Politischer Kommentar auf der Bühne: In Heiner Müllers «Anatomie Titus Fall of Rome» nehmen die Erniedrigten am Ende die Stadt ein (Münchner Kammerspiele, 2003/2004). Andreas Pohlmann

Theater in Zeiten des Krieges

Das Theater hat sich in den letzten zehn Jahren stark politisiert. Die Pandemie und der Russland-Ukraine-Krieg zeigen allerdings: Zu viel Weltgewicht kann das Schauspiel auch schwächen. Ein paar Eindrücke vom Theater­treffen in Berlin.

Von Tobi Müller, 13.05.2022

Synthetische Stimme
0:00 / 13:19

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!

Erinnern Sie sich noch daran, wie wir uns den Neustart in der Kultur vorgestellt haben? Den freedom day? Die Projektionen auf die Zeit nach der Pandemie waren rauschhaft. Man werde den Theatern die Bude einrennen, grosse Kunst­feste feiern. Überhaupt werde alles anders.

Doch jetzt gleiten wir eher still in die neue Zeit, als dass wir sie ekstatisch eröffnen würden. Fast alle Theater verzeichnen einen pandemie­bedingten Publikums­schwund, der bis heute anhält. Weil die meisten Leute noch nicht so oft ausgehen wie davor, die mehrfach verschobenen Produktionen sich aber stauen in den Theatern. Weil in den letzten zwei Jahren Routinen des Rückzugs ins gut vernetzte Wohn­zimmer eingesetzt haben. Und weil die Bildschirm­zeit zunimmt, was dazu führt, dass wir auch auf Theater­abende in sozialen Netz­werken aufmerksam werden. Dort bestimmen Empfehlungs­algorithmen mit, was auftaucht auf unserem Schirm. Und die zeigen auf die Spitzen, auf die Hits, während andere Abende umso mehr Publikum verlieren.

Das Theater kommt also nicht erleichtert in die massnahmen­freie Zeit hinein. Im Gegenteil, die Last, die die Bühnen­kunst tragen soll im Wettbewerb um die Gunst der Öffentlichkeit, wird immer grösser. Als es in der Pandemie darum ging, die Staats­hilfen zu verteilen, wollte auch das Theater «system­relevant» sein. Und merkte dabei nicht immer, dass es Unterschiede gibt zu Klopapier, Kinder­betreuung und Kranken­pflege. Spätestens seit dem Beginn des Angriffs­krieges gegen die Ukraine geht es ums Ganze: Theater wird mitunter zu einer Bastion zur Verteidigung der Demokratie stilisiert, nebenbei nachhaltig und nie diskriminierend.

Treffen mit Hashtags

Kurz: Das Theater hat jetzt riesige Aufgaben zu schultern, die rhetorische Aufrüstung ist enorm. So verkündete es auch die Eröffnung des wichtigsten Festivals im deutsch­sprachigen Raum, des Theater­treffens in Berlin. Claudia Roth (Die Grünen), die neue deutsche Staats­ministerin für Kultur und Medien, brachte sowohl die System­relevanz wie die Verteidigung der Demokratie unter in ihrer Rede. Die nach elf Jahren abtretende Festival­leiterin Yvonne Büdenhölzer hatte die Hashtags in ihrer Begrüssung schon gut vorbereitet, kein aktueller Diskurs wurde ausgelassen.

Das ist mehr als konzertierte Kommunikation zwischen einer Staats­ministerin und einer ihrer Führungs­kräfte. Diese Sprache sendet nicht in einen luftleeren Raum, die Szene fühlt sich durchaus angesprochen. Denn das Theater entwickelt ein stark politisiertes Selbst­verständnis. Und so klingt die Rhetorik der Politik ähnlich wie jene der Kunst – eine neue Situation für das Theater, dessen Spitzen sich lange lieber als Stachel im Fleisch der Macht verstanden.

Man hört diese gemeinsame Sprache beim Theater­treffen auch auf der Bühne selbst. Zum Auftakt gab es eine Inszenierung des in Zürich angestellten Regisseurs Christopher Rüping, die im Oktober auch im Schauspiel­haus zu sehen sein wird. «Das neue Leben. Where do we go from here» ist eine Reflexion zur Frage, ob man lieber sofort kuscheln soll oder die Entsagung der körperlichen Liebe eine gute Idee sei. Im Vorder­grund stehen zwar Motive von Dante Alighieris Gedichten an seine idealisierte Beatrice, eine Liebe, die nie Leben erfuhr. Wichtiger sind aber die Popsongs in zärtlichen, zerbrechlichen Karaoke-Versionen mit automatischem Klavier. Es geht um die Feier der Nähe in einer Zeit der Distanzierung (bei Dante war es die Pest).

Lasst es krachen! Damian Rebgetz im Stück «Das neue Leben. Where do we go from here» … Jörg Brüggemann/Ostkreuz
… zusammen mit Anne Rietmeijer. Jörg Brüggemann/Ostkreuz

Rüpings Arbeit ist ein Abend mitten aus der Pandemie, als in den Lockdowns die Sehnsucht nach Kuscheln wuchs. Schon heute wirkt dieses Säuseln wie von gestern. Doch der Abend dockt mit seinem Willen zur Rührung an alte Grundlagen­texte an: Es geht hier auch um Mitleid, wie es der Dichter Gotthold Ephraim Lessing vor 250 Jahren für den Beginn des bürgerlichen Theaters vorsah. Weil wir uns fürchten, schon wieder in die pandemische Einsamkeit zu rasseln, entwickeln wir Gefühle mit den entsagungs­bereiten Figuren auf der Bühne, entwickeln Empathie für ihre Not. Bitte, gestehe ihr endlich deine Liebe, fasst euch an, lasst es krachen!

Das weltanschauliche Programm liegt in den Gesten, Körpern und Tonfällen, im sehr heutigen, achtsamen Miteinander über Geschlechter und Generationen hinweg. Es ist das Gegengift zur toxischen Männlichkeit dieser Tage. Auch dies geht konform mit Lessings Denken. Denn im Theater üben wir laut Lessing bürgerliche Tugenden ein. In «Das neue Leben. Where do we go from here» ist diese Tugend der sanfte Tonfall, der den Gemeinsinn stärken soll. Es ist eine Politik der Gefühle. Und das geht auch mal mit flauschigem Feinwäsche-Techno des französischen Duos The Blaze.

Direkter anschlussfähig an die Reden von Politik und Kunst wäre eine andere Arbeit mit Zürcher Hinter­grund gewesen, ebenso in der Regie von Christopher Rüping: Necati Öziris «Korrektur» von Richard Wagners «Nibelungen», die Ende Januar im Pfauen zur Uraufführung gelangte. Der Berliner Autor Öziri schrieb sieben Monologe, die keine Zeile Wagner reproduzieren wollten. Dennoch stehen die «Nibelungen» im Stück­auftrag, und so emanzipieren sich alle Figuren in diesem Stück von jedweder Unter­drückung, allen voran von Wotan. Empowerment für alle ist das Ziel.

Korrekturen an Richard Wagner: Christopher Rüpings «Der Ring des Nibelungen». Sabina Boesch

Das sind keine Einzelfälle, Christopher Rüping (36) ist einer der derzeit erfolgreichsten Theater­regisseure und kein besonders radikaler, eher ein kluger Vermittler. Nicht nur am Theater­treffen, das die Benchmark setzt, sprechen alle Theater­künstlerinnen, die reüssieren, vor allem über Emanzipation, Politik, Demokratie und Nach­haltigkeit. Das Theater ist so politisiert wie noch nie, Wandel ist heute mehr als die schöne Phrase, die er vor fünfzig Jahren letztlich geblieben ist, als aus der Politisierung der 68er im Theater wenig folgte ausser einzelnen Gross­regisseuren wie Peter Stein und Claus Peymann.

Allerdings legt die Behauptung, die Theater­kunst habe sich im letzten Jahrzehnt heftig politisiert, das pauschale Urteil nahe, dass die davor angesagten Regisseurinnen und Regisseure die Probleme ihrer Zeit ausser Acht gelassen hätten. So gesagt, wäre das falsch. Ein Blick in den Rück­spiegel hilft, die vergangenen Formen von den aktuellen zu unterscheiden.

Kritische Klassiker

Bis vor rund zehn Jahren habe ich viele Theater­abende gesehen, die sich mit Fremdenhass und Rechts­populismus, mit dem neoliberalen Angriff auf die Mittel­klasse und der aussichts­losen Lage der Armen beschäftigt haben. Es waren Themen, die in europäischen Gesellschaften nicht mehr so leicht ignoriert werden konnten – in den Nuller­jahren dämmerte es den Letzten, dass die Zeit des Wachstums für alle, im Grunde: die Nachkriegs­zeit, vorbei war.

Meistens wurden diese Themen im Schauspiel mit etablierten Stücken erzählt. Mal hart historisch wie in «Anatomie Titus Fall of Rome» von Heiner Müller, wenn die erniedrigten Goten, «die Fremden», am Ende die Stadt einnehmen und die Römer von einer hydraulisch senkrecht aufgerichteten Spielfläche purzeln (so inszenierte es Johan Simons 2003/2004 in München). Mal psychologisch wie im «Tod eines Handlungs­reisenden» von Arthur Miller, den Stefan Pucher 2010 im Schauspiel­haus Zürich als Konsumtrip eines Deklassierten zeigte – der lackierte Wohlstand der Cinemascope-Bühne von Stéphane Laimé im Schiffbau war die Kontrast­folie für den Zerfall. Beide Inszenierungen waren auch beim Theater­treffen in Berlin zu sehen.

Eine Regel dieses Stadttheaters lautete: durch die Brille von Stücken des Repertoires, alten und modernen Klassikern, auf die Gegenwart schauen. Eine andere, dass fast nur Männer Regie führen.

Im Mai 2012 gastierte Milo Rau zum ersten Mal mit einem seiner Abende am Theater­treffen, mit einem Recherche­projekt über den Genozid in Ruanda. «Hate Radio» lancierte Raus internationale Karriere. Und erhitzte die Gemüter. In der Berliner Publikums­diskussion wurde am Schluss geschrien, das sei doch alles zu direkt, zu wenig Kunst, zu viel Emotion. Rau hat dem Theater bestimmt nicht eigenhändig eine Kurs­korrektur verordnet. Aber er stand im Scheinwerfer­licht, als sich das Blatt zu wenden begann. Fortan gab es mehr Recherche, mehr Realien, mehr Projekte und weniger Stücke selbst im Stadt­theater. Es gab: mehr Politik.

Das Gewicht des Realen

Heute reden die meisten nicht mehr von Fremdenhass, sondern von Rassismus. Wir raunen nicht von aus dem Ruder gelaufenen Proben, wenn mal wieder jemand geheult oder gekotzt hat in der Woche vor der Premiere, wir nennen es Macht­missbrauch. Und wir zucken nicht mehr zusammen, wenn Schau­spielerinnen und Schauspieler ihre eigenen Erfahrungen, Lektüren oder Recherchen selbst auf den grössten Bühnen als Teil ihrer Arbeit betrachten und dies auch zeigen. Aber diese schönen, zu ihrer Zeit wichtigen Entwicklungen haben ihre Schatten­seiten.

Eines der Probleme: Wenn Schauspieler stärker am künstlerischen Prozess beteiligt werden, weigern sich manche, Texte zu sprechen, die sie persönlich nicht unterschreiben können. Der Endpunkt dieser Logik wäre, dass Figuren, die sich nicht anständig (oder tugendhaft) äussern, von der Bühne verschwänden. Gute Arbeits­beziehungen und Vertrauens­verhältnisse zwischen Regie und Schauspiel, so ist zu hoffen, werden das jedoch zu verhindern wissen. Theater muss mehr zeigen dürfen als den Wunsch, wie die Welt zu sein hat.

Schwieriger ist das zweite Problem des Politisierungs­schubs: Die gewonnene Stärke schrumpft angesichts extremer Ereignisse zu einer Schwäche. Wer politische Relevanz in der Kunst so stark gewichtet, wirkt schwach, wenn die Welt­politik zuschlägt. So führte der russische Angriffs­krieg gegen die Ukraine zu gebets­artigen Floskeln, man habe sich überlegt, ob man in diesen Zeiten noch singen oder spielen solle. Warum denn nicht? Weil man sich schämt, nichts zur Lösung beitragen zu können? Auf diese Idee kann nur kommen, wer die Kunst mit der Bedeutung eines Krieges vergleicht. Auch dieser Minderwertigkeits­komplex – wie wenig können wir ausrichten! – hat mit der Selbst­überschätzung zu tun, die quasi zur Überzeugung führte, dass Theater den Kern der Demokratie bezeichnet.

In der Aufmerksamkeits­ökonomie gewinnt der Krieg immer. Wenn der Wert des Theaters allein im messbaren öffentlichen Impact seinen Ausdruck findet, hat es verloren. Vielleicht sind wir bald wieder an einem Punkt, an dem das Theater seine Stärke findet, wenn es das Primat des Politischen auch einmal missachtet.

Zum Glück glaubt das Theater aber selbst nicht alles, was es in Eröffnungs­reden sagt und in Programm­hefte schreibt. Auch das zeigen einige der zehn Inszenierungen, die nach Berlin zum diesjährigen Theater­treffen eingeladen wurden.

Helgard Haug von der Gruppe Rimini Protokoll montiert in «All Right. Good Night» das Verschwinden des malaysischen Flugzeugs von 2014 mit der gleichzeitig beginnenden Demenz ihres Vaters. Ohne Schauspieler, mit fünf Musikern, mit Stimmen vom Band und einem der klarsten und dabei poetischsten Texte des Jahres, der auf einen Vorhang projiziert wird. Es ist ein Abend darüber, wie wir beim Geschichten­erzählen in ozeanische Tiefen geraten, die nicht zu kartografieren sind. Auf dem Radar dieses Fluges, im Gehirn eines Dementen und im Theater: Die Dinge sind auch in unserem daten­zentrierten Zeitalter nicht immer mess- und abspeicherbar.

Die furchtlose israelische Autorin und Regisseurin Yael Ronen bringt es fertig, die aktuelle Politisierung ausgerechnet im Berliner Gorki-Theater, dem wohl am meisten politisierten Haus, während neunzig Minuten herzlich zu verlachen. Und ist damit zum Theater­treffen eingeladen worden. Ihre Produktion «Slippery Slope. Almost a Musical» ist ein mit dem Komponisten Shlomi Shaban geschriebenes Musical zur Cancel-Culture, zu kultureller Aneignung, Sexismus und Rassismus im Kultur­betrieb. Doch jede Figur ist mal Täterin und mal Opfer. Das Publikum wird weder zu Mitleid noch zu Furcht überredet. Sondern zu einer gar nicht so einfachen Haltung, wer hier den ersten Stein werfen soll. Das bürgerliche Drama und seine moralischen Dilemmata, im Kleid des politisierten Theaters, finden somit ihren Weg zur Komödie.

Die Politisierung kann auch verlacht werden: Vidina Popov und Riah Knight in «Slippery Slope. Almost a Musical» von Yael Ronen. Ute Langkafel/Maifoto

Zum Autor

Tobi Müller ist Kultur­journalist und Autor in Berlin. Er behandelt vor allem Pop- und Theater­themen. Für die Republik hat er zuletzt über Joel Coens «Macbeth»-Film geschrieben.

Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus mit einem Monatsabonnement oder einer Jahresmitgliedschaft!