Im Kopf explodieren die Bomben weiter

Mindestens die Hälfte der Geflüchteten in der Schweiz hat psychische Probleme. Jahrelang haben sich die Behörden die Verantwortung gegenseitig zugeschoben. Ist die Schweiz bereit für Tausende traumatisierte Ukrainer?

Von Karin A. Wenger (Text) und Adam Maida (Illustration), 24.05.2022

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Wenn keine Raketen mehr einschlagen, wenn die Meeres­wellen das Boot nicht mehr bedrohen, tagelange Fussmärsche vorbei sind und Grenz­polizisten weit weg. Dann, wenn sie sich endlich in Sicherheit wiegen – dann beginnt bei vielen Geflüchteten erst die Hölle im Kopf.

Mindestens die Hälfte der Menschen, die in die Schweiz geflüchtet sind, haben psychische Probleme. Am meisten verbreitet sind post­traumatische Belastungs­störungen und Depressionen. Sie haben Flashbacks, Erinnerungen an den Krieg, die Flucht kommt immer wieder hoch, Einschlafen macht ihnen Mühe, sie können sich schlecht konzentrieren, sind nervös oder schnell gereizt.

Bei manchen äussert sich der psychische Stress somatisch, zum Beispiel als chronische Kopf- oder Rücken­schmerzen. Einige trinken zu viel Alkohol. Und in der Schweiz, einer der weltweit sichersten Orte, verschlimmert sich die Situation oft noch. Wieso haben so viele Menschen auch Jahre nach ihrer Flucht noch immer psychische Probleme?

Die naheliegende Antwort: Traumatische Erfahrungen heilen nicht wie ein gebrochenes Bein. Die schrecklichen Erinnerungen und ihre Folgen bleiben. Manchmal verblassen sie, ganz weg gehen sie nie.

Die kompliziertere Antwort: Jahrelang unterschätzten Schweizer Behörden die psychischen Probleme und deren Auswirkungen bei Geflüchteten.

Seit Ende Februar sind bereits rund 50’000 Menschen aus der Ukraine in die Schweiz geflüchtet. Und Psycho­therapeutinnen und Fachpersonen bezweifeln, dass die Schweiz bereit ist, sich um ihre psychischen Kriegs­folgen zu kümmern.

Kriegsopfer müssen bis acht Monate warten

Naser Morina versucht zu kompensieren, was die Behörden lange verpassten oder nicht sehen wollten. Als Student arbeitete Morina im Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer in Zürich als Dolmetscher für Albanisch und finanzierte sich so seine Ausbildung. 2008 wurde er dort angestellt, mittlerweile leitet der 45-Jährige das Ambulatorium.

Der Psycho­traumatologe erlebte früh, was Krieg mit Menschen macht. Als 1998 serbische Truppen in seine Heimat einfielen, lebte Morina bereits seit einigen Jahren in der Schweiz. Er bangte in Zürich um das Leben seiner Grosseltern, die in Kosovo ausharrten. Sie überlebten – doch ihr Haus und auch Morinas altes Kinder­zimmer wurden zerstört.

Es gäbe viele Gründe, wieso Morina sich über das Schweizer Asylsystem aufregen könnte, doch er bleibt in allen Gesprächen ruhig. Morina ist ein Typ, der Probleme gründlich analysiert und dann seine Energie dafür einsetzt, die Situation zu verbessern.

In den letzten Jahren arbeitete er jeweils nach Feierabend unzählige Stunden, um ein Projekt voranzutreiben, das Geflüchtete innerhalb weniger Tage zu Helfern für Asylsuchende mit psychischen Schwierigkeiten ausbildet. Hilfe zur Selbsthilfe. Dieses Projekt entwickelt Morina gerade auch für Ukrainerinnen weiter. Zudem sitzt er in drei verschiedenen Taskforces, um Lösungen zu finden für die vielen geflüchteten Menschen aus der Ukraine.

Als Psychotherapeut für ukrainische Geflüchtete ist Morina bisher noch kaum gefragt. Nach der Ankunft dauere es ein paar Wochen, bis sich Körper und Psyche der Geflüchteten vom Stress erholten und sie das Erlebte einordnen könnten, sagt er. In dieser Zeit schlafen viele schlecht, sind unruhig und gereizt. Erst wenn die Symptome nach mehreren Wochen immer noch vorhanden sind, sprechen Fachleute von einer Trauma­folge­störung. Dann brauche es eine Früh­intervention, um zu erklären, dass diese Reaktionen ganz normal seien, sagt Morina.

Anders als zu Kriegsbeginn flüchten jetzt aber auch viel mehr Menschen, die den Krieg direkt erlebt haben: Sie kämpften, sahen Leichen. In absehbarer Zeit werden deshalb viele Geflüchtete psychische Betreuung benötigen, ist Morina überzeugt. Fachpersonen bereitet das Sorgen. In der Schweiz fehlen Tausende von Therapie­plätzen – und zwar für alle Menschen, unabhängig vom Aufenthalts­status. Bis zu ein Drittel der Bevölkerung ist von einer psychischen Krankheit betroffen. Psycho­pharmaka sind die am häufigsten bezogenen Medikamente in der Schweiz.

An Trauma­therapeutinnen für Geflüchtete mangelt es besonders, da deren Behandlung zusätzliches Wissen erfordert, etwa über Flucht oder andere Kultur­kreise. Am Ambulatorium für Folter- und Kriegs­opfer in Zürich beträgt die Wartefrist für einen Therapie­platz acht Monate. Manchmal dauert es bis zu einem Jahr. Eine Studie stellte 2018 im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit fest: In der Deutsch­schweiz seien schätzungs­weise wohl weniger als 10 Prozent der Asyl­suchenden in einer spezifischen Behandlung, die eine solche benötigen würden. Die Hilfs­angebote sind viel zu knapp für die 126’000 Geflüchteten, vorläufig Aufgenommenen und Asylsuchenden, die Ende 2021 in der Schweiz lebten.

Diesen Zustand kritisierte auch die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter 2021 in einem Bericht. Mehr als die Hälfte der Asyl­koordinatoren und Kantons­ärztinnen bemängelten 2016 die psychiatrische Versorgung in einer Umfrage. Sie kritisieren vor allem, dass das lange Warten auf einen Therapie­platz psychische Krankheiten oft verschlimmert. Je früher die Unter­stützung komme, desto besser, sagt auch Morina. Müssen Betroffene lange warten, drohe eine Chronifizierung: Der Behandlungs­aufwand steigt, die Heilungs­chancen schwinden.

Morina sagt aber auch, die Sensibilisierung für psychische Probleme sei bei den Ukrainerinnen viel grösser als bei Geflüchteten früherer Jahre. Der Kanton Solothurn beauftragte beispielsweise das Schweizerische Rote Kreuz damit, eine Hotline aufzubauen, die psychosoziale Betreuung vermittelt.

«Ich wünsche mir, dass einige dieser neuen Angebote bleiben und dann auch anderen helfen», sagt Morina. Denn es gibt viel aufzuholen. Die Schweiz hat sich jahrelang zu wenig um die psychische Gesundheit von Geflüchteten gekümmert.

Das Problem beginnt bereits bei den Zahlen: Niemand weiss genau, wie viele Geflüchtete heute überhaupt traumatisiert sind.

Psychische Verfassung wäre einfach zu erheben

In einer Studie, die das Bundesamt für Gesundheit in Auftrag gegeben hat, schätzen Chefärztinnen und Psycho­therapeuten, dass 50 bis 60 Prozent der Asylsuchenden an psychischen Erkrankungen leiden. Bei den Jugendlichen sei der Anteil höher. Viele internationale Studien gehen von 50 Prozent aus. Es brauchen jedoch nicht alle eine Therapie. Fach­personen rechnen damit, dass der Anteil bei rund einem Drittel liegt.

Aber eben: Das sind nur Schätzungen.

Morina wüsste zum Beispiel gern, wie viele Geflüchtete Suizid begingen oder einen solchen versucht haben. «Das ist ein grosses Tabu», sagt er.

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) sowie diverse angefragte Kantone schreiben, sie würden dazu keine Daten erheben. Auch weiss niemand, wie vielen Geflüchteten Anti­depressiva verschrieben werden. Und obschon geflüchtete Frauen, besonders neu angekommene und alleinstehende, ein grosses Risiko haben für Depressionen vor und nach der Geburt, werden psychische Erkrankungen im Wochenbett bei ihnen nicht erfasst. Traumatisierungen, etwa durch sexualisierte Gewalt, blieben meist unerkannt, stellte eine Studie der Berner Fachhochschule 2017 fest. Und auch die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe führt keine Übersicht darüber, wie viele Menschen in der Sozialhilfe einen Antrag auf Psychotherapie stellen – weder bei Schweizerinnen noch bei Geflüchteten.

Alle Massnahmen, die in der Schweiz im Bereich der psychischen Unter­stützung von Asylsuchenden getroffen werden, basieren also auf groben Schätzungen. Dabei wären Strukturen, um die Gesundheit der Geflüchteten in der Schweiz systematisch abzuklären, seit 2006 vorhanden.

Pflegefachpersonen befragen die Asylsuchenden in den ersten Tagen nach der Ankunft mit einem computer­basierten Fragebogen, der in mehr als dreissig Sprachen programmiert ist und lange auf die Früh­erkennung von Tuberkulose fokussierte. Ein Bericht im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit kritisierte 2017 aber, dass im Gesundheits-Screening viele Krankheiten unentdeckt blieben, Asylsuchende als vermeintlich gesund taxiert und psychische Erkrankungen «kaum diagnostiziert» würden. Mit der Revision des Epidemien­gesetzes wurde der Fragebogen nach 2018 weiter­entwickelt, und seither enthält er auch einige wenige Fragen zur psychischen Gesundheit.

Doch die jahrelange Kritik von Ärzten, Psychologinnen und Therapeuten wie Naser Morina, dass bei diesem Screening ohne grossen Aufwand viele detaillierte Fragen zum psychischen Zustand gestellt werden könnten, wurde ignoriert. «Eine gezielte Triage wäre sehr wichtig», sagt Morina. «Dann wüssten wir, wem es gut geht, wer gestresst ist und wer traumatisiert – und somit auch präzise, wem wir welche Art von Hilfe anbieten müssen.»

Er habe sich gefreut, als er 2020 plötzlich eine Anfrage vom Staats­sekretariat für Migration erhalten habe, sagt er: ob er helfen könne, einen zusätzlichen Fragebogen zu entwickeln, der nur auf psychische Probleme fokussiert. Das Screening­blatt umfasst elf Fragen. Gefragt wird unter anderem, ob die Person Mühe hat, einzuschlafen oder sich zu konzentrieren; ob sie häufig an Albträumen, Kopf­schmerzen oder Flashbacks leidet; ob sie an Suizid denkt.

Ob der zusätzliche Fragebogen den Asyl­suchenden überhaupt angeboten wird, überlässt das SEM dem Pflege­personal in den Ankunfts­zentren. Das gilt auch für die ukrainischen Geflüchteten, die sich länger als drei Tage in einem Bundes­asyl­zentrum aufhalten. Das SEM schreibt auf Anfrage, der Fragebogen liefere keine Diagnose, die klinische Einschätzung des Pflege­personals sowie Meldungen von Betreuerinnen seien «mindestens ebenso wichtig».

Aber genau diese Fachkenntnisse des Personals kritisierten Fachärzte wiederholt als ungenügend, weshalb psychische Erkrankungen bei Geflüchteten gar nicht oder viel zu spät erkannt würden. Das SEM reagierte auf die Kritik und liess 2020 die Angestellten der Bundes­asyl­zentren zum Thema Trauma schulen. Dies müsste sich nun regelmässig wiederholen für neue Mitarbeiterinnen, sagt das Schweizerische Rote Kreuz, das an den Schulungen beteiligt war. Laut SEM ist zurzeit aber kein weiterer Kurs geplant.

Psychotherapeut Morina, der jedem Effort der Behörden Positives abgewinnen kann, bezeichnet den Screening-Fragebogen trotz allem als «sinnvoll und gut». Seine Kritik verpackt er in Wunsch­form: «Ich hoffe, dass die Screenings bald systematisch durchgeführt werden. Das wäre wichtig.»

Denn die Erfahrung von Fachpersonen zeigt: Je früher die Traumata von Geflüchteten behandelt werden, desto einfacher fällt ihre spätere Integration.

Verantwortung wird hin und her geschoben

«Das ist ein fauler Sack, der soll sich mehr Mühe geben beim Deutsch­lernen.» Diesen Satz hat Sara Michalik-Imfeld schon oft gehört.

Die Aargauer Psycho­therapeutin bietet Geflüchteten seit sechs Jahren kostenlos Therapie an. Die Fotos von Flüchtlings­booten im Jahr 2015 rüttelten sie auf. Michalik-Imfeld besuchte in Aarau eine Unterkunft für unbegleitete Jugendliche und war erschüttert. Sie sah viele Kinder und wenige Betreuer. «Es gab damals kaum Angebote für die Beschäftigung, keine Schule. Die Schweiz war überhaupt nicht vorbereitet.»

Sie fragte den Betreuer, was sie brauchten. Er antwortete: Psychotherapie.

Sara Michalik-Imfeld wünscht sich mehr Verständnis für Geflüchtete: Sie seien nicht faul, sagt sie. Traumatisierte Menschen hätten schlicht viel weniger Kapazitäten, eine Sprache zu lernen, weil sie sich zum Beispiel schlecht konzentrieren könnten.

In der Schweiz wartet für viele Geflüchtete zunächst Tristesse. Sie sitzen wochenlang in Asylzentren und warten auf den Behörden­entscheid. In den grossen Schlafsälen ist es oft lärmig, Privat­sphäre fehlt. Wie im Klassen­lager bei Regenwetter, doch über Monate zusammen mit Fremden, die teils eine andere Sprache sprechen. Ein ungeeigneter Ort für Menschen mit psychischen Problemen, die Ruhe und Rückzug möchten. Lärm kann zum Beispiel ein Trigger sein bei post­traumatischen Belastungs­störungen.

Kommt hinzu: Arbeitslosigkeit und Langeweile können Depressionen auslösen – das gilt auch für Asylsuchende. Sie isolieren sich oft oder schlafen viele Stunden pro Tag. Manche versumpfen im Alkohol.

Michalik-Imfeld gründete 2016 gemeinsam mit Kolleginnen das Netzwerk Psy4Asyl, dem sich Psycho­therapeutinnen, Körper­therapeutinnen und Beraterinnen anschlossen, die freiwillig helfen. Obschon dem Netzwerk mittlerweile 30 Fachpersonen angehören, übersteigen die Anfragen das Angebot. Trotzdem: Die unbegleiteten Jugendlichen, die bei Michalik-Imfeld eine kostenlose Therapie besuchten, absolvieren mittlerweile alle eine Lehre. «Ich investiere freiwillig Zeit in die psychische Gesundheit von Geflüchteten, weil ich sehe, dass sie stabiler sind, besser arbeiten und lernen können», sagt die Psycho­therapeutin. «Das Sucht- und Kriminalisierungs­risiko sinkt. Für die Gesellschaft fallen Folgekosten weg.»

Auch Psychotherapeut Naser Morina und andere Fachpersonen sind sich sicher: Die Ausgaben für eine adäquate Behandlung von traumatisierten Geflüchteten lohnen sich rein finanziell, da sich eine ganze Reihe von Folge­kosten reduzieren. Es gibt keine Studien, die eindeutig belegen, dass die gesamten Ausgaben am Ende tatsächlich tiefer liegen, und auch das Staats­sekretariat für Migration will dazu keine Einschätzung abgeben. Doch es gibt Hinweise.

Eine Studie aus dem Jahr 2010 mit knapp 80 Geflüchteten als Teilnehmern zeigte, dass die jährlichen Gesundheits­kosten für geflüchtete Menschen fast doppelt so hoch waren wie diejenigen der restlichen Schweizer Bevölkerung. Im Gegensatz zu den psychisch gesunden Teilnehmerinnen der Studie besuchten solche mit psychischen Erkrankungen deutlich öfter den Arzt – ihre mentalen Probleme wurden dabei allerdings nur selten behandelt.

Die Studienautoren vermuten als Grund die Somatisierung. Sprich: wenn sich psychische Erkrankungen durch körperliche Symptome äussern – etwa Bauch-, Kopf- oder Rücken­schmerzen, Schwindel, Zittern oder Herzstechen. In vielen Kulturen, aus denen die Geflüchteten stammen, sind psychische Krankheiten stigmatisiert oder wenig bekannt. Die Patientinnen erwarten also eine Diagnose und Behandlung für ein Leiden, das auf psychosoziale Probleme zurück­zuführen ist.

«Es kommt immer wieder vor, dass Geflüchtete MRI machen lassen, bei denen aber nichts gefunden wird», erzählt Naser Morina. Manche suchen dann einen nächsten Arzt auf, der wiederum Abklärungen macht. «So fallen unnötig viele teure Untersuchungen an», sagt Morina.

Überflüssige Analysen und falsche Diagnosen können laut einem Bericht im Auftrag des Bundes vor allem auch durch den systematischen Einsatz von inter­kulturellen Dolmetschern reduziert werden. Ärztinnen können komplexe Krankheits­bilder wie Trauma­folgestörungen nur richtig erkennen, wenn sie ihre Patienten präzis verstehen. Ansonsten verordnen sie vielleicht falsche Medikamente, und es drohen laut dem Bundesamt für Gesundheit «erhebliche Risiken von Fehl­diagnosen».

Doch sowohl beim ersten Gesundheits-Screening der Geflüchteten nach der Ankunft als auch später in den kantonalen Zentren oder Arztpraxen werden nur selten Dolmetscherinnen beigezogen. Oft übersetzen Familien­angehörige oder andere Asyl­suchende, was besonders bei stigmatisierten Themen wie psychischen Erkrankungen problematisch ist. Wer beantwortet schon heikle Fragen wie die nach Suizid­gedanken ehrlich, wenn das eigene Kind dabei ist?

Eigentlich gäbe es in der Schweiz genügend Dolmetscher: Interpret, eine Interessen­gemeinschaft für interkulturelles Dolmetschen und Vermitteln, zählt mehr als 2500 Personen, die für die regionalen Vermittlungs­stellen im Einsatz stehen. Eine interkulturelle Dolmetscherin übersetzt die Sprache und berücksichtigt darüber hinaus den sozialen und kulturellen Hinter­grund, was zum Beispiel bei unter­schiedlichen medizinischen Verständnissen wichtig ist.

Der Hauptgrund, wieso Ärztinnen nicht systematisch mit Übersetzern arbeiten: Es ist weder national noch kantonal einheitlich geregelt, wer inter­kulturelle Dolmetscherinnen bezahlt. Ihre Arbeit deckt die obligatorische Kranken­versicherung nicht ab. Ärzte oder Psycho­therapeutinnen in eigenen Praxen müssen Einsätze von Dolmetschern meist selbst übernehmen. Auch Spitäler und Psychiatrien bezahlen die Übersetzerinnen selbst.

Wie viel Geld zum Beispiel ein Spital in seinem Budget für Dolmetscher reservieren will, hängt vom Spital ab. «Manche denken, ein Angehöriger oder jemand vom Putzpersonal passt auch zum Übersetzen», sagt Lena Emch-Fassnacht, die Geschäfts­leiterin von Interpret.

Das Problem: Die Tarifpartner wie Kranken­kassen, Spitäler oder Kantone müssten sich über die Aufnahme der stationären Übersetzungs­kosten in die Fallpauschale einigen. Doch das scheitert bereits daran, dass Spitäler nicht systematisch erheben, wie hoch die Kosten für Dolmetscherinnen je nach Situation ausfallen. Und im ambulanten Bereich werden die Dolmetscher gemäss dem medizinischen Tarif­system Tarmed gar nicht vergütet.

Ende 2019 forderte eine Motion im Nationalrat den Bundesrat auf, den Tarmed-Tarif entsprechend anzupassen. Zwar anerkannte der Bundesrat, dass «das Dolmetschen in der Psycho­therapie und insbesondere in der Trauma­behandlung ein unverzichtbares Instrument ist», doch er lehnte die Motion ab, weil er die Tarif­struktur nicht «in eigener Kompetenz» anpassen wollte.

Bund, Kantone, Kranken­kassen und Spitäler schieben also die Verantwortung hin und her.

«Politisch ist es sehr unpopulär, sich für Geflüchtete einzusetzen, besonders im Gesundheits­wesen, wo alle Geld sparen wollen», sagt Lena Emch-Fassnacht von Interpret. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Die Tatsache, dass Dolmetscher fehlen, macht die Behandlung von Geflüchteten letztlich teurer.

«Spinnst du?»

Die Aargauer Psycho­therapeutin Sara Michalik-Imfeld erinnert sich, wie sie ganz am Anfang immer wieder die Kritik gehört habe: «Das dürft ihr doch nicht freiwillig machen! Die Behandlung wird dann schon noch in den staatlichen Strukturen geregelt, wartet einfach.»

Obschon auch sie findet, dass der Staat zu wenig tue, nervt sich Michalik-Imfeld über solche Kritik. Sie sei zu einfach: «Oft heisst es: Die Departemente tun zu wenig, der Kanton sollte mehr Angebote bieten, die Gemeinde müsste doch …» Aber man könne die Schuld nicht einfach dem Kanton, der Gemeinde oder dem Betreuer vor Ort abschieben, sagt Michalik-Imfeld: «Das Thema geht die ganze Bevölkerung an.»

Und schliesslich brauche es auch einen Effort von den Geflüchteten selbst, um die Situation zu verbessern. Sie müssten mehr über psychische Krankheiten lernen und so das Verständnis für ihre eigene Gesundheit verbessern.

In grossen Teilen des arabischen Raums beispiels­weise würden psychisch Kranke mit schwarzer Magie assoziiert oder einem zu schwachen Glauben an Gott. Die Skepsis gegenüber psychologischen Angeboten ist deshalb gross.

Aus diesem Grund bietet Psy4Asyl auch psycho­edukative Angebote an, um den Geflüchteten zu zeigen, wie sie mit ihrem Stress umgehen können. Wenn die Menschen besser verstehen, warum sie so reagieren, wie sie reagieren, wäre ihnen schon viel geholfen, sagt Michalik-Imfeld. Es gehe darum, ihnen klarzumachen, dass ihre Gefühle eine normale Reaktion auf eine abnormale Situation seien.

Als Naser Morina im Jahr 2017 sein Projekt startete, das Geflüchtete zu Laien­psychologinnen ausbildet, suchte er per Flyer nach 60 Syrern für eine erste Pilotstudie. Kaum jemand meldete sich. Er löschte alle Informationen und Logos auf dem Flyer, die auf die Psychiatrie hinwiesen.

Stattdessen schrieb er darauf: Bewältigung von Schwierigkeiten im Alltag. Plötzlich meldeten sich so viele Interessierte, dass er Leute ablehnen musste.

Sein Projekt «Strengths» basiert auf einer Intervention, die von der Welt­gesundheits­organisation WHO entwickelt wurde und die in vielen Ländern weltweit umgesetzt wird. Das Prinzip: Geflüchtete erhalten eine achttägige Schulung, sie lösen zwei Übungsfälle – und sind einsatzbereit als Helferinnen, die einen Stundenlohn verdienen.

Sie erklären anderen Geflüchteten in ihrer Mutter­sprache während fünf Treffen, wie diese besser mit Stress umgehen, welche Probleme sie einfach lösen können (Wie finde ich einen Deutschkurs?) und welche Probleme schwierig lösbar sind (Ich vermisse meine Familie in Syrien). Die Helferinnen, die Morina ausbildet, können selbst weitere Helfer ausbilden.

Manchmal höre Morina: «Spinnst du? Wie soll ein Laie einem Traumatisierten helfen?»

Doch er weiss dank mehreren eigenen Vorstudien, die er während der vergangenen fünf Jahre durchgeführt hat: Das Programm wirkt. Im Vergleich zu den Kontroll­gruppen sinken bei den Studien­teilnehmerinnen die Depressions­werte, sie lernen Sprachen schneller, fühlen sich weniger einsam, hatten weniger Probleme mit den Behörden. «Die Helfer haben nach acht Tagen Ausbildung die gleiche Wirkung wie ich mit einer Psycho­therapie», sagt Morina und grinst. «Manchmal bin ich fast schon neidisch.»

Die vier Asylregionen Basel, Zürich, Thurgau und Waadt haben Morina bereits zugesagt, dass sie zusammen mit dem Roten Kreuz und den kantonalen Behörden das Programm allen Geflüchteten zur Verfügung stellen. Mit Tessin und Bern finden aktuell Gespräche statt. Die ersten ukrainischen Helfer bildet Morina derzeit aus. Und bald will er sein Programm auch auf Kinder ausweiten.

Morina, der sich jeden Monat mit den Migrations­behörden austauscht, sagt: «Ich arbeite seit mehr als zehn Jahren mit dem SEM zusammen, und ich habe es noch nie so offen und positiv erlebt wie in den vergangenen Jahren.» Ähnlich äussern sich auch andere Fach­personen gegenüber der Republik.

Doch Morinas Ziel, dass die psychologische Beratung für alle Geflüchteten selbst­verständlich sein sollte, bleibt vorerst trotzdem nur ein Wunsch.

Damit er Realität wird, braucht es die Behörden und die Politik, die Probleme erkennen und Strukturen etablieren.

Es braucht Sozial­arbeiterinnen in Gemeinden, Lehrer und Haus­ärztinnen, die psychische Probleme als solche erkennen.

Es braucht Freiwillige wie Sara Michalik-Imfeld, die sich dort engagieren, wo es noch Lücken im System gibt.

Es braucht Fach­personen wie Naser Morina, die im Chaos einfache Lösungen anbieten.

Und es braucht viele Menschen in der Bevölkerung, die den geflüchteten Menschen helfen, sich in der Schweiz zurecht­zufinden.

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Diese Recherche wurde durch ein Stipendium des Reporter:innen-Forums unterstützt.

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