Hinter Gittern. Der Zaun um die Justizvollzugs­anstalt Hindelbank wurde erst 1996 errichtet. Im Hintergrund der Verwaltungstrakt im barocken Schloss.

Die Hindelbank-Gespräche

Einst thronte der Schultheiss von Bern auf dem Hügel über Hindelbank. Heute steht dort eine Haftanstalt. Die Geschichte des grössten Frauen­gefängnisses der Schweiz – und Einblicke, präsentiert von den Insassinnen selbst.

Von Brigitte Hürlimann (Text) und Yoshiko Kusano (Bilder), 21.05.2022

Synthetische Stimme
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Einen Moment lang ist die Welt verkehrt.

Wir müssen am Eingang die Handys abgeben und werden von Sicherheits­leuten in Empfang genommen. Sie führen uns in eine Turnhalle. Dort sitzen wir in Reih und Glied, starren auf die menschenleere Bühne, knöpfen fröstelnd die Jacken bis unters Kinn zu. Und wenn wir den Blick ein klein wenig heben, dann sehen wir: vergitterte Fenster.

Wir sind eingeschlossen. Wir sind drinnen, sie sind draussen.

Musik ertönt. Wie aus dem Nichts tauchen sieben Frauen auf, kleben mit ihren Nasen an den Gitterstäben und blicken neugierig zu uns rein. Sie tanzen, rauchen, spielen Federball, lassen Seifenblasen in die kalte, finstere November­nacht steigen – und oha: Eine von ihnen will offenbar verreisen. Sie trägt einen Hut auf dem Kopf, einen Koffer in der Hand und hebt den Daumen in die Luft. Auf einem Stück Karton hat die Frau ihr Reiseziel in grossen Lettern festgehalten: Paris.

Ob ein Autofahrer vorbeikommen und sie abholen wird? Nein. Keiner wird die junge Frau mitnehmen. Der Eiffelturm bleibt für sie vorerst unerreichbar. Nicht nur heute Abend.

Ihr Ausflug endet spätestens am Zaun, der das ganze Areal umgibt und alle Reisepläne zunichtemacht. Sie weiss, wo sie ist und auch warum. Sie kennt die Grenzen und Regeln, die hier gelten. Und bevor sie mit den anderen nach drinnen kommt – zu uns in den Saal, zu uns, die jederzeit nach Paris fahren könnten, wenn wir es wollten –, dreht sie ihr Kartonschild um:

Hindelbank steht da geschrieben.

Sieben Frauen reihen sich auf der Bühne auf. Sie sind jung und alt, dick und dünn, hell und dunkel, gross und klein, Akademikerinnen und Ungelernte. Sie sprechen uns auf Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch an.


«Herzlich willkommen in Hindelbank.»

«Herzlich willkommen im Gefängnis.»

«Wir sind Insassinnen und möchten Ihnen unseren Alltag näherbringen.»

«Wir leben direkt neben dem Schloss.»

«Wir sind Täterinnen und Opfer, verurteilte Verbrecherinnen, wir sind eingesperrt, aber wir sind auch Prinzessinnen und Königinnen.»


Willkommen also in Hindelbank, zwischen Burgdorf und Bern gelegen, eine ländliche Agglomerations­gemeinde. Knapp dreitausend Menschen leben im Dorf; Mittelstand, keine Problemquartiere, dafür ein Übermass an Lastwagen, die durchs Zentrum donnern.

Es gibt ein Dorfcafé, einen Volg-Laden, ein Kebab-Lokal, einen Beck, eine Metzg, ein saisonales Sofa-Theater, eine Brockenstube, viele Coiffeur­salons und Bauernbetriebe, eine komfortable Anbindung an den öffentlichen Verkehr und eine gute Schul­infrastruktur, das vielleicht schönste Barockschloss des Landes – und: das grösste Frauengefängnis der Schweiz.

Vom Herrschaftssitz zur Armenanstalt

«Hindelbank ist ein Schlafdorf», sagt Schulleiterin Christine Thomet. «Hier gibt es nicht einmal eine Post oder einen Bancomaten. Nur wenige Lehrerinnen und Lehrer wohnen im Dorf.»

«Hindelbank ist kein Schlafdorf», sagt Gemeinderats­präsident Daniel Wenger. «Wenn etwas läuft, dann kommen die Leute. Als wir im Sommer 2021 die Olympia­medaille unserer Radrennfahrerin Marlen Reusser feierten, strömten 500 Leute aufs Schulareal. Wir hatten mit der Hälfte gerechnet. Und im Sofa-Theater ist sogar schon Mike Müller aufgetreten.»

«Ich bin sauer, dass das Schloss nicht mehr öffentlich zugänglich ist», sagt Werner Krebs, ehemaliger Primarlehrer, Gemeinde­politiker und Kunstliebhaber. Im Dorf nennt man ihn «das Lexikon von Hindelbank».

Das Barocke und die frühere Feudalherrschaft, sagt Krebs, gehörten zur Geschichte der Gemeinde. Davon zeugten das Schloss, aber auch die beiden historischen Grabmäler in der reformierten Kirche, die schon den jungen Goethe, Arthur Schopenhauer oder Albert Anker angezogen hätten. Die Ruhestätten für Hieronymus von Erlach und für die junge Pfarrersfrau Maria Magdalena Langhans, die bei der Geburt ihres ersten Kindes starb, hat in den 1750er-Jahren der Bildhauer Johann August Nahl geschaffen.

Die Grabmäler stehen bis heute jederzeit und für jedermann offen. Anders das Schloss.

Es war besagter Hieronymus von Erlach, einflussreicher Patrizier und Söldner in fremden Diensten, der die Tochter eines stinkreichen Berners heiratete und sich mit dem Erbe des Schwiegervaters eine zweite, standesgemässe Loge leisten konnte – einen Herrschaftssitz, nahe genug an Bern, an der politischen Macht und am gesellschaftlichen Leben.

Ein erstes Schloss, eine Maison de plaisance, hatte sich der Feudalherr zwar nur wenige Jahre zuvor in Thunstetten errichten lassen. Doch 1721 wird Hieronymus von Erlach zum Schultheiss der Republik Bern ernannt, und er realisiert, dass Thunstetten trotz Vier- oder Sechsspänner zu weit weg von der Hauptstadt liegt, wo seine Anwesenheit fast täglich eingefordert wird.

Noch im gleichen Jahr nimmt von Erlach die Arbeit an einem zweiten Schloss, diesmal in Hindelbank, auf. 1725 kann es bezogen werden – und soll fortan fünf Generationen lang in den Händen seiner Familie bleiben. Bis sich die Patrizier das Schlossleben nicht mehr leisten können.

1866 springt der Kanton Bern ein und kauft Robert von Erlach, dem letzten Besitzer und Schlossbewohner, das repräsentative Grundstück ab. Mit dem Herrschafts­leben ist nun endgültig Schluss. Dort, wo sich jahrzehntelang der Adel verlustiert hat, in all diesen getäferten, üppig verzierten und bis zur Decke hinauf romantisch bemalten Räumen, ziehen jetzt die Ärmsten der Armen ein. Der Kanton Bern eröffnet im Barockschloss von Hindelbank eine «Notarmen­verpflegungs­anstalt für Frauen».

Die Strafe für ein liederliches Weib

Justizvollzugs­anstalt Hindelbank. Wir schreiben den November 2021.

Auf der Bühne in der Gefängnis­turnhalle stehen sieben Insassinnen, ganz in Schwarz gekleidet, im Minirock und mit Plateauschuhen, in Anzug und Krawatte, im knallbunten, bodenlangen Kleid oder im Clown­kostüm. Die Zuschauer­reihen sind bis auf den letzten Platz gefüllt, und fast alle im Publikum sind vor der Aufführung durch den Weihnachtsmarkt im Schlosshof geschlendert, der jedes Jahr stattfindet und jeweils Hunderte von Menschen aus nah und fern anzieht.

Eingewiesene Frauen der JVA Hindelbank arbeiten im Waschwerk. Die Insassinnen haben nur einmal fünf Tage am Stück im Jahr frei.
Ein Bauer aus der Umgebung bringt Waren in die JVA Hindelbank.
Auf dem Feld wird Gemüse angebaut.

Es ist die einzige Gelegenheit, Hof und Schloss betreten zu dürfen, die Monumental­treppe im Vestibül hochzusteigen und von den Schlossfenstern aus den Blick übers ehemalige Untertanen­gebiet schweifen zu lassen. Draussen an den Marktständen werden Handwerk und Backwaren feilgeboten, die von Gefängnis­insassinnen hergestellt wurden. Krethi und Plethi treffen sich hier oben, man isst, trinkt, schwatzt, erledigt ein paar Weihnachts­einkäufe – und nicht wenige schielen verstohlen auf die Verkäuferinnen hinter den Marktständen und fragen sich wohl im Stillen:

Wer von ihnen ist nun Insassin – und wer nicht?

Letztes Jahr waren das Schloss und der Schlosshof länger zugänglich als sonst. Alles war ein bisschen anders. Wochenlang feierte man in Hindelbank 300 Jahre Schloss und 125 Jahre Strafvollzug. Es gab eine Ausstellung, ein Jubiläumsbuch – und eben die Theater­aufführung. Ein Novum fürs Frauengefängnis. Bei vier Vorstellungen für die Öffentlichkeit und einer nur für die Anstalt war als Publikum ein kleiner, eingeweihter Kreis zugelassen: Angehörige, Nahestehende, Vertrauens­personen, Behörden­mitglieder und Honoratioren aus Gemeinde und Kanton.


«Mir isch langwiiilig …»

«Was machst du als Erstes, wenn du hier rauskommst?»

«Meine Kinder umarmen.»

«An ein Konzert gehen, Tschaikowsky, und Champagner trinken.»

«Das Grab meines verstorbenen Vaters besuchen.»

«In den Wald gehen und schreien.»

«Ein Bier trinken.»


Früher war Hindelbank eine Armenanstalt, danach eine Zwangsarbeits­anstalt für Weiber. Auch wurden Frauen administrativ versorgt. Wegen liederlichen Lebenswandels.

Da fragt sich nur: Wo beginnt der liederliche Lebenswandel?

Was die Schauspielerinnen so nebenher erwähnen, betrifft eines der dunkelsten Kapitel der Schweiz. Und ist die Geschichte «ihres» Gefängnisses, der Anstalt von Hindelbank.

1884 hatte der Kanton Bern eine gesetzliche Grundlage für die «administrative Versorgung» geschaffen. Das bedeutete: Wer einen Lebensstil führte, der damals als gesellschaftlich unerwünscht, als «liederlich», galt, konnte auf unbestimmte Zeit weggesperrt werden – ohne Gerichtsurteil und ohne dass die Betroffenen straffällig geworden wären.

Die «Zwangsarbeits­anstalt» von Hindelbank nahm ab 1912 nicht nur verurteilte Straftäterinnen, sondern auch «administrativ internierte» Frauen auf. Ihnen wurde Arbeitsscheu, Land­streicherei, Familien­vernachlässigung, Gefährdung der Kinder, Trunksucht, Prostitution oder Gemeinde­belästigung vorgeworfen. In der Gefangenschaft sollten sie zurück zum anständigen, normgetreuen Leben finden – sich künftig so verhalten, wie man sich in der damaligen, bürgerlich-konservativen Männer­gesellschaft ein sittliches Frauenleben vorstellte.

Im Gegensatz zu den Straftäterinnen wussten die «administrativ Versorgten» nie, wie lange sie im Gefängnis bleiben mussten. Manchen wurden die Kinder weggenommen, einige ohne ihr Wissen zwangssterilisiert. Das Unrechtsregime nahm erst 1981 ein Ende.

Zu den unzähligen Opfern der jahrzehnte­langen Behörden­willkür gehören die Schriftstellerinnen Mariella Mehr und Ursula Biondi. Beide wurden in den 1960er-Jahren in Hindelbank eingesperrt, beiden die Kinder entrissen. Die zwei Frauen machten später ihr Schicksal öffentlich, kämpften um eine Aufarbeitung der Geschichte und um eine behördliche Entschuldigung. Beiden wurde in Anerkennung ihres Engagements die Ehrendoktorinnen­würde verliehen.

Am 10. September 2010 bat die damalige Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf bei einem Besuch im Frauen­gefängnis um Entschuldigung für das Unrecht, das den «administrativ Versorgten» angetan worden war. Im Namen des Gesamt­bundesrats sagte die Bündner Magistratin: «Das Geschehene kann nicht mehr rückgängig gemacht werden, auch nicht durch das Recht.»


«Wir haben alle das Gleiche hinter uns. Verhaftung, U-Haft, Isolation, Handschellen, Verhöre, Gerichts­verhandlung, Urteil – Abtransport nach Hindelbank.»

«Wir haben schlaflose Nächte, traumlose Nächte, Albträume.»

«Unsere Bettwäsche hat die Farben: zwei Wochen lang Grün, zwei Wochen lang Blau.»


In den Zeiten, in denen sich die «administrativ Versorgten» und die Straftäterinnen den Gefängnisalltag in Hindelbank teilten, wurden die zwei Gruppen durch ihre Kleidung unterschieden. Die Straftäterinnen trugen blaue Schürzen, die «administrativ Versorgten» braune.

Sämtliche Insassinnen lebten bis Mitte der 1960er-Jahre unter widrigsten Bedingungen: zwar im schönsten Barockschloss der Schweiz und unter dem gleichen Dach mit der fünfköpfigen Direktionsfamilie, aber es war dunkel, eng und kalt – und meist hoffnungslos überfüllt. Die Frauen wurden in grosse Schlaf- und Arbeitssäle gepfercht, Pritsche stand neben Pritsche, von Privatsphäre keine Spur.

Gefängnisdirektor Fritz Meyer, der zusammen mit seiner Gattin Martha von 1950 bis 1983 die Anstalt leitete und täglich Tagebuch führte, notierte am 9. Februar 1956: «Bei den ‹Braunen› war es trotz Heizung und Ofen auf Rotglut 3 Grad.»

Direktor Meyer wollte solche Zustände nicht länger hinnehmen.

Der steinige Weg zur Anstaltsbesserung

Fritz Meyers Tochter, Marianne Furer-Meyer, ist heute Präsidentin des gemeinnützigen Vereins von Hindelbank, der sich vor allem um die Älteren im Dorf kümmert.

Bei einem Mineralwasser im Café Füürio erzählt die 67-Jährige, wie sie jeweils im Winter als Kind im Schlossbett erwachte, unter einer Bettdecke liegend, die mit einer dünnen Eisschicht belegt war: «Die Zimmerpflanzen erfroren, der Waschlappen war steinhart, mein Bruder ständig krank. Es war gar nicht komfortabel im Schloss. Und doch habe ich gute Erinnerungen an diese Zeit. Die Insassinnen passten auf uns auf, wir spielten mit ihnen. Es waren die unterschiedlichsten Frauen, an manche Namen kann ich mich noch erinnern. Ich hatte nie Angst vor ihnen, es war das Normalste der Welt, mit ihnen unter einem Dach zu leben. Weil es noch keinen Zaun gab, mussten sich die Insassinnen ja mehrheitlich im Haus aufhalten.»

Der Blick in die Sicherheitszelle ist in der Regel nur der Katze gewährt.
Die wenigen Telefonzellen vor Ort sind ständig besetzt.
Outdoor-Fitness hoch über dem Dorf. Die Insassinnen nehmen am sportlichen Freizeitangebot der JVA Hindelbank teil.

Schon bald nach seinem Amtsantritt nimmt der junge Direktor Fritz Meyer einen aufreibenden Kampf um bessere Bedingungen im Schlossgefängnis auf. Er muss feststellen, dass das Schicksal von eingesperrten Frauen niemanden interessiert – dass die Behörden wenig motiviert sind, für einen humanen Strafvollzug Geld auszugeben. Er beginnt, landauf und landab zu informieren, hält Vorträge und Referate, schreibt Fachartikel, weibelt unermüdlich bei Behörden­mitgliedern und Politikern.

Seine Bemühungen zeigen Erfolg.

1959 bewilligt das Berner Stimmvolk den Kredit für einen Neubau und für dringend nötige Sanierungen im Schloss. 1962 eröffnet Meyer eine Mutter-Kind-Abteilung, 1974 eine Abteilung für Jugendliche und 1980 einen Hochsicherheitstrakt, denn RAF-Terroristin Gabriele Kröcher-Tiedemann zieht im Frauengefängnis ein. Sie hat 1977 zusammen mit einem Komplizen zwei Schweizer Grenzwächter angeschossen und kommt sieben Jahre lang in Hindelbank ins Gefängnis.

Direktor Fritz Meyer schreibt am 18. August 1980 in seinem Tagebuch: «Nun ist sie da, die grosse Dame Kröcher. Um 11.30 Uhr fährt sie unter grossem Polizeiaufgebot ein und wird sofort in der TR-Abteilung (Terroristinnen-Abteilung, d. Red.) versteckt. Grosse Aufregung. In der Abt. fehlt es noch an allen Ecken und Enden.»

Dank der Neubauten, die ab Mitte der 1960er-Jahre bereitstehen, ist Schluss mit den Massensälen, der Enge und der Eiseskälte im Winter. Das Schloss beherbergt fortan keine Direktionsfamilie und keine Insassinnen mehr, sondern wird in ein Verwaltungs­gebäude umgewandelt.

Doch ruhig geworden ist es deshalb nicht. «Äs geit ömu gäng öppis!», schreibt Direktor Fritz Meyer in seinen letzten Dienstmonaten ins Tagebuch.

In den späten 1970er-Jahren rumort es besonders heftig. 66 Insassinnen richten eine Petition an den damaligen CVP-Bundesrat Kurt Furgler, den Vorsteher des Justiz- und Polizei­departements. Die Frauen verlangen Reformen: das Ende der Isolationshaft, offene Zellen an den Wochenenden, das Recht auf einen Vertrauensarzt oder die Erhöhung der wöchentlichen Besuchszeit. Die Eidgenössische Kommission für Frauenfragen nimmt sich des Themas an und macht zahlreiche Verbesserungs­vorschläge; ihren Bericht veröffentlicht sie 1978. Die Kommission verlangt unter anderem:

  • Frauenanstalten durch Frauen leiten zu lassen;

  • mehr Befugnisse und Mitsprache­möglichkeiten fürs Personal;

  • Behandlungspläne für die Insassinnen;

  • Gruppenvollzug;

  • Ausbildungsmöglichkeiten;

  • die Arbeit innerhalb der Anstalt zu fördern;

  • Mitspracherecht und Mitverantwortung für die Insassinnen;

  • den Arrest und die Anstaltskleidung abzuschaffen;

  • die Einführung des stufenweisen Vollzugs;

  • vermehrt Urlaub für die Insassinnen.

Vor dem Frauengefängnis in Hindelbank und in der Anstalt selbst kommt es in diesen Jahren des Wandels zu Demonstrationen mit Sach­beschädigungen und Leicht­verletzten. Direktor Meyer muss vorübergehend Polizeischutz in Anspruch nehmen.


«Manchmal kommen wir in den Gefängnis­mauern an unsere Grenzen. Der Bunker dient als Massnahme, wenn wir renitent sind.»

«Auch unser Frühstück ist eingesperrt. Jede Insassin hat ein Fächlein, wie ein Schliessfach – nur ohne Bankkonto, Aktien und Juwelen. Im Schliessfach wartet unser Frühstück.»

«Wir werden morgens um 7 geweckt. Und um 21 Uhr wieder eingeschlossen.»

«Ausser in einer anderen Abteilung, hier geht die Türe schon um 19 Uhr zu. Die Klospülung ist sehr laut, sonst ist es ruhig. Wenn etwas passiert in der Nacht, haben wir einen roten Knopf. Dü, dü, dü … Hallo, Loge?»

«Unsere Zellen sind 8 bis 12 Quadratmeter klein. Wir haben einen Fernseher. Der kostet uns 1 Franken pro Tag. Im Februar ist es am günstigsten.»

«Wir leben in Wohngruppen, aber Sie müssen sich das nicht als eine gechillte WG vorstellen. Es ist eher eine Zwangs­gemeinschaft.»

«Wir mögen das Wort Kuscheljustiz nicht. Es vermittelt den falschen Eindruck. Kuschelig ist es in Hindelbank nur selten.»


Das Dorf im Gefängnis, das Gefängnis im Dorf

Doch welchen Eindruck haben die Dorfleute heute vom Gefängnis, von den gut hundert Insassinnen, die hier eine Strafe verbüssen oder sich auf unbestimmte Zeit in einer Massnahme – zum Beispiel der Verwahrung – befinden?

Schulleiterin Christine Thomet: «Man weiss, dass es dort eine Anstalt gibt, aber es ist ein dunkler Fleck. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, wer da oben lebt. Der Strafvollzug wird an unserer Schule nicht thematisiert.»

Marianne Furer-Meyer, Präsidentin des gemeinnützigen Vereins: «Heute ist die Anstalt abgeschottet. Es wäre schön, wenn sich Gefängnis und Dorf wieder näherkämen.»

Gemeinderats­präsident Daniel Wenger: «Die meisten interessiert die Anstalt überhaupt nicht, das Wissen um den Strafvollzug ist klein. Aber das Gewerbe profitiert davon, darum haben wir uns auch mit Erfolg dagegen gewehrt, als das Frauengefängnis in eine andere Gemeinde hätte verlegt werden sollen. Doch die Anstalt ist eine eigene Welt, man lebt aneinander vorbei.»

Trügerische Idylle. Eine Mitarbeiterin des Sicherheitsdienstes dreht eine Kontrollrunde mit ihrem Hund um die streng bewachte Frauenanstalt in Hindelbank.
Das Gebäude und der Innenhof einer Wohngruppe der JVA Hindelbank. Hier lebt man von der Aussenwelt abgekapselt.

Zur gleichen Schlussfolgerung wie der Hindelbanker Exekutiv­vorsteher sind auch Nathalie Grunder und Yvonne Schüpbach gekommen, die 2019 im Rahmen eines Forschungs­seminars an der Uni Bern die Beziehungen zwischen Dorf und Anstalt untersuchten. Die beiden Historikerinnen führten zahlreiche Interviews und stellten fest, dass vor allem die Errichtung eines Zauns rund ums Gefängnisareal von der Dorfbevölkerung als Zäsur wahrgenommen wurde. Das war 1996. Zuvor war es selbstverständlich gewesen, dass man sich begegnete und sich gegenseitig grüsste.

Die Hindelbanker Familien spazierten gerne zum Schloss hoch. Man sah die Insassinnen, wie sie im Hof oder auf den Feldern arbeiteten. «Ich fand das schön», sagt Werner Krebs, das «Lexikon von Hindelbank». Er lebt seit 60 Jahren im Dorf, als er 1962 als junger Primarlehrer von der Bundesstadt aufs Land zog – und entgegen seiner ursprünglichen Pläne geblieben ist.

«Die Insassinnen waren damals nicht völlig abgekapselt, sie hatten noch Kontakt mit der Aussenwelt. Das änderte sich von einem Tag auf den anderen, als der Zaun kam.»

Zu einer weiteren Entfremdung zwischen Dorf und Anstalt sei es gekommen, als die Residenzpflicht für Staats­angestellte aufgehoben wurde. «Früher lebte das Anstaltspersonal in Hindelbank, engagierte sich in der Gemeinde, die Kinder gingen hier zur Schule.»

«Anstältler» hat man die Mitarbeiter und deren Familien im Dorf unten liebevoll genannt, die Verbindung war vielseitig und stark. Das ist Vergangenheit. Kaum ein Anstalts­mitarbeiter (wie auch kaum eine Lehrerin) lebt heute noch in Hindelbank.

Mit Wehmut erinnert sich Krebs an die vielen Konzerte und Theater­aufführungen im Schlosshof. Sie fanden mit der Einzäunung des Areals, das heute ein Geviert aus Wohnbauten, Gewerberäumen, Gartenanlagen und das Barockschloss umfasst, ein Ende. «Wir haben Komödien von Carlo Goldoni aufgeführt, Schloss und Hof waren die ideale Kulisse dafür – immerhin ist Goldoni ein Zeitgenosse von Hieronymus von Erlach.»

Zeitgenössisches präsentieren nun auch die Schauspielerinnen auf der Turnhallen­bühne – es ist die Geschichte ihres Alltags, einer unfreiwilligen Realität, und es sind Erfahrungen aus einer Welt, die sich kaum einer vorstellen kann, der auf der anderen Seite des Zauns lebt.


«Wir warten den ganzen Tag: auf unsere Entlassung, dass die Schleusen aufgehen, auf einen Bescheid der Behörde, auf die Bearbeitung unserer Anträge, auf ein Päcklein, auf ein nettes Wort.»

«Wir haben Dinge getan, die nicht gut waren. Wir sind der Abschaum der Gesellschaft. Aber trotzdem sind wir auch Frauen, die lieben, lachen, weinen, grosse Herzen haben und voller Hoffnung sind.»

«Wir schämen uns oft.»

«Wir sehnen uns nach Freiheit.»

«Die Minuten sind Stunden, sind Tage, sind Wochen, sind Jahre.»


Das Hindelbanker Theaterstück ist in monatelanger Zusammenarbeit mit der Schauspielerin, Kabarettistin und Regisseurin Bettina Dieterle entstanden. Die Theaterfrau, die vor diesem Projekt noch nie etwas mit Gefängnissen oder Straftäterinnen zu tun hatte, eroberte das Vertrauen und die Herzen der Insassinnen. Sie hat sich den Frauen behutsam und respektvoll angenähert, hat ihnen zugehört und sich aufgeschrieben, was ihr berichtet wurde, hat die Gruppe durch Hoch und Tief begleitet – und immer wieder von neuem motivieren können.

Das Stück endet mit Träumen und Wünschen. Und spätestens jetzt fliessen die Tränen. Auf der Bühne wie in den Zuschauerreihen. Ein letztes Mal an diesem Abend reihen sich die Frauen vor ihrem Publikum auf.


«Wir haben einen Traum.»

«Dass ihr uns auch als Menschen seht, nicht nur als Delinquentinnen.»

«Dass ihr wisst, dass wir uns täglich mit unserer Schuld auseinandersetzen.»

«Dass ihr uns nicht verachtet, das tun wir selbst schon genug.»

«Dass ihr uns trotz allem mit Respekt begegnet.»

Musik.

Und Schluss.

Stille im Raum.

Dann tobender Applaus. Standing Ovations. Noch mehr Tränen. Noch mehr Applaus.

Gefängnisdirektorin Annette Keller erlaubt den Angehörigen, ein paar Worte mit den Insassinnen zu reden, bevor diese zurück in die Zellen kehren, bevor bei ihnen die Türen von aussen abgeschlossen werden. Bis zum nächsten Morgen, bis sie im Schliessfach ihr Frühstück holen dürfen.

«Ich habe das Theaterstück gesehen», sagt Gemeinderats­präsident Daniel Wenger, «ich habe über den Mut und die Offenheit der Frauen gestaunt und grösste Hochachtung empfunden. Würde man ihnen auf der Strasse begegnen, fiele es einem niemals ein, dass sie aus dem Gefängnis kommen könnten.»

Gut möglich, dass sich in Zukunft die Wege von Insassinnen und Dorfbewohnern öfters kreuzen werden. Zumindest öfters als in den vergangenen Jahrzehnten.

Vor wenigen Wochen wurde mitten im Dorf eine Aussenstation für jene Gefangenen eröffnet, die bald entlassen und unter möglichst realitätsnahen Bedingungen aufs Leben danach vorbereitet werden sollen. Dem Haus sieht man diese Nutzung nicht an. Es ist ein unauffälliger Neubau mit fünf Wohnungen und zwei Studios, der Platz für zwölf Bewohnerinnen bietet. Die Frauen gehen einer externen Arbeit nach und werden in der Aussenstation von Sozialarbeiterinnen rund um die Uhr betreut. Das Gebäude gehört einem privaten Investor. Er hat der Gemeinde Hindelbank das Land abgekauft und das Haus gebaut. Der Kanton Bern ist Mieter, die Justizvollzugs­anstalt Nutzerin.

Die Eröffnung der neuen Aussen­wohngruppe war mit Nebengeräuschen verbunden. Der Eigentümer eines direkt angrenzenden Wohnblocks versuchte die Nutzung des Neubaus zu verhindern. Er legte Rechtsmittel ein und machte unter anderem «ideelle Immissionen» geltend – also übermässige psychische Beeinträchtigungen.

Die künftigen Bewohnerinnen des Wohnhauses, so der Kläger, hätten schwere Straftaten verübt. Das löse ein «erhebliches und dauerndes Unbehagen» aus. Der Ruf der Wohngegend und der Wert der angrenzenden Grundstücke würden beeinträchtigt.

Der Nachbar ging bis vors Berner Verwaltungs­gericht – und unterlag. Das Mehrfamilien­haus unterscheide sich «weder in der äusseren noch inneren Gestaltung von anderen Mehrfamilien­häusern», heisst es im Urteil vom Juli 2020. Es gehe um eine typische Nutzung. Das Wohnen stehe im Vordergrund, und es handle sich bei den künftigen Bewohnerinnen nicht um gefährliche Frauen. Diese kämen für ein Wohn- und Arbeits­externat gar nicht infrage, schreibt das Verwaltungsgericht.

Bevor die ersten Bewohnerinnen Anfang dieses Jahres eingezogen sind, organisierte die Anstaltsleitung einen Tag der offenen Tür für die Quartier­bevölkerung. Das Interesse sei enorm gewesen, sagt Gefängnis­direktorin Annette Keller – und die Reaktionen höchst unterschiedlich: «Die einen fanden die Wohnungen angenehm und komfortabel, andere wiederum sagten, sie könnten nie so leben.»

Wie weiter mit dem Schloss?

Annette Keller, 61 Jahre alt, Theologin und Sozialarbeiterin, leitet das grösste Frauengefängnis der Schweiz seit elf Jahren. 2020 hat ihr die Uni Bern die Ehrendoktorinnen­würde verliehen – für ihren «konsequenten, nachhaltigen und innovativen Einsatz für die Menschenwürde und die Rechts­staatlichkeit im Straf- und Massnahmen­vollzug.»

Sie bedaure es, sagt die Direktorin, wenn im Dorf der Eindruck bestehe, das Gefängnis habe sich zu sehr abgekapselt. Das sei nicht die Absicht: «Die Anstalt muss regional verankert sein, das ist mir wichtig. Ich habe deshalb die Beziehungen zum lokalen Gewerbe ausgebaut. Der Volg betreibt unseren gefängnis­internen Laden, der benachbarte Bauer arbeitet schon lange mit uns, und die Hindelbanker Feuerwehr macht regelmässig Übungen auf dem Areal. Sie ist auch fürs Gefängnis zuständig. Und mit der neuen Aussen­wohngruppe sind wir jetzt wieder präsenter im Dorf.»

Man müsse jedoch auch die Interessen der Insassinnen berücksichtigen, die unerkannt bleiben möchten, betont Keller: «Sie haben den Eindruck, dass ihnen das Gefängnis auf die Stirn tätowiert ist – dass ihnen jedermann ansieht, woher sie kommen. Die Bewohnerinnen der Aussenstation leben nun zwar mitten im Dorf, sie arbeiten aber ausserhalb von Hindelbank. Wir sind derzeit noch unsicher, ob wir uns um Arbeitsstellen im Dorf bemühen sollten; wegen dem Wunsch der Frauen nach Anonymität.»

Führungen durchs Gefängnis biete sie nur beschränkt an und vor allem für Leute mit beruflichem Interesse: «Ich will nicht, dass sich die Insassinnen wie in einem Zoo fühlen.»

Direktorin Annette Keller (61) leitet die Justizvollzugsanstalt Hindelbank seit 2011.

Was aber das Schloss betrifft, dieses eingezäunte, barocke Juwel aus der Feudalzeit, das Teil einer modernen Justizvollzugs­anstalt geworden ist, darüber lässt die Gefängnis­direktorin mit sich reden. Der Wunsch aus dem Dorf, das Prachtgebäude vermehrt zugänglich zu machen, ist bei ihr angekommen. Das Jubiläumsjahr ist vorbei, die Ausstellung weggeräumt, nun setzt man sich an den runden Tisch und blickt nach vorne. Das Brainstorming in Sachen Schlossöffnung hat begonnen. «Wie weiter?» ist das einzige Thema einer Arbeitsgruppe mit Vertretern aus der Gemeinde, der Anstalt und mit Fürsprecher Christoph Reichenau, dem Initiator der Jubiläums­aktivitäten und dem 300 Seiten dicken Buch dazu.

Das Unterfangen der Arbeitsgruppe kommt gerade zur richtigen Zeit, denn bei der Anstalt stehen umfassende Sanierungen an – und damit verbunden eine neue Definition des inneren Sicherheits­perimeters.

«Ganz aufs Schloss verzichten können wir nicht», sagt Annette Keller, «es wird auch in Zukunft innerhalb der Anstalt und innerhalb der gesicherten Zone bleiben. Aber vielleicht können wir es einem Bereich zuordnen, der für die Öffentlichkeit besser zugänglich ist; ohne dass wir bei der Sicherheit Abstriche machen müssen. Wir sind auf die Schlossräume angewiesen. Das schliesst jedoch weitere Nutzungen nicht aus. Dass das Interesse gross ist, haben wir im Jubiläumsjahr deutlich gemerkt.»

Zahlen und Fakten: Die Anstalt von Hindelbank

Im grössten Frauengefängnis der Schweiz leben bei Vollbelegung knapp über 100 Insassinnen, die von rund 110 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betreut werden. Die Hälfte der Inhaftierten sind Mütter und etwa die Hälfte Schweizerinnen. Die Ausländerinnen stammen aus 30 Nationen. Das Durchschnittsalter liegt bei 40 Jahren. Rund ein Drittel der Insassinnen wurde wegen eines Tötungsdelikts eingewiesen, ein weiteres Drittel wegen Drogendelikten. Die anderen Straftaten betreffen vor allem Diebstahl, Raub oder Betrug. Etwa 40 Prozent der Frauen weisen eine psychische Beeinträchtigung auf – jede zweite hat selbst Gewalt erlebt.

60 Prozent der Eingewiesenen bringen keine Berufsbildung mit oder haben ihre Ausbildung abgebrochen. Rund 20 Prozent der Frauen werden nach ihrer Entlassung wieder rückfällig – meist in Zusammenhang mit einer Drogensucht. Ein Gefängnisplatz in Hindelbank kostet im Normalvollzug 362 Franken pro Tag, in der Sicherheits­abteilung 660 Franken pro Tag.

Ein Drittel bis zur Hälfte der Insassinnen wissen nicht, wie lange sie im Freiheitsentzug bleiben müssen. Sie befinden sich in einer Massnahme mit Open End sowie im vorzeitigen Straf- oder Massnahmen­vollzug. Zu den Massnahmen gehört unter anderem die Verwahrung. Ein Viertel der Frauen bleibt über vier Jahre in der Anstalt.

Der Anteil der Frauen an allen in der Schweiz inhaftierten Personen beträgt 6 Prozent.

Das letzte Wort den Schauspielerinnen

So viel zum Schloss. Doch wie geht es mit den Insassinnen weiter? Mit den Straftäterinnen, Verurteilten, Verwahrten, Bestraften, den Müttern, Töchtern, Ehefrauen und Schwestern, den Prinzessinnen und Königinnen, für die in Hindelbank der Gefängnis­alltag längst wieder begonnen hat – ohne Publikum, Applaus und Standing Ovations?

Wir treffen uns Anfang Jahr zum Gespräch im Gefängnis, in einem der Verwaltungs­gebäude, direkt unter dem Dach. Wir sitzen im Kreis. Fünf der sieben Schauspielerinnen haben sich bereit erklärt, die Fragen der Journalistin zu beantworten. Die Frauen bitten um Anonymität. Direktorin Annette Keller eröffnet die Runde und zieht sich danach diskret zurück – die Insassinnen sollen frei von der Leber erzählen können.

Warum haben Sie sich entschieden, bei diesem Theaterprojekt mitzumachen?
«Es ist mein Traum, später einmal als Schauspielerin arbeiten zu können.»

«Ich war als Kind oft im Theater, zusammen mit meiner Mutter, ich reiste nach Paris, um gewisse Stücke zu sehen. Die Leidenschaft ist geblieben. Bei dieser Aufführung stand ich zum ersten Mal auf der Bühne, bisher war ich immer nur im Publikum. Ich hätte allerdings nie gedacht, dass diese Premiere in einem Gefängnis stattfinden wird.»

«Ich habe das Theaterspielen als erlösend empfunden, es half, meine Situation und meine Probleme ein wenig zu vergessen. Ich konnte mich vorübergehend von dem trennen, was wehtut. Wir sind nicht freiwillig im Gefängnis, aber wir waren freiwillig in der Theatergruppe.»

«Für mich war es ein Experiment, denn eigentlich habe ich wahnsinnig Angst vor Menschen. Ohne die Regisseurin, ohne die Unterstützung und Aufmunterung von Bettina Dieterle, hätte ich es nicht geschafft. Ich dachte immer, die Leute würden gar nicht merken, dass ich da bin, sie würden mir nicht zuhören, ich könne mir kein Gehör verschaffen. Aber sie haben zugehört. Eine solche Erfahrung habe ich noch nie in meinem Leben gemacht.»

«Es ist das erste Mal, dass ich zusammen mit anderen etwas unternommen habe. Es war schön, aber auch extrem anstrengend, geistig und körperlich. Ich würde es wieder machen, ich habe viel Freude daran bekommen, heute fehlt mir die Theaterarbeit.»

«In der Theatergruppe wurde ich akzeptiert, so, wie ich bin. Man hat mich respektiert, auch dass ich mich als Mann fühle, nicht als eine Frau. In der Schule wurde ich deswegen ausgelacht und geschlagen.»

«Ich wurde als Kind auch ständig ausgelacht. Ich war immer am Rand.»

Konnten Sie alle Themen einbringen, die Ihnen wichtig waren?
«Sie machen Witze. Hätten wir alles eingebracht, hätte das Theaterstück zehn Stunden oder länger gedauert. Aber Bettina Dieterle hat uns gut zugehört, wir konnten vieles thematisieren.»

«Wir konnten uns etwas lustig machen, über die Anstalt, das tat gut! Wir haben auch ein bisschen übertrieben, bei den Erzählungen, was wir im Alltag so erleben.»

«Ich finde nicht, dass wir übertrieben haben!»

«Ja, mehr Kritik wäre durchaus möglich gewesen, aber mit Spass vorgebracht, als Parodie.»

«Wir mussten einen Kompromiss finden, sonst hätte es die Direktion nicht durchgehen lassen.»

«Es gibt vieles, was die Leute von draussen nicht verstehen. Die strengen Regeln, wenn sie uns Pakete schicken, zum Beispiel. Oder wie wichtig es für uns ist, einen Fernseher zu haben, um dem Anstaltsalltag entfliehen zu können, um zur Ruhe zu kommen. Oder dass wir hier nur fünf arbeitsfreie Tage pro Jahr haben, die wir am Stück nehmen müssen, obwohl wir manchmal gerne einfach einen freien Tag hätten.»

«Oder der Stress mit den ewig besetzten Telefon­kabinen. Das Telefonieren ist sowieso schwierig, alle können zuhören, es gibt keine Privatsphäre. Oder das Warten vor dem Büro, wenn wir ein Anliegen haben.»

Was ist Ihre Message an die Menschen draussen?
«Danke für eure Tränen. Das hat mich berührt. Ich habe auch geweint. Ich habe viel gegeben, aber auch viel bekommen.»

«Danke, dass ihr gekommen seid.»

«Für einmal waren wir zusammen, es gab nicht zwei Welten, jene von draussen und jene von drinnen. Dieses eine Mal haben wir uns gegenseitig kennengelernt.»

«Es ist schön, wenn man uns auch als Menschen sieht, nicht nur als Täterinnen.»

«Denn wir sind nicht nur die eingewiesenen Frauen.»

«Vergesst uns nicht.»

Alles und alle durchleuchtet: Der Eingangsbereich des grössten Frauengefängnisses der Schweiz.

Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie auf der Bühne standen?
«Wie ein Schauspieler. Ich habe vergessen, wer ich bin und wo ich bin.»

«Ich bin mit Stolz auf der Bühne gestanden.»

«Ich auch! Es sind Leute gekommen, die uns spielen sehen wollten. Das war ganz anders. Sonst kommen Sie nur, wenn es um Gefängniszeugs geht. Oder es kommen Behörden, wegen Behördenkram. Es war das einzige Mal, dass Leute kamen und wir nicht die Rolle von Gefangenen hatten.»

«Ich hätte nicht gedacht, dass wir die Leute so berühren können. Und dann die Briefe, die wir nachher bekommen haben! Auch die Angestellten haben uns aufs Theater angesprochen und uns gelobt, das hat mich gefreut.»

«Normalerweise hören wir ja nichts Positives. Wir werden immer nur auf unsere Fehler angesprochen, aufs Negative. Da fängt man an, an sich selbst zu zweifeln. Ich habe manchmal den Eindruck, dass es an mir nichts Gutes gibt, dass ich zum Wegwerfen bin. Das ist sehr erdrückend.»

«Wir werden oft wie unmündige Kinder behandelt. Aber nur, weil wir ein Delikt begangen haben, müssen wir doch nicht infantilisiert werden.»

«Vielleicht mussten wir dieses Theater machen, um zu realisieren, dass wir nicht nur Lumpen sind, sondern auch etwas Gutes tun können.»

«Ich habe mich wie ein normaler Mensch gefühlt.»

Zum Buch

Die historischen Schilderungen in diesem Text beruhen mehrheitlich auf dem (aktuell vergriffenen) Buch «Hindelbank. Das Schloss. Die Anstalt. Das Dorf – 1721 bis heute», herausgegeben vom Verein Projekt Hindelbank, 2021.

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