Binswanger

Putins nützliche Patrioten

Wie sollen die westlichen Länder mit dem Russland-Ukraine-Krieg umgehen? In den USA stellen sich noch nicht einmal die Rechts­populisten offen auf Putins Seite. In der Schweiz haben sie weniger Hemmungen.

Von Daniel Binswanger, 21.05.2022

Synthetische Stimme
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«Als Ideologie ist der Faschismus nie besiegt worden.» So begann diese Woche ein Gast­kommentar von Timothy Snyder, dem Yale-Professor und Spezialisten für ukrainische Geschichte in der «New York Times». Mit dem Aggressions­krieg gegen die Ukraine sei der Faschismus zurück, so Snyder. Es sei der Grund, weshalb der Westen in der Pflicht stehe, die Ukraine zu unterstützen: «Wenn Russland gewinnt, werden sich Faschisten rund um den Globus bestärkt sehen.»

Es geht hier nicht um akademische Debatten, wie Putins Invasion des Nachbar­landes termino­logisch zu bezeichnen sei. Ob als Ausdruck einer imperialistisch-gross­russischen Gesinnung, als das Gebaren eines autoritären, hyper­nationalistischen Regimes – oder eben als faschistischer Gewaltakt. Es geht auch nicht um terminologische Eskalation, die unterstreichen soll, wie verwerflich das putinsche Handeln ist. Snyder legt sehr präzise und überzeugend dar, dass der Feldzug des Kreml-Herrschers, obwohl er offiziell doch der «Entnazifizierung» der Ukraine dienen soll, von einer Ideologie getragen wird, die in den übelsten historischen Kontinuitäten steht.

Ins Feld führt Snyder nicht nur die menschen­verachtende Brutalität, mit der der russische Macht­haber vorgeht. An historische Vorbilder erinnert vor allem auch die Quasi-Abschaffung der Wahrheit, deren der Kreml sich befleissigt. Alles kann in sein Gegen­teil verkehrt werden, solideste Fakten werden nach Belieben vernebelt. Kein Narrativ ist zu absurd, um von Putins Propaganda­maschine in die Welt hinaus­getragen und ganz unvermittelt gegen ein anderes, nicht weniger absurdes Narrativ ausgetauscht zu werden. Wichtig ist nicht die Glaub­würdigkeit – und schon gar nicht die Debatte. Der Propaganda­diskurs soll lediglich für Des­orientierung sorgen. Und für die Lähmung der Gegen­kräfte.

Faschistische Züge hat jedoch nicht nur der russische Überfall inklusive zahlreicher Kriegs­verbrechen, die zwar bislang nicht von unabhängigen Behörden abschliessend unter­sucht, aber von zahlreichen internationalen Medien mit absolut erdrückender Präzision rekonstruiert werden konnten. Faschistische Züge trägt auch das Gewalt­verbrechen, das sich vor einer Woche im amerikanischen Buffalo ereignete, ein mass shooting, bei dem zehn Menschen getötet wurden. Der Anschlag ereignete sich in einer vornehmlich von Afro­amerikanerinnen bewohnten Gegend, und acht der zehn Todes­opfer waren schwarz. Der vermutliche Täter, ein achtzehn­jähriger Mann namens Payton Gendron, hat seinen Amok­lauf live ins Internet gestreamt.

Man könnte einwenden, dass solche Massen­morde inzwischen keine Einzel­fälle mehr seien und dass der Amok­lauf eines Einzel­täters nicht gleich zu Warnungen vor einem wieder­erstarkenden Faschismus animieren muss. Schliesslich gab es vergleich­bare Attacken, um nur die wichtigsten zu nennen, bereits in Charleston, Christchurch, Oslo und Utøya, El Paso, Pittsburgh. Der Täter von Buffalo – auch hier ist er nicht der erste – postete vor der Tat ein langes Pamphlet, in dem er sich zur white supremacy bekannte und sich insbesondere auf die Theorie des «grossen Austauschs» berief.

Hier liegt jedoch auch der Grund, weshalb uns seine brutale Wahnsinns­tat eben doch in besonderem Mass beunruhigen sollte. «Der grosse Austausch» war einst eine Verschwörungs­theorie für Spinner am äussersten rechts­extremen Rand. Inzwischen erobert der Begriff den konservativen Main­stream.

Geprägt wurde die Theorie des «grossen Austausches» vom französischen Schrift­steller Renaud Camus, der 2011 ein Buch dieses Titels veröffentlichte. Camus bezeichnet damit die These, dass es einen finsteren Master­plan geben soll, nach dem Migranten aus dem Maghreb und Schwarz­afrika Europa kolonisieren, dank der Zuwanderung sowie einer höheren Geburten­rate die ansässige Bevölkerung verdrängen und so einen «grossen Austausch» herbei­führen sollen, der zum völligen Verlust der bisherigen kulturellen Identität in Europa führen werde.

Unter französischen Rechts­extremen sind diese Thesen äusserst populär. Der gescheiterte Präsidentschafts­kandidat Eric Zemmour zum Beispiel beruft sich darauf. Marine Le Pen jedoch hat sich explizit vom «grossen Austausch» distanziert: Die These einer gezielten Umvolkung ist selbst für sie zu extremistisch.

Das hat das Schlag­wort natürlich nicht daran gehindert, regelmässig aufzutauchen in den Bekenntnis­schreiben rassistischer Gewalt­täter – wie jetzt eben in Buffalo. Schon sehr viel erklärungs­bedürftiger: Der Begriff findet nun auch eifrig Verwendung bei prominenten Vertreterinnen des «Make America Great Again»-Republikanismus (MAGA).

Der Fox-Star­moderator Tucker Carlson hat in mehr als 400 seiner Sendungen die These ausgebreitet, die Demokraten würden den demo­grafischen Austausch der Bevölkerung favorisieren, um ihre eigene Wähler­basis zu erweitern. Die republikanische Kongress­abgeordnete Elise Stefanik, der aufsteigende Star einer neuen Generation von MAGA-Republikanerinnen, benutzte die Verschwörungs­theorie für ihre Wahlkampagnen. Der «grosse Austausch» befeuert nicht nur entsetzliche Hass­verbrechen – er hat Eingang gefunden in den politischen Mainstream.

Wie immun ist die amerikanische Rechte noch gegen die Versuchung durch faschistische Kräfte? Diese Frage lastet seit dem 6. Januar vergangenen Jahres blei­schwer auf der US-Demokratie. Sie ist noch einmal verschärft worden durch die Annullierung des Rechtes auf Abtreibung, die der Supreme Court voraussichtlich beschliessen dürfte. Ein fanatischer Anti­feminismus scheint heute auch für unantastbar gehaltene Errungen­schaften der sexuellen Selbst­bestimmung infrage stellen zu können. Dieser Anti­feminismus mag zu guten Teilen durch religiös begründeten Konservatismus motiviert sein, aber er gehörte stets auch zum Kern­gehalt faschistischer Ideologien. Auch er ist wieder mainstream­fähig geworden.

Alle diese Entwicklungen geben den kommenden Midterm-Wahlen in den USA ein sehr ungemütliches Gewicht – ganz zu schweigen von den nächsten Präsidentschafts­wahlen 2024, bei denen Trump ins Weisse Haus zurück­kehren könnte. Extremistische Diskurse sind leitend geworden für weite Teile der amerikanischen Rechten – und Gewalt­eruptionen scheinen nie sehr fern.

Es ist dieselbe amerikanische Rechte, die für Putins aggressives Gebaren phasen­weise helle Bewunderung zeigte. Insofern ist es alles andere als selbst­verständlich, dass die Waffen­lieferungen an die Ukraine vom amerikanischen Senat nun einstimmig gutgeheissen wurden. Diese überparteiliche Front sollte jedoch nicht darüber hinweg­täuschen, dass wir mit unserer Haltung gegenüber dem Krieg in der Ukraine auch die Zukunft unserer westlichen Demokratien verhandeln.

Passend zur aktuellen Welt­lage ist dieser Tage die empfehlens­werte deutsche Ausgabe von «Faschismus. Und wie man ihn stoppt» erschienen, das neue Buch von Paul Mason. Der versierte Theoretiker und viel gereiste Reporter liefert zu Snyders These, die Ideologie des Faschismus sei weiter unter uns, sehr reich­haltige Evidenz. In einem Gedanken­experiment lässt er eine Gruppe von SS-Männern 1945 in eine Zeit­maschine steigen und in der Gegenwart landen.

Erst wären diese Reisenden sehr negativ überrascht von der Diversität und Offenheit der heutigen Gesellschaften. Doch dann würden sie an allen Ecken und Enden des Globus auf massive Krisen­symptome der Demokratien treffen, die ihnen angenehm vertraut vorkämen. Vor allem aber würden sie das Internet entdecken – und die Echo­kammern ihrer eigenen Ideologie, in denen völlig ungeschminkt zu Mord und Genozid aufgerufen werden kann und in denen sich rund um den Globus Millionen von Anhängern tummeln. Was tun die SS-Männer aus der Zeit­maschine, die die Zukunft erobern wollten, gemäss Mason? «Sie kaufen Popcorn, entspannen sich und geniessen das vergnügliche Spektakel. Ihre Mission war nicht erforderlich.»

Was Mason besonders beunruhigt, ist die neue Konvergenz zwischen Rechts­extremismus, Rechts­populismus und autoritärem Konservatismus. Der Rechts­extremismus setzt auf Gewalt und ist eigentlich faschistisch. Der Rechts­populismus bedient sich zwar rassistischer Rhetorik und nimmt es nicht genau mit rechts­staatlichen Prinzipien, aber Gewalt­anwendung interessiert ihn im Grunde nicht: Er will einfach Wahlen gewinnen, ganz egal wie. Der autoritäre Konservatismus ist typisch für den rechten Rand des Establishments. Es ist die Ideologie von konservativen Eliten, die sich eigentlich an die Spiel­regeln halten wollen, der eigenen Macht aber deutlich stärker verpflichtet sind als der Demokratie.

Wie hat sich das Zusammen­spiel dieser Kräfte verändert? «Das Problem ist», so Mason, «dass diese drei Strömungen begonnen haben, ganz bewusst Synergien zu erzeugen. Seit den Neunziger­jahren nahmen die Politik­wissenschaftler an, rechts­populistische Parteien würden als Brand­mauern gegen den eigentlichen Faschismus dienen. Tatsächlich ist das Gegen­teil geschehen. Die Brand­mauer hat Feuer gefangen.»

Mason entwickelt eine ausführliche, durch die historischen Erfahrungen informierte Diskussion der Faschismus-Definitionen und der «wehrhaften Demokratie». Der Kern der politischen Abwehr­strategie muss auf einer gemeinsamen Front von liberalen und linken Parteien beruhen. Und ein ganz entscheidendes Kampf­feld, gerade im Zeitalter der Internet-Kommunikation, ist der öffentliche Diskurs: «Das faschistische Gebäude muss abgerissen werden. Es ist immer noch ein vernünftiger Eröffnungs­zug, die Menschen mit der Wahr­heit zu konfrontieren», sagt Mason. Auch der Krieg in der Ukraine führt uns dramatisch vor Augen, wie sehr der Kampf gegen den Faschismus ein Kampf um die Wahrheit ist.

Und damit wären wir bei der Schweizer Debatte. Es ist sehr positiv, dass nun eine intensive Diskussion über Neutralität, Waffen­lieferungen, den Rohstoff­handels- und Finanz­platz sowie das absolut existenzielle Interesse geführt wird, das die Schweiz daran hat, osteuropäische Demo­kratien gegen den russischen Aggressor zu unter­stützen. Es kommt auch zu anerkennens­werten Repositionierungen, etwa wenn Mitte-Präsident Gerhard Pfister klar und deutlich formuliert, dass in der Ukraine auch die Schweizer Demokratie verteidigt wird und dass die Eidgenossen­schaft in der Pflicht steht – sowohl was den Umgang mit Oligarchen­geldern als auch was Waffen­lieferungen anbelangt. Allerdings gibt es aber auch die gegen­läufige Tendenz: die kaum verhohlene Putin-Apologetik.

In der «Arena» von letzter Woche verstieg sich SVP-Nationalrat Roger Köppel zu Aussagen, von denen kaum zu glauben ist, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen der Schweiz sie über den Äther gehen lassen muss. Grundsätzlich ist nicht welt­bewegend, was «Weltwoche»-Verleger Köppel im Fernseh­studio so von sich gibt. Aber hier sprach er als Vertreter von SVP-Präsident Marco Chiesa. Als Repräsentant von einem Viertel der Schweizer Wählerinnen.

Roger Köppel betreibt russische Kriegs­propaganda. Zwar sagt er in jedem zweiten Satz, der Krieg sei schrecklich, ein Völkerrechts­bruch, und Putin hätte nicht in der Ukraine einmarschieren dürfen. Aber in der «Arena» sagte er auch, sein Artikel vom 24. Februar, der eine Lobes­hymne auf Putin war, und das «Weltwoche»-Cover, auf dem er Putin den tragisch «Missverstandenen» nannte, seien aufgrund der Invasion überhaupt nicht zurück­zunehmen. Im Gegenteil: Köppel gibt nach wie vor den «Provokationen» der Nato die Schuld am Krieg. Zu den Verbrechen von Butscha hat er nichts zu sagen, ausser dass er es einen unfassbaren Skandal findet, dass man diese Verbrechen denunziert, obwohl es noch keine abschliessende, internationale Unter­suchung gegeben hat. Butscha verurteilen? Wo kämen wir da hin!

Es müsste jeden Schweizer Patrioten zutiefst degoutieren, dass dieser kaum verhohlene Pro-Putin-Diskurs sich auch noch eine neutralitäts­politische Papp­nase aufsetzt. Auf dem neuen «Weltwoche»-Cover werden nun Thierry Burkart und Gerhard Pfister als gewalt­geile Rambos karikiert. Putin ist der «Miss­verstandene», die bürgerlichen Schweizer Partei­präsidenten hingegen sind «Kriegs­treiber». Der SVP-National­rat fühlt sich offensichtlich völlig unangreifbar, weil er nicht nur obszönen Unsinn, sondern gleich immer auch noch das Gegen­teil behauptet. So argumentieren Faschisten.

Der Russland-Ukraine-Krieg ist eine Bewährungs­probe, ganz besonders für die westlichen Demo­kratien, die mit ihren haus­gemachten Bedrohungen zu kämpfen haben. Wir sehen es auf sehr dramatische Weise in den USA. Wir dürfen auch vor den politischen Realitäten in der Schweiz die Augen nicht verschliessen.

Illustration: Alex Solman

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