Auf lange Sicht

Was kann denn die Zentralbank dafür

Die Preise steigen so stark wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Haben wir einfach nur Pech oder ist die Geldpolitik schuld? Wir wagen die lange Sicht auf eine der wichtigsten Kennzahlen einer Wirtschaft: die Inflation.

Von Fabio Canetg, 16.05.2022

Synthetische Stimme
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So was hat man lange nicht gesehen. In den Vereinigten Staaten beträgt die Inflation laut den jeweils aktuellsten Zahlen 8,2 Prozent, in der Euro­zone 7,4 Prozent. Und auch in der Schweiz liegt die Teuerung mit 2,4 Prozent über dem Ziel­band von 0 bis 2 Prozent.

Ist das einfach nur Pech – oder wissen die Zentral­banken nicht mehr, wie gute Geld­politik geht?

Die «Grosse Moderation»

Blicken wir zuerst in die Vergangen­heit, und zwar auf die Zeit von 1985 bis 2007. In Tschernobyl kommt es zu einer Nuklear­katastrophe (1986), in den USA krachen Flugzeuge in Hoch­häuser (2001) und in Bagdad wird 2006 das Todes­urteil gegen Saddam Hussein vollstreckt. In dieser Periode geschah auch etwas, das kaum Eingang ins kollektive Gedächtnis fand: Die hohen Inflations­raten der 1970er-Jahre mit Preis­steigerungen von teilweise über 10 Prozent pro Jahr flachten nach­haltig ab.

Die Zeit nach 1985 ist in Wirtschafts­kreisen bekannt als great moderation. Sie war gekennzeichnet durch robustes Wirtschafts­wachstum und stabile Inflations­raten. In den USA, in Europa und in der Schweiz stabilisierte sich die Teuerung im Bereich von 2,5 Prozent.

Inflationsrate in den USA

Von 1961 bis zum Ausbruch der Finanzkrise 2007

19611976199320070,07,515,0 % «Grosse Moderation»12,2 % Ölpreiskrise14,6 %

Die Inflationsrate wird am Konsumentenpreisindex (CPI) gemessen, Quelle: St. Louis Fed.

Wie kam es dazu? 2004 nannte Ben Bernanke, der von 2006 bis 2014 Präsident der amerikanischen Zentral­bank Fed war, in einer Rede zwei Gründe.

Erstens: Die Zentral­banken hätten dazu­gelernt. Nach 1985 sei nicht mehr versucht worden, die Arbeits­losigkeit dadurch zu senken, dass man mehr Inflation zuliess. Anders gesagt: Die Zentral­banken stellten ihr System um. Noch in den 1970er-Jahren wirkten die Inter­ventionen der Zentral­banken nicht wie beabsichtigt. Sie wollten den Arbeits­markt ankurbeln, verursachten damit aber nichts anderes als einen Preis­schub.

Zweitens, so Bernanke, hätten die Zentral­banken in den 1970er-Jahren häufig darauf verwiesen, dass sich viele Ursachen der Inflation – etwa gestörte Liefer­ketten – ihrem Einfluss entziehen. Es ist natürlich richtig: Zentral­banken können nicht verfügen, dass mehr Autos oder mehr Erdöl produziert wird. Sie können den Preis­druck aber lindern, indem sie die Nachfrage nach Autos und Erdöl reduzieren – etwa durch die Anhebung der Leit­zinsen, was wiederum Bank­kredite verteuert.

Laut Bernanke hätten die Zentral­banken erst in den 1980er-Jahren aufgehört, die Schuld für die Inflation ausserhalb der eigenen Politik zu suchen. Getreu der Losung des legendären Ökonomen Milton Friedman, wonach Inflation immer und überall die Schuld der Zentral­banken sei, sagten sie sich nach 1985: Wir übernehmen die volle Verantwortung für die Inflation. Und wir treten beim ersten Anzeichen steigender Preise auf das Brems­pedal der Geld­politik.

Bekamen die Zentral­banken die Inflation also nach 1985 in den Griff, weil sie eine bessere Geld­politik machten? Weil sie weniger auf den Arbeits­markt fokussierten und mehr Verantwortung für die Inflation über­nahmen?

Nicht nur. Die Inflation stabilisierte sich auch aus einem anderen Grund. Die Zentral­banken hatten schlicht auch Glück. Die Wirtschaft wurde während der «Grossen Moderation» von weniger grossen Schocks getroffen als noch in den 1970er-Jahren. Die Ölpreis­krisen von 1973 und 1979/1980 wiederholten sich nicht. Andere wichtige Ereignisse wie die asiatische Finanz­krise von 1997/1998 hatten nur milde Auswirkungen auf das Wirtschafts­wachstum ausserhalb Asiens. Für die Zentral­banken war es dadurch einfacher, die Inflation zu kontrollieren. Es führte also nicht allein die gute Strategie, good policy, zu guten Resultaten, sondern auch good luck – glückliche Zufälle.

Haben die Zentral­banken die Lehren der Vergangenheit vergessen?

2008 endete die «Grosse Moderation» mit zwei schweren Wirtschafts­krisen: In den USA platzte die Immobilien­blase, in Europa drohte die Währungs­union zu zerbrechen. Vorbei waren die Zeiten stabiler Wachstums­raten. Es folgte ein Jahrzehnt mit zu tiefer Teuerung und rekord­tiefen Zinsen. Die Debatte um good policy vs. good luck geriet in Vergessen­heit, weil andere Fragen wichtig wurden, beispielsweise die Rolle der Zins­untergrenze.

Doch jetzt ist die Diskussion über Glück und Unglück in der Geld­politik wieder entbrannt. Wir leben seit zwei Jahren mit einer Pandemie; ein Jahrhundert­ereignis, wenn man dem Bundesamt für Bevölkerungs­schutz glaubt. Und jetzt hat auch noch Russland die Ukraine über­fallen. Mit beiden Ereignissen ist enormes Leid verbunden und der Tod vieler Menschen.

Aus geld­politischer Sicht sind sie aber vor allem eines: Pech. Die Pandemie treibt die Preise nach oben, unter anderem weil Häfen in China während Wochen geschlossen waren (und es jetzt wieder sind); und die Sanktionen gegen Russland führen zu steigenden Rohstoff­preisen. Doch die Inflation ist nicht nur deswegen so hoch.

Inflationsraten in der Eurozone, der Schweiz und den USA

Von der Einführung des Euro 1999 bis März 2022

19992007201420227,4 % Eurozone8,6 % USA2,4 % Schweiz−5010 % Finanzkrise−2,0 %

Quelle: St. Louis Fed. Aktuell liegen für alle erwähnten Länder und Regionen die Zahlen bis März 2022 vor.

Mitschuldig an der hohen Teuerung sind auch die Zentral­banken selbst. Sie sorgen sich wieder mehr um den Arbeits­markt als um die Preis­stabilität. Das zeigt beispiel­haft die Strategie­änderung der US-Zentralbank von 2020. Die Fed hat damals angekündigt, künftig eine etwas höhere Inflation anzustreben. Viele Kommentatorinnen verstanden die Anpassungen so, dass die Fed fortan erst dann auf steigende Preise reagieren werde, wenn wieder Voll­beschäftigung herrscht und die Inflation über dem Zielwert liegt.

Zuvor war das anders. Zinsen wurden bereits angehoben, wenn prognostiziert wurde, dass die Teuerung über den Ziel­wert steigen könnte.

Die Zentral­banken nehmen sich selbst aus dem Spiel

Bei der Europäischen Zentralbank gab es 2021 eine etwas weniger weit gehende, aber ähnliche Strategie­anpassung. So erklärte deren Präsidentin Christine Lagarde noch im November letzten Jahres, dass steigende Zinsen im Jahr 2022 «sehr unwahrscheinlich» seien. Als sie das sagte, lag die Inflation bereits bei 4,9 Prozent. Das zeigt: Auch die Europäische Zentral­bank unterschätzte den Preisdruck.

In der Schweiz wacht Nationalbank­präsident Thomas Jordan über die Teuerung. Und auch er hat die Zinsen bei der letzten Sitzung der National­bank im März nicht angehoben, obwohl die Inflation über dem Zielband von 0 bis 2 Prozent lag. Die Begründung: Die Teuerung werde bald wieder fallen. Er sagte also das Gleiche wie die Fed und die Europäische Zentralbank: Die Inflation sei vorüber­gehend. In den USA und in der Eurozone sehen wir nun aber, dass dies eine Fehl­einschätzung war.

Die Zentral­banken haben heute also einen sorgloseren Blick auf die Inflation als noch zwischen 1985 und 2007. Bei der Fed kommt hinzu, dass das Arbeitsmarkt­ziel mehr Gewicht bekommen hat.

Doch es gibt noch einen weiteren Unter­schied zwischen der Geld­politik von heute und der good policy der Jahre von 1985 bis 2007: Die Zentral­banken verweisen wieder häufiger auf preistreibende Faktoren, die sie nicht beein­flussen können: Herhalten müssen gestörte Liefer­ketten, die zum Beispiel Web­cams verteuern; wegfallende Exporte aus der Ukraine, die den Weizen verknappen; und Sanktionen gegen Russland, die den Erdöl­preis nach oben treiben. Die Zentral­banken sagen nicht mehr: Wenn die Inflation steigt, ist das allein unsere Schuld.

Tatsächlich können die Zentral­banken nichts dafür, wenn der Ölpreis steigt. Das gilt aber nicht für die Inflation an sich – der Kampf dagegen ist für die Zentral­banken ein wirtschafts­politisches Spiel auf Augen­höhe. Verlieren die Zentral­banken dieses Spiel, sind sie selber schuld.

Was lernen wir daraus?

Der Auslöser für die hohe Inflation war wohl die Pandemie. Und auch der russische Krieg in der Ukraine ist ein Preis­treiber. Wir hatten also geld­politisches Pech – bad luck. Gleichzeitig zeugt die zurück­haltende Reaktion der Zentral­banken von einer falschen Strategie: In den USA entwickelte sich die Fed zu einer Institution, die wieder mehr Arbeitsmarkt- statt Geldpolitik macht.

Und in Europa und der Schweiz verweisen die Zentral­banken wieder häufiger darauf, dass sie gegen die steigenden Preise gar nichts in der Hand hätten. Das wäre bad policy. Wahrscheinlich hat also nach vielen Jahren mit tiefen Inflations­raten eine Kombination aus Pech und schlechter Geld­politik zur Inflation geführt.

Zum Schluss ein bisschen Optimismus: Noch mehr Pech wird es hoffentlich nicht geben. Und von der Europäischen Zentralbank kommen Zeichen, dass man bald wieder aktiver gegen die Inflation vorgehen, sprich: die Zinsen erhöhen will. Das heisst, sie wollen wieder eine gute Geld­politik machen.

Zum Autor

Fabio Canetg hat an der Universität Bern und an der Toulouse School of Economics zum Thema Geld­politik doktoriert. Heute ist er Dozent an der Universität Neuenburg. Als freischaffender Journalist schreibt er für die Republik und «Swissinfo», wo er auch den Geldpolitik-Podcast «Geldcast» moderiert.

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