt war, die die ökonomischen und politischen Macht­verhältnisse bis heute entscheidend prägt. Allen Lippen­bekenntnissen zum Trotz aber lassen die reichen Industrie­staaten die Entwicklungs- und Schwellenländer – die tendenziell am meisten unter den Folgen der Klima­erwärmung leiden – seit Jahren klimapolitisch im Extrem­wetter stehen.

Gerade vor diesem Hinter­grund hat es besonderes Gewicht, dass Dipesh Chakrabarty bereits einer der weltweit einfluss­reichsten Vertreter der Post­kolonialen Theorie war, bevor er zu einem wichtigen Denker der Klimakrise geworden ist. Und umso bemerkens­werter ist die Akzent­verschiebung, die er gegenüber anderen post­kolonialen Perspektiven auf die Klimakrise vornimmt.

«Historisch», betont auch Chakrabarty, «sind lediglich einige wenige Nationen (etwa 12 bzw. 14, wenn man China und Indien mehr oder weniger in den letzten zehn Jahren dazuzählt) und ein Bruchteil der Menschheit (ungefähr ein Fünftel) für den überwiegenden Teil der bisherigen Treibhausgas­emissionen verantwortlich.» Dann allerdings lässt er einen Argumentations­gang folgen, der auf den ersten Blick vor allem für linke Positionen zum Thema Klima­gerechtigkeit eine ziemliche Provokation darstellt. Der «anthropogene Klimawandel als solcher», schreibt Chakrabarty, sei «kein Problem früherer bzw. akkumulierter zwischen­menschlicher Ungerechtigkeit» – sondern letztlich eine Frage der Gesamt­menge an Treibhausgas.

Die Oberflächentemperatur des Planeten hängt von der Menge der Treibhaus­gase ab, die in die Atmosphäre gelangt. Für die Atmosphäre ist es egal, ob diese Gase auf einen gewaltigen Vulkan­ausbruch oder in sich ungerechte menschliche Gesellschaften zurückgehen.

Chakrabarty geht es an dieser Stelle überhaupt nicht um eine Gegen­überstellung von Vulkan­ausbrüchen und fossilem Energie­verbrauch, sondern um eine äusserste Zuspitzung der Gerechtigkeits­fragen zwischen Menschen. Sein eigentlicher Punkt ist der: Für die Atmosphäre ist es egal, welche Nationen die Treibhaus­gase verursachen – der Schaden ist immer derselbe. Es sei zwar vollkommen unstrittig, dass die reichen Länder historisch für die überwältigende Mehrheit der Emissionen verantwortlich seien. «Doch stelle man sich», so Chakrabarty, einmal «kontra­faktisch die Realität einer gerechteren Welt vor», in der der auf fossilen Brenn­stoffen basierende Wohlstand zwischen den Nationen gleich­mässiger verteilt wäre:

Solch eine Welt wäre zweifellos – zumindest im Hinblick auf Einkommens­verteilung und Wohlstand – egalitärer und gerechter, aber die Klimakrise wäre grösser! Unsere kollektive CO₂-Bilanz wäre noch schlechter als heute – weil die Armen der Welt wenig konsumieren und nicht viel zum Ausstoss von Treibhaus­gasen beitragen. Die Klimakrise wäre sehr viel früher und auf sehr viel drastischere Weise über uns herein­gebrochen. Ironischer­weise haben wir es den Armen – das heisst der Tatsache, dass die Entwicklung uneinheitlich und unfair ist – zu verdanken, dass wir nicht noch grössere Mengen an Treibhaus­gasen in die Atmosphäre entweichen lassen, als wir es derzeit tun.

Diese Sätze haben Sprengkraft. Und wenn es gut geht, sprengen sie einen Weg nach vorne frei.

Vielleicht muss man, um ihren genauen Kontext zu verstehen, noch einmal kurz die Rück­blende machen, die auch Chakrabarty vollzieht.

Bereits 1991 haben zwei der angesehensten indischen Umwelt­aktivistinnen, Sunita Narain und der 2002 verstorbene Anil Agarwal, eine einfluss­reiche Broschüre verfasst: «Global Warming in an Unequal World: A Case of Environmental Colonialism». Sie hat massgeblich die Leitidee von «gemeinsamer, aber unterschiedlicher Verantwortung» zwischen den reichen Industrie­nationen und den aufstrebenden Ländern geprägt.

Chakrabarty knüpft nun einerseits an genau diese Grund­idee an. Aber gegenüber gängigen Narrativen postkolonial inspirierter Forderungen nach Klima­gerechtigkeit verschiebt er den Akzent um eine wesentliche Nuance. Ohne dass er es explizit ausspricht, lautet seine Position viel eher: unter­schiedliche, aber gemeinsame Verantwortung. Seine Betonung liegt auf dem Verbindenden.

Wenn dazu gehört, den Blick nicht allein auf die humano­zentrische Geschichte zu richten, heisst das für Chakrabarty auch, dass die Geschichte der Ungleichheit nicht für Zwecke instrumentalisiert werden darf, die von den ökologischen Erfordernissen komplett abstrahieren.

Entsprechend scharf fällt Chakrabartys Kritik an einer solchen Politik aus: «Die Regierungen von China und Indien setzen den Bau von Kohle­kraftwerken fort und rechtfertigen diesen Schritt unter Berufung auf die Zahl der Menschen, denen dringend ein Ausweg aus der Armut geboten werden müsse.» Dies wiederum biete nord- und südamerikanischen Kohle­exporteuren enorme Absatz­möglichkeiten für eine eigentlich nicht mehr zeitgemässe Energie­form.

Dieser riesige Markt für Kohle wäre nicht entstanden, wenn China und Indien ihre Kohle­nutzung nicht unter Berufung auf die Bedürfnisse ihrer armen Bevölkerung gerecht­fertigt hätten.

Spätestens hier zeigt sich: Chakrabarty ist sicher der Letzte, der den Globalen Norden aus der Verantwortung lassen will – aber den Globalen Süden eben auch nicht.

Chakrabartys Interpretation von «gemeinsamer, aber unterschiedlicher Verantwortung» bedeutet mit Blick auf die historisch benachteiligten Nationen und Welt­regionen auch: Die Benachteiligung mit all ihren virulenten Gerechtigkeits­fragen darf keine Recht­fertigung dafür sein, nachholend exakt denselben Weg eines selbst­zerstörerischen Ressourcen­verbrauchs zu gehen wie die reichen Länder – weder im eigenen Interesse noch in dem der Menschheit insgesamt.

Aus einer westlichen Perspektive vorgetragen, könnte eine solche Argumentation opportunistisch und regelrecht zynisch wirken: als sollten die Subalternen nun durch edlen Verzicht die Zeche der einstigen Kolonial­nationen bezahlen – und die fortdauernden Ungleich­heiten weiter zementieren. Es ist deshalb alles andere als eine Neben­sächlichkeit, dass die Argumentation dieses Buches von einem indischen Pionier der Post­kolonialen Theorie kommt. Rein argumentations­logisch mag das unerheblich sein – ein Argument ist ein Argument, unabhängig davon, wer es vorträgt. Und doch ist der kommunikations­theoretische und psychologische Unterschied in dieser Problem­konstellation womöglich einer ums Ganze.

Man darf Chakrabartys Botschaft an die eigenen Landsleute und alle Subalternen vielleicht so formulieren: Unser künftiger Wohlstand muss – und kann! – ein anderer, nach­haltigerer, gesünderer werden als der zerstörerische der westlichen Industrie­nationen. So betont, klingt das wesentlich selbst­bewusster als eine Denkweise, die stets davon ausgeht, dass die Schwellen- und Entwicklungs­länder nicht anders können als den historischen Weg des Westens zu gehen – nur eben verspätet. Und es kann, vom Globalen Süden aus, eine Maxime liefern, an der sich zu orientieren auch der Westen gute Gründe hätte: Das gute Leben hat eine nicht fossile Zukunft.

3. Dem Dilemma begegnen

Wenn das fundamentale Klima-Paradox lautet, dass der Mensch zum mächtigen geologischen Akteur geworden, aber bisher nicht in der Lage ist, die daraus resultierende Bedrohung in den Griff zu bekommen, dann steht auch alles Nachdenken über die Klimakrise am Ende vor der Frage: Was trägt es zur Lösung bei?

Pierre Charbonnier schliesst seine ökologische Ideen­geschichte mit der Hoffnung auf «ein neuartiges kritisches kollektives Subjekt», das «die Entwicklung einer Post­wachstums­demokratie» vorantreibt. Auch wenn man mit guten Gründen bestreiten kann, dass es Aufgabe der Philosophie sei, eine konkrete politische Roadmap vorzulegen: Beides, Charbonniers kollektives Subjekt ebenso wie seine Vision einer Post­wachstums­gesellschaft, bleibt in seinem Buch konzeptuell unter­bestimmt. Dass er regressiven, technologie­feindlichen Lösungen eine vehemente Absage erteilt und sich sein politisches Kollektiv­subjekt im weitesten Sinne entlang von sozialistischen und postkolonialen Ideen denkt, wird immerhin deutlich. Im Rahmen seiner Ideen­geschichte aber bleibt diesen Überlegungen nur ein Platz innerhalb des finalen Ausblicks. Wie Charbonnier sich die Konturen jenseits dieser knappen Skizze denkt, bleibt ebenso offen wie seine Antwort auf den nahe­liegendsten Einwand: ob dieses kollektive Subjekt am Ende nicht doch wieder allzu sehr an einer persönlichen ideologischen Wunsch­vorstellung entlang entworfen ist.

Wenig Platz und viel Hektik in der Innenstadt von Malé.
Mehr Platz und Ruhe am Strand von Maafushi. Übrigens: Nicht weit entfernt vom weiter oben gezeigten Müllplatz.

Die grosse Stärke von Charbonniers ebenso wie von Chakrabartys Buch liegt deshalb auch ganz woanders: in einer präzisen Vermessung der akuten Probleme, die den Stand der Reflexion auf ein neues Level hebt. Ihre Analysen sind hochgradig instruktiv für die kollektiven Anstrengungen, die Klimakrise zu bewältigen – nicht zuletzt dadurch, dass sie unser Verständnis der zentralen Problematiken neu und präziser justieren.

Die Problemstellung, die Charbonnier und Chakrabarty in unter­schiedlicher Weise auf den Punkt bringen, ist diese: Es ist moralisch in keiner Weise akzeptabel, wenn den aufstrebenden Ländern ein Wohlstands­versprechen vorenthalten wird, das die reichen Nationen wie selbst­verständlich für sich in Anspruch nehmen. Wenn das Freiheits­streben aber nicht länger auf der Grundlage der fossilen Energie erfolgen kann, ohne dass die Erde zu einem Unort für Menschen wird, dann muss nun, wo der globale Kapitalismus längst seine Eigen­dynamiken ausgebildet hat, endlich konsequent der bestimmende Faktor in die Kalkulation eingesetzt werden: die verheerende Wirkung des industriellen Ressourcen­verbrauchs.

Anders gesagt: Der sogenannte Westen ebenso wie der Nichtwesten müssen beide erkennen, dass der bisherige westliche Weg zum Wohl­stand nicht mehr tragfähig ist. Für die reichsten Länder bedeutet das: Selbst­korrektur. Für die aufstrebenden Länder: Abkehr vom falschen Vorbild. Und für die Menschheit gemeinsam: ein Gerechtigkeits­denken, das sich weder im Historischen noch im Zwischen­menschlichen erschöpft.

Das führt zum letzten Punkt: den Potenzialen und Schwächen von Chakrabartys Lösungs­perspektive.

Chakrabarty blickt über den Menschen hinweg ins Planetarische. Und dann wieder zoomt er, ganz menschen­zentriert, an die sozialen Fragen heran, bis sie in höherer Auflösung erscheinen. Für ihn erfordert die Komplexität der Klimakrise ein solches «Heran- und Heraus­zoomen» als permanente gegenläufige Denk­bewegung. «Eine Abstraktions­ebene hebt die andere nicht auf oder macht sie gegenstandslos.»

Es sind offenbar zwei Ziele, die Chakrabarty mit seiner Idee vom planetarischen Denken verfolgt.

Erstens: die Hoffnung auf eine neue Form von Universalität. Während ein Grossteil der Denkerinnen aus den Subaltern Studies vor allem westlichen Beschwörungen des Gemeinsamen skeptisch gegenübersteht, weil dahinter historisch oft genug blanke Übervorteilung stand, ist Chakrabarty vor allem an der Über­windung eines wechsel­seitigen fingerpointing gelegen. Anstelle von Schuldzuweisungen und eines Gegen­einanders von Globalem Norden und Globalem Süden zielt er auf eine «Universalität, die einem gemeinsamen Katastrophen­gefühl entspringt».

Zweitens: Es geht Chakrabarty um eine neue Ehrfurcht gegenüber dem Planeten.

Vor diesem Hintergrund sollte man seine Idee vom planetarischen Denken auch nicht als statische Theorie begreifen. Die gegenläufige Denk­bewegung zum Menschen hin und über den Menschen hinaus hat bei ihm eine geradezu performative Komponente: Das immer wieder neue Heran- und Heraus­zoomen ist bereits selbst auf Wirkung aus.

Dass der Mensch überhaupt erst sehr spät auf der Erde aufgetaucht sei; dass die Zeit der menschlichen All­dominanz bezogen auf die Erd­geschichte nur ein Wimpern­schlag ist; dass der Mensch rein biologisch betrachtet kein Einzelner, sondern ein Biotop ist, eine Ansammlung von Milliarden Mikroben, ohne die der Mensch gar nicht lebensfähig wäre; das Bild vom Menschen quasi als Minderheit im eigenen Körper – all das sind nicht unbedingt Argumente, die für die realpolitischen Fragen der Klimakrise weiterführen. Sie erscheinen vielmehr wie Einübungen in eine Demut gegenüber der Natur, die dem Menschen abhanden­gekommen ist. Auch das ist eine der Pointen von Chakrabartys Buch: Die gigantische Erweiterung der Problem­perspektive, die er unternimmt, soll dem Dominanz­gebaren des Menschen gerade entgegen­arbeiten – Selbst­zurücknahme statt Allmachts­fantasie.

Man muss Chakrabarty zugutehalten, dass er diese beinahe ins Metaphysische zielende Perspektive immer nur unter der Prämisse gelten lässt, dass sie in seiner doppelten Denk­bewegung eng mit den ganz irdischen Fragen sozialer Ungleichheit verkoppelt bleibt – und es am Ende um nichts weniger als die Bewohnbarkeit der Erde geht.

Dennoch gerät ihm vor lauter planetarischer Perspektive zu häufig die Psycho­dynamik des Klima­diskurses aus dem Blick. Und gerade hier lässt sich Wesentliches von Pierre Charbonnier lernen.

Die Ideen von Freiheit und Gleichheit, schreibt Charbonnier, waren historisch immer auch ein «Versprechen vom Ende der Armut». Und Armut ist innerhalb «einer Ökonomie des Über­flusses» nur «noch skandalöser».

Diese Feststellung bekräftigt mit Nachdruck die Macht des Psychologischen: Armut ist keine absolute Grösse; Menschen definieren und skandalisieren sie immer relational, im Vergleich unter­einander. Das bedeutet aber auch: Unter Bedingungen massiver Ungleichheit und als skandalös empfundener Ungerechtigkeiten wird das Gefühl von Universalität, auf das Chakrabarty aus ist, nicht zustande kommen. Die Selbst­verständigung der menschlichen Gesellschaften auf eine gemeinsame Bewältigung der Klimakrise ist deshalb hochgradig abhängig von empirisch-sozialen, kommunikativen und psychologischen Faktoren. Ein Wir-Gefühl zwischen den Ländern und Weltregionen wird nie allein auf Basis rationaler Argumente zustande kommen; vielmehr ist es in hohem Masse abhängig vom eigenen vorbild­haften und glaub­würdigen Handeln der Sprechenden.

Konkret: Solange die Industrie­nationen es nicht nur an einer Unter­stützung der aufstrebenden Länder vermissen lassen, die aus der historischen Verantwortung erwächst, sondern selbst die eigenen Klimaziele verfehlen, werden sie mit dem Zeige­finger in Richtung chinesischem oder indischem Kohle­konsum immer nur als Heuchlerinnen dastehen. Man kann den Akzent bei der Idee von «gemeinsamer, aber unter­schiedlicher Verantwortung» stärker auf die eine oder die andere Hälfte legen: Es bleibt in jedem Fall ein bestimmender Faktor, dass die Nationen aus der Geschichte mit unter­schiedlichen Voraus­setzungen kommen.

Für die Länder des Globalen Südens könnte dies bedeuten: auf der Verantwortung der Industrie­nationen beharren, ohne darauf zu bestehen, den westlichen Weg der fossilen Wohlstands­gewinnung zu wiederholen. Wie Chakrabarty mit einem Blick in die Geschichte der Subaltern Studies in Erinnerung ruft, ist es in der post­kolonialen Erfahrung ohnehin nie um Mimikry gegangen – sondern ganz im Gegenteil um einen selbstbewusst gewählten eigenen Weg. Überspitzt formuliert: Wenn antiwestliche Vorbehalte an irgend­einem Ort nützlich sein sollten, dann bei der Haltung zur energetischen Grundlage der westlichen Wohlstands­geschichte.

Für die Industrie­nationen würde «gemeinsame, aber unter­schiedliche Verantwortung» auch erfordern, adäquat zu verstehen, was Chakrabarty den «Traum der Kolonisierten» nennt. Chakrabarty buchstabiert es nicht aus, aber damit westliche Forderungen und Appelle an die neuen Kohle­länder nicht nach Doppel­moral und Selbst­gerechtigkeit klingen, müssen die traditionellen Industrie­länder und ihre Konzerne wohl

  • zuallererst die eigene Dekarbonisierung beschleunigen;

  • aus dem Bewusstsein, historisch profitiert zu haben, in der Gegenwart den Globalen Süden für bereits eingetretene Klima­verheerungen entschädigen;

  • die Schwellen- und Entwicklungs­länder entschlossen beim Ausbau erneuerbarer Energien unterstützen.

All das wird politisch nicht zu machen sein, wenn die Binnen­ungleichheit der Gesellschaften sich konflikthaft verschärft. Soziale Härten, die durch eine ökologisch angemessene CO2-Bepreisung zustande kommen, müssen abgefedert werden, und es ist derzeit kaum ersichtlich, wie das ohne eine andere Steuer­politik gehen soll, die eine stärkere Beteiligung derer vorsieht, die es sich leisten können: die Vermögendsten in einer Welt radikaler Ungleichheit.

Zur Psychologie des Klimadiskurses dürfte jedenfalls auch gehören, dass wir beim westlichen Blick auf fatale Entwicklungen in Indien oder China in Wirklichkeit die eigenen Versäumnisse erkennen: Im Problem der Glaubwürdigkeit westlicher Einwände spiegelt sich unser eigenes klima­politisches Scheitern. Gemeinsame Verantwortung aber läge nicht zuletzt darin, mit dem eigenen Handeln voreinander und vor der künftigen Geschichte bestehen zu können. Nichts wäre zwischen den Nationen hilfreicher als ein globales Wetteifern um die Rolle des Ökostrebers in den Geschichts­büchern von morgen.

Schliesslich, noch einmal über den Menschen hinaus: Chakrabartys Konzept vom planetarischen Denken mag abstrakt klingen. Wenn derzeit jedoch intensiv über juristisch verankerbare Rechte der Natur, gar über «Ökozid» als möglichen Straftat­bestand im internationalen Recht diskutiert wird, zeigt sich, dass Menschen bereits an konkreten Umsetzungen von Denk­weisen arbeiten, die über das humano­zentrische Denken hinaus­reichen. Die Vorreiter­rolle bei der Anerkennung der Natur als Rechts­persönlichkeit haben übrigens Gerichts­höfe im Globalen Süden übernommen.

Es ist unverkennbar, dass sich unser Verständnis des Mensch-Natur-Verhältnisses zu wandeln beginnt. Die Sensibilität dafür wächst, dass sich der Mensch einer Verantwortung über das Zwischen­menschliche hinaus nicht länger entziehen kann. Die Antworten auf die ökosozialen Fragen der Gegenwart wird er allerdings nicht im planetarischen Raum, sondern, ganz irdisch, in der politischen Arena zwischen Menschen aushandeln müssen.

Overshoot

Anfang Mai, während auf dem indischen Subkontinent die Hitzewelle tobte, hatten Deutschland und die Schweiz kurz nacheinander ihren sogenannten Overshoot Day: Bereits am 13. Mai 2022 hatte die hiesige Gesellschaft rechnerisch alle Ressourcen verbraucht, die ihr pro Jahr zustehen. Quasi zur selben Zeit verkündeten die Vereinten Nationen in einem Bericht, dass die Marke von 1,5 Grad Erderwärmung zeitweise schon bis zum Jahr 2026 überschritten werden könnte.

In klaffender Diskrepanz steht den immensen Zeit­dimensionen der Erdsystem­wissenschaft in der Klimakrise ein winziges Zeitfenster gegenüber: die Zeit, die den Nationen noch für eine Rückkehr auf den 1,5-Grad-Pfad bleibt. In jeweils unter­schiedlicher Verantwortung. Gemeinsam.

Zu den Büchern

Dipesh Chakrabarty: «Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter». Aus dem Englischen von Christine Pries. Suhrkamp, Berlin 2022. 443 Seiten, ca. 45 Franken.

Pierre Charbonnier: «Überfluss und Freiheit». Eine ökologische Geschichte der politischen Ideen. Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. S. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 512 Seiten, ca. 45 Franken.

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