Am Gericht

«Ein Haftbefehl gegen Putin wäre weitgehend symbolisch»

Der Genfer Völkerrechts­professor Marco Sassòli hat Rechtsbrüche in der Ukraine in den ersten Kriegswochen untersucht. Er stellt fest, dass manches nicht so eindeutig ist, wie es im Westen dargestellt wird.

Von Susi Stühlinger, 11.05.2022

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Kurz nach Kriegsbeginn hat die Organisation für Sicherheit und Zusammen­arbeit in Europa (OSZE) ein dreiköpfiges Gremium beauftragt, Verstösse gegen das humanitäre Völker­recht und die Menschen­rechte in der Ukraine zu untersuchen. Die Mission, bestehend aus Veronika Bílková aus Tschechien, Wolfgang Benedek aus Österreich und dem Schweizer Marco Sassòli, hat zahlreiche Rechts­verletzungen dokumentiert. Ihr 108-seitiger Bericht umfasst den Zeitraum vom 24. Februar bis zum 1. April 2022.

Das humanitäre Völkerrecht, auch Kriegsrecht genannt, wird hauptsächlich durch die Genfer Konventionen und deren Zusatz­protokolle geregelt. Es beinhaltet Bestimmungen zur «korrekten» Kriegs­führung wie etwa das Verbot von gezielten Angriffen auf Zivil­personen und zivile Objekte, die Verpflichtungen der Besatzungs­macht in besetzten Gebieten oder die Behandlung von Kriegs­gefangenen.

Marco Sassòli, der den OSZE-Bericht zur Ukraine mitverfasst hat, ist Professor an der Universität Genf und weltweit einer der führenden Experten für humanitäres Völkerrecht. Im Interview erklärt er, wie er seine Unter­suchungen geführt hat, warum er die russische Propaganda schlecht findet und warum es so schwierig ist, Kriegs­verbrecher zu überführen.

Marco Sassòli, Sie haben im Rahmen Ihres OSZE-Mandates die Situation in der Ukraine in den ersten fünf Wochen nach Kriegs­ausbruch untersucht. Was ist das prägendste Bild, das Ihnen von dieser Mission hängen bleibt?
Vielleicht, dass nicht alles so eindeutig ist, wie es in den europäischen und nordamerikanischen Medien erscheint.

Was meinen Sie damit?
Beide Seiten haben das humanitäre Völker­recht verletzt, auch die Ukraine. Wobei man in aller Deutlichkeit festhalten muss, dass die Verletzungen durch Russland sehr viel umfang­reicher und schwerer sind.

Kurz nach Abschluss Ihrer Mission wurden die Bilder des mutmasslichen Massakers im Kiewer Vorort Butscha publik. Ist Ihr Bericht bereits überholt?
Absolut. Doch selbst wenn wir unsere Mission verlängert hätten, wäre sie nicht in der Lage gewesen, diese Ereignisse angemessen zu untersuchen. Das erfordert und verdient eine eingehende internationale Untersuchung vor Ort, und zwar mit forensischen Experten.

Darauf kommen wir noch zu sprechen, reden wir aber zuerst über Ihre Mission. Kann man angesichts der massiven, von Russland ausgehenden Aggression gänzlich unbefangen an so etwas herangehen?
Die völkerrechtswidrige Aggression ist das eine. In der öffentlichen Wahrnehmung sind 98 Prozent der Leute schockiert, wenn ich sage: Es ist nach humanitärem Völkerrecht zulässig, wenn die Russen einen Ort angreifen, der von der Ukraine verteidigt wird. Natürlich dürfen die Russen gar nicht angreifen, sie hätten den Krieg nicht lostreten dürfen. Aber das ist eine Frage des ius ad bellum, des Gewaltverbots, das in der Uno-Charta verankert ist. Innerhalb des Kriegs kommt jedoch das ius in bello, das humanitäre Völkerrecht, zur Anwendung, das gleicher­massen für beide Parteien gilt – unabhängig davon, wer den Konflikt angefangen hat. Und da glaube ich, dass auch ein Richter nicht befangen ist, wenn er zum Schluss kommt, dass eine Partei mehr Verletzungen begangen hat als die andere. Es gibt in diesem Konflikt sehr viel Manipulation und Propaganda – wie in allen Konflikten. Insofern werfe ich es der Ukraine nicht vor, dass man die angeblichen und wirklichen russischen Verletzungen des humanitären Völker­rechts ausschlachtet.

Worauf wollen Sie hinaus?
Als Reaktion auf die russische Aggression haben sich viele Länder bereit erklärt, der Ukraine zu helfen, sich zu verteidigen, was an sich gut ist. Doch dazu gesellte sich die Idee, dass man umso mehr hilft, je häufiger Verletzungen des humanitären Völker­rechts geschehen – und das ist schwierig.

Inwiefern?
Wenn Leute sich in der Hand des Gegners befinden – Ukrainerinnen, die vergewaltigt, Ukrainer, die in Kellern erschossen werden –, dann sind das eindeutige Verletzungen. Da stellen sich keine komplexen Fragen. Beim mutmasslichen Massaker in Butscha ist es für forensische Experten meines Wissens nicht schwierig, festzustellen, ob jemand aus kurzer Distanz erschossen wurde. Die vielen zerstörten Häuser beweisen hingegen gar nichts.

Erklären Sie.
Man müsste im Einzelfall wissen, ob die Ukraine das entsprechende Haus verteidigt hat – was zur Folge hätte, dass es den Russen nach den Regeln des humanitären Völker­rechts nicht verboten ist, dieses Haus zu zerstören; soweit das Verhältnismässigkeits­prinzip gewahrt bleibt und Vorsichts­massnahmen getroffen werden. Das im Einzelfall zu untersuchen, ist sehr schwierig – vor allem, wenn weder der Angreifer noch der Verteidiger bei der Aufklärung mithilft.

Das heisst, die Ukraine hat nicht kooperiert?
Doch, die Ukraine hat uns bei den Untersuchungen gross­mehrheitlich sehr bereitwillig unterstützt. Wir hätten uns aber gewünscht, mit Angehörigen der ukrainischen Armee zu sprechen – das war nicht möglich.

Warum nicht?
Das kann ich nicht beurteilen. Die sind natürlich sehr beschäftigt. Und vielleicht wollten sie auch einfach nicht lügen und behaupten, sie hätten die zerstörten Häuser in umkämpften Gebieten nicht verteidigt.

Russland hat die Kooperation mit Ihrem Team gänzlich verweigert.
Auf der russischen Seite konnten wir uns nur auf öffentliche Verlaut­barungen stützen. Was es aber durchaus erlaubt hat, Verletzungen festzustellen.

Sie konnten Verletzungen des humanitären Völkerrechts aufseiten Russlands durch deren eigene Verlautbarungen identifizieren?
Ja, etwa wenn Russland als Besatzungs­macht in neu eroberten Gebieten der Ostukraine die Rechts­ordnung der selbst ernannten Volks­republiken eingesetzt hat. Das ist laut Kriegsrecht verboten. Eine Besatzungs­macht muss die lokalen Gesetze grundsätzlich respektieren. Wenn Russland nun öffentlich das Gegenteil verlautbaren lässt, muss man nicht auf dem Terrain nachforschen, sondern kann im Büro in Genf sitzen und feststellen: Das ist eine Verletzung des humanitären Völker­rechts.

Schweizerischer und italienischer Staatsbürger, als Jurist unter anderem unterwegs im ehemaligen Jugoslawien, in Syrien und Jordanien: Marco Sassòli. zVg

Stichwort Büro in Genf: Aus dem Bericht geht hervor, dass Ihre Mission gar nicht in die Ukraine gereist ist. Wie unternimmt man eine solche Untersuchung, ohne vor Ort zu sein?
Die OSZE hat sich aus der Ukraine zurück­gezogen und fand, dass sie uns aus Sicherheits­gründen nicht dorthin lassen kann. Wir hätten trotzdem gehen können, aber einfach in Kiew ein paar zerstörte Häuser anzuschauen, bringt nicht viel, wenn uns niemand ein Rendez-vous gewährt. Dank der Tatsache, dass die Ukraine es geschafft hat, die Strom­versorgung weitestgehend aufrecht­zuerhalten, konnten wir die Leute in ihren Bunkern via Zoom interviewen. Wir sind auch in die Nachbar­länder gereist, wo wir mit Kriegs­betroffenen sowie mit ukrainischen und internationalen NGOs gesprochen haben. Dann haben wir versucht, das alles zusammen­zufügen.

Wie haben Sie die Informationen verifiziert, die Sie erhalten haben?
Wenn NGOs seriös arbeiten, lassen sich aus ihren Dokumentationen durchwegs Erkenntnisse ableiten, die die NGOs selbst nicht notwendiger­weise daraus ziehen. Das war etwa der Fall, als man mithilfe der Geolokation von Bellingcat, eine eigentlich sehr proukrainisch eingestellte NGO, heraus­gefunden hat, dass die Russen in Saporischschja nicht das Atom­kraftwerk beschossen haben, sondern ein Nebengebäude – was keine Verletzung des humanitären Völker­rechts darstellt.

Was ist mit Augenzeugen­berichten?
Manche Berichte von Betroffenen – etwa von einem Mitarbeiter von Radio France, der von russischen Streitkräften tagelang festgehalten und misshandelt worden war – haben wir als glaubwürdig einstufen können. Bei anderen haben wir auf genaueres Nachfragen hin gemerkt, dass ein Opfer die Rechtslage nicht beurteilen kann; eine Frau behauptete beispielsweise, sie sei von Russland am Verlassen eines Luftschutz­kellers gehindert und als menschliches Schutz­schild missbraucht worden. Als ich sie gefragt habe, ob die Ukraine am betreffenden Standort je angegriffen habe, meinte sie: «Die Ukraine greift nie an» – was aber die Voraussetzung wäre, dass sie als menschliches Schutz­schild hätte benutzt werden können. Das bedeutet allerdings nicht, dass das Einsperren im Keller für sich genommen keine Verletzung des humanitären Völker­rechts wäre.

Konnten Sie vorsätzliche Falsch­meldungen von offizieller Seite identifizieren?
Beim Luftangriff auf die Geburtsklinik in Mariupol hat Russland mit angeblichen Fotobeweisen zu vermitteln versucht, dass die Klinik gar nicht mehr als Spital dient, sondern militärisch genutzt wird – und somit ein legitimes Ziel im Sinne des Kriegsrechts darstellt. Doch dann konnte man mit den heute vorhandenen elektronischen Hilfsmitteln beweisen, dass die von Russland vorgelegten Fotos nicht das richtige Gebäude zeigen, sondern einen ganz anderen Ort, mindestens einen Kilometer weit weg. Ich finde, die russische Propaganda ist sehr schlecht.

Warum?
Es wird von russischer Seite einfach immer behauptet: Das hat die Ukraine selber gemacht. Beispielsweise bei der Bombardierung des Theaters in Mariupol. Angesichts des Kraters, der da entstanden ist, konnten Experten eindeutig sagen: Das muss von einem Luftangriff stammen. Wenn die Ukraine eine Bombe gelegt hätte, wie es das russische Narrativ befördert, sähe das schlicht anders aus.

Was ist mit Falsch­informationen aufseiten der Ukraine?
Dort ist weniger das Problem, dass bewusst Falsch­meldungen verbreitet werden, sondern eher, dass von ukrainischer Seite falsche Schlüsse gezogen wurden. Dass sie zum Beispiel einen Kriegs­gefangenen auf Facebook haben sagen lassen, dass er mit Putin nicht einverstanden sei – und dann behauptet haben, das bezwecke, die Familien zu informieren. Aber so informiert man die Angehörigen der Betroffenen nicht. Und beide Seiten haben uns ausdrücklich die Information darüber verweigert, wie viele Kriegs­gefangene sie genau haben. Es beunruhigt uns sehr, dass es erstaunlich wenige Kriegs­gefangene gibt.

Was ist Ihre Befürchtung?
Wenn die Zahlen, die wir für unseren Bericht zur Verfügung hatten, stimmen, standen zu diesem Zeitpunkt total etwa 15’000 tote Soldaten circa 700 Kriegs­gefangenen auf jeder Seite gegenüber. Wenn das so ist, könnte das bedeuten, dass Kombattanten, die sich ergaben, erschossen wurden oder im Geheimen gefangen gehalten werden.

Ihr Bericht rügt auch, dass dem Internationalen Roten Kreuz (IKRK) auf beiden Seiten kein Zugang zu den Kriegs­gefangenen gewährt wurde. Ist das mittlerweile besser?
Das müssen Sie das IKRK fragen. Und die werden Ihnen nicht antworten. Das könnte Ihnen gewisse Schlüsse erlauben. Ich will nichts insinuieren. Aber wenn das Rote Kreuz nach allgemeinen Standards auf beiden Seiten Zugang hätte, läge es im Interesse aller Parteien, das offenzulegen.

Sie halten in Ihrem Bericht fest, dass Russland weitaus mehr und schwer­wiegendere Verstösse gegen das humanitäre Völker­recht verübt hat. Aber wie lassen sich Angriffe auf zivile Objekte als solche identifizieren, wenn Sie keine Informationen aus erster Hand zur Verfügung haben?
Wir mussten Plausibilitäts­überlegungen anstellen. Obwohl wir im Einzelfall nicht wissen, warum die Russen ein Objekt angegriffen haben und was der Plan war, können wir sagen: Hätten sich die Russen immer an das humanitäre Völkerrecht gehalten, wären nicht so viele Schulen, Spitäler, Polizei­posten und kulturelle Objekte zerstört worden. Auch die Russen können sich irren. Aber sie können sich nicht 52-mal hinter­einander irren. Zumal viele dieser Zerstörungen nicht an der Frontlinie passiert sind, sondern weit von den Kampf­linien entfernt. Dort kann es natürlich auch militärische Ziele geben – Kasernen oder Züge, die Nachschub an die Front liefern. Aber bei Wohnhäusern in der Mitte von Charkiw ist das schon eher fraglich.

Ihr Bericht widmet ein ganzes Unter­kapitel den Völkerrechts­verletzungen in der Stadt Mariupol, die nach Abschluss Ihrer Unter­suchungen weiter belagert wurde. Was sagt das humanitäre Völker­recht zur Situation von Belagerungen?
Das humanitäre Völkerrecht lässt Belagerungen grundsätzlich zu. Aber dann müsste man entweder den Zivil­personen erlauben, die Stadt zu verlassen, oder humanitäre Hilfe für die Zivil­personen in der belagerten Stadt zulassen. Wobei sich da wieder die Frage stellt, wer überprüft, dass diese Hilfe nicht auch den belagerten Soldaten zugutekommt. Grundsätzlich hat der Belagerte kein Interesse daran, dass alle Zivil­personen evakuiert werden – dann kann der Gegner gemäss humanitärem Völkerrecht rechtmässig alle noch in der Stadt verbliebenen Personen angreifen. Daraus aber in der konkreten Situation zu schliessen, die Ukraine wolle selbst nicht, dass die Eingeschlossenen evakuiert würden, das ist reine Spekulation.

Die Gräueltaten der russischen Armee: Ist es fehlende Disziplin oder gezieltes, von den Vorgesetzten sogar angeordnetes Vorgehen?
Dazu nehmen wir in unserem Bericht keine Stellung. Wenn Sie mich persönlich fragen: Man kann nicht davon ausgehen, dass immer eine bewusste Politik der Krieg­führenden dahintersteckt, wenn so etwas passiert. Aber wenn man den Gegner dämonisiert, wie es beispiels­weise auch die Amerikaner im Irak getan haben, kann das Einfluss auf die einzelnen Soldaten haben. Ende 2020 hat ein Bericht aufgezeigt, dass es bei den australischen Truppen in Afghanistan eine Art Initiations­ritus gab, bei dem die Neuankömmlinge sich einen der Kriegs­gefangenen aussuchen und ihn umbringen mussten. Man geht jedoch davon aus, dass nicht alle Kommandanten das wussten.

Die Vergewaltigungen von Zivilistinnen durch russische Soldaten, die Sie auch in Ihrem Bericht dokumentieren – da lässt sich kaum mehr behaupten, die Kommandanten hätten davon nichts gewusst.
Es gibt viele Kommandanten, in vielen Armeen, die ihre Prioritäten unterschiedlich gewichten. Wäre ich Kommandant einer Armee, würde ich vermutlich den Krieg nicht gewinnen, weil ich mich hauptsächlich darum kümmern würde, dass meine Soldaten das humanitäre Völker­recht einhalten. Aber es ist natürlich auch eine Frage der Ausbildung und der Disziplin, und ich habe gewisse Anhalts­punkte dafür, dass das humanitäre Völker­recht in der russischen Arme nicht eben gross gelehrt wird.

Kurz nach Kriegsbeginn sagte der Zürcher Völker­rechtler Daniel Moeckli im Interview mit der Republik, dass Russland das Völkerrecht offenbar nicht egal sei – zumindest in Bezug auf das ius ad bellum, das Gewalt­verbot der Uno-Charta. Vor dem Hinter­grund der eklatanten Verstösse gegen das humanitäre Völker­recht, also gegen das ius in bello, die Sie in Ihrem Bericht feststellen und die sich seither noch intensiviert haben: Suchen die Russen den bewussten Bruch der humanitären Regeln?
Ich weiss nicht, ob Herr Moeckli das heute noch sagen würde – oder explizit bezogen aufs humanitäre Völkerrecht jemals gesagt hätte. Wenn es den Russen nicht egal wäre, würden sie nicht so schwache Ausreden bringen. Man kann auch hier wieder eine Plausibilitäts­abwägung machen: Inwieweit es sie schlicht nicht kümmert – they don’t care – oder inwieweit sie die Ukraine effektiv demoralisieren wollen. Letzteres ist eine These, die viele NGOs und implizit auch das IKRK aufstellen, mit Bezug auf die Situation in Syrien und im Jemen: dass die Saudis, die Syrer und auch die Russen absichtlich Spitäler angegriffen haben. Wie das im vorliegenden Fall ist, kann ich nicht beurteilen. Aber ich würde jedenfalls nicht von vornherein sagen: Wir kennen die Russen, die machen das absichtlich – während es bei den Amerikanern im Irak immer nur sein konnte, weil sie nicht genügend aufgepasst haben.

In Ihrem Bericht sehen Sie sich nicht in der Lage, eindeutig festzustellen, ob Russland Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat – würden Sie dies aufgrund der jüngsten Ereignisse anders beurteilen?
Verletzungen des humanitären Völker­rechts werden von Staaten und bewaffneten Gruppen begangen – Kriegs­verbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit von Individuen. Um zu sagen, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit stattgefunden haben, müssen Sie jemanden finden, den Sie mit Namen und Vornamen benennen können.

Aber das internationale Strafrecht kennt die Verantwortlichkeit von militärischen Befehls­habern, soweit diese von Kriegs­verbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewusst und sie nicht verhindert – oder sogar explizit angeordnet haben.
Um das nachzuweisen, müsste man die russische Kommando­struktur kennen. Im Zweiten Weltkrieg konnte man das machen, weil Deutschland den Krieg verloren hat. Russland kann diesen Krieg nicht verlieren, weil es über Atomwaffen verfügt. Falls die Russen ihre Kommando­strukturen überhaupt so gut dokumentieren, wie die Deutschen das bei ihren Verbrechen getan haben, werden wir diese Dokumente nicht so schnell finden.

Also wird man der Schuldigen nie habhaft werden?
Es ist nicht unmöglich. Es kann durchaus sein, dass man mit modernen technischen Mitteln einzelne Verantwortliche ausfindig machen wird. In den von Russland neu besetzten Gebieten sind beispielsweise viele Bürgermeister verhaftet worden. Da weiss man oft, wer diese Verhaftungen angeordnet hat – also in Situationen, wo sich Personen in der Hand des Gegners befinden. Bei Kampf­handlungen, etwa der Bombardierung von zivilen Objekten, ist es schwieriger.

Sie waren auch als Berater der früheren Chefanklägerin Fatou Bensouda am Internationalen Straf­gerichtshof­(ICC) tätig. Deren Nachfolger hat seinerseits Ermittlungen in der Ukraine eingeleitet und untersucht, zusammen mit einem internationalen Ermittler­team, unter anderem die Ereignisse in Butscha.
Es setzen alle grosse Hoffnungen in den Internationalen Strafgerichts­hof. Allerdings: Im Verfahren zum Krieg zwischen Russland und Georgien, der 2008 stattfand, wurden die ersten Personen vor zwei Monaten angeklagt – 14 Jahre nach den eigentlichen Ereignissen. Es braucht Zeit. Weil die Verteidiger sagen: Ja ja, das Haus ist zerstört worden, aber nicht von meinem Klienten. Da gab es am ICC auch den berühmten Fall des kongolesischen Milizenchefs Jean-Pierre Bemba, der zum Entsetzen aller freigesprochen wurde, weil man ihm – strafrechtlich gesprochen – die Tatherrschaft über das Verhalten seiner Unter­gebenen nicht nachweisen konnte.

Frühere Verfahren vor dem ICC litten darunter, dass es schwierig war, im Nachhinein die nötigen Beweise zusammen­zutragen. Ist es ein Novum, dass der ICC schon in einer verhältnismässig frühen Phase mit den Ermittlungen beginnt?
Das ist so. Und das ist gut. Wenn man das künftig so beibehalten würde, wäre das eine positive Entwicklung. Die Georgier mussten jetzt 14 Jahre warten, bis die ersten Kriegs­verbrecher angeklagt werden. Die Palästinenser warten noch immer darauf, in Afghanistan ist der Chefankläger auch noch nicht gross weiter­gekommen. Jetzt, in der Ukraine, scheint er doch sehr schnell zu arbeiten. Man darf immer besser werden. Beim nächsten Krieg müsste der Chefankläger dann einfach konsequent sein und gleich entschieden handeln.

Wird es irgendwann einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin geben?
Wenn der Chefankläger genügend Beweise findet. Aber das wäre trotzdem weitgehend symbolisch, weil wir davon ausgehen müssen, dass Putin nicht verhaftet werden kann. Wie gesagt: Russland wird diesen Krieg nicht verlieren. Klar, wenn die Ukrainer es schaffen, ihr Land zu befreien, dann haben sie in gewisser Weise gewonnen – womit Russland aber nicht wirklich verloren hat. Die Nürnberger Prozesse hätten kaum stattgefunden, wenn Deutschland weiterhin unter der Naziherrschaft verblieben wäre.

Die Verfolgung internationaler Verbrechen erfordert die Kooperation der gesamten Staaten­gemeinschaft. Welche Rolle kann die Schweiz spielen?
Wenn wir in der Schweiz sagen würden, wir streben eine Strafverfolgung gegen Putin oder seine Generäle an, dann bringt das nicht viel, weil man die Schuldigen nicht hat. Da ist das Schweizer Recht insofern realistisch, als sich die gesuchten Personen in der Schweiz aufhalten müssen. Aber der neue Bundes­anwalt scheint auf das Thema sensibilisiert zu sein und will sich dafür einsetzen, dass sich die Schweiz aktiv an der internationalen Zusammen­arbeit zur strafrechtlichen Verfolgung schwerer Völkerrechts­verstösse beteiligt.

Was die Schweiz bislang nicht getan hat?
Dem Vorgänger des jetzigen Bundes­anwalts muss man, unter vielem anderen, leider auch vorwerfen, dass ihn internationale Verbrechen absolut nicht interessiert haben. Es ist ein Fortschritt, dass es da eine Mobilisierung gibt, verglichen mit früheren Fällen. Zum Beispiel Tschetschenien. Das waren auch die «bösen Russen» – aber wer hat je Kriegs­verbrechen in Tschetschenien verfolgt? Und damals gab es noch viele Russen, die häufig in Genf zu Besuch waren. Dass man das jetzt anders machen will, ist eine gute Entwicklung. Der Schweizer Bundes­anwalt wird kaum sagen können: Das machen wir jetzt nur für Russland und nachher nicht mehr.

Wie sieht so eine internationale Zusammen­arbeit genau aus?
Für Völkerrechts­verletzungen in Syrien und Myanmar gibt es bereits einen internationalen Mechanismus, der Beweise für die schwersten Verstösse im Hinblick auf ihre Verwendung vor nationalen, regionalen und internationalen Gerichten über die Grenzen hinweg zusammen­tragen soll. Wir setzen uns mit der Internationalen Juristen­kommission dafür ein, dass ein solcher Mechanismus für die ganze Welt eingeführt wird. Konkret würde das bedeuten: Wenn eine geflüchtete Person in der Schweiz geltend machen würde, dass sie von einem namentlich bekannten Täter in der Ukraine vergewaltigt wurde, dann könnten diese Information beispielsweise den Behörden in Portugal zur Verfügung gestellt werden, falls diese gegen den gleichen Täter ermitteln.

Kann man also sagen, dass der derzeitige Konflikt, so schlimm er ist, mithilft, das humanitäre Völkerrecht weiterzuentwickeln?
Das wäre zu hoffen. Zum Beispiel mit Bezug aufs Thema Streu­munition. Zwar gibt es ein internationales Übereinkommen, das den Einsatz von Streu­bomben verbietet. Aber weder Russland noch die Ukraine haben dieses Abkommen unterzeichnet, ebenso wenig wie die USA oder Israel. Wenn jetzt die westlichen Staaten oder sogar die Nato den Russen vorwerfen, sie würden Streubomben und somit verbotene Waffen einsetzen, ist das eine Aussage, über die wir das nächste Mal diskutieren müssen, wenn die Israelis Gaza mit Streu­munition bombardieren und die Amerikaner kommen und sagen: «Das ist ja nicht verboten.»

Apropos verbotene Waffen: Russland hat die Ottawa-Konvention zum Verbot von Landminen nicht unterzeichnet oder ratifiziert. Bedeutet das, wenn Russland Landminen einsetzt, ist das legal?
Ja. Aber, wie bei allen Waffen, nur gegen Kombattanten und militärische Ziele. Aber selbst wenn sie die Landminen sozusagen «korrekt» verwenden, sind die nach zwei Jahren noch immer dort. Und wenn dann – hoffentlich ist bis dann kein Krieg mehr – Bauern drauftreten und in die Luft fliegen, sind dennoch Zivil­personen betroffen. Das ist übrigens einer der seltenen Verträge, die auch auf eine Partei anwendbar sind, wenn sie für die andere nicht verbindlich sind. Normalerweise sind Verträge im humanitären Völker­recht nur gegenüber den anderen Vertrags­parteien verpflichtend. Bei Landminen ist das anders: Die Ottawa-Konvention verbietet es den Vertrags­parteien wie der Ukraine auch, Antipersonen­minen gegen Parteien einzusetzen, die sich selbst nicht zur Einhaltung der Konvention verpflichtet haben.

In einem Rundbrief an die Schweizer Sektion der Internationalen Juristen­kommission, in deren Vorstand Sie sind, erwähnen Sie die eklatanten Brüche des humanitären Völker­rechts, die in der Vergangenheit im Nahen Osten und in Afrika begangen wurden. Sie geben der Hoffnung Ausdruck, dass die internationale Staaten­gemeinschaft künftig auf solche Verletzungen ebenso entschieden antworten wird wie derzeit in der Ukraine.
An sich ist es eine gute Entwicklung, dass viele Länder zugeben, dass ein Staat nicht nur eine Verpflichtung hat, selbst in einem Konflikt die Regeln des humanitären Völker­rechts zu befolgen, sondern auch dafür sorgen muss, dass andere Staaten dieses Recht einhalten. Mehr als das, was der Westen jetzt gegen Russland unternimmt, kann man nicht fordern. Niemand verlangt, dass man Krieg führt, um die Einhaltung des humanitären Völker­rechts durchzusetzen. Wir können nur hoffen, dass auch künftig, in allen Konflikten, so genau hingeschaut wird wie jetzt. Mit Bezug auf die Kriegs­handlungen von Saudiarabien im Jemen gibt es Untersuchungen des Uno-Menschen­rechts­rats, die sich ähnlich lesen wie unser Bericht.

Aber das interessiert im Gegensatz zu Ihrem Ukraine-Bericht keinen?
Genau. Also zumindest in der breiten Öffentlichkeit nicht. Die westlichen Staaten haben sich jetzt auf Russland fixiert – und waren weit weniger kritisch gegenüber Verletzungen des humanitären Völkerrechts an anderen Orten. Das hängt wiederum damit zusammen, dass in der Ukraine eine Kombination von Dingen vorliegt, die rechtlich getrennt werden müssen: dem Gewalt­verbot und dem humanitären Völker­recht. Im Jemen zum Beispiel sind die Saudis nicht die Aggressoren, sondern wurden von der Regierung beigezogen, zur Unterstützung im Kampf gegen die Huthi-Rebellen. Und in Äthiopien sind zwar viel mehr Leute umgebracht worden im vergangenen Jahr als in der Ukraine, aber Äthiopien hat kein anderes Land überfallen. Doch aus der Sicht des humanitären Völker­rechts sind Zivil­personen in all diesen Situationen grösstenteils gleich geschützt.

Warum interessieren die Welt­öffentlichkeit die Verletzungen des humanitären Völker­rechts in der Ukraine ungleich mehr?
Hat es etwas mit Rassismus zu tun? Weil die Opfer in der Ukraine weiss sind? Ich weiss es nicht. Ich will es nicht behaupten.

Ihr Bericht hat sich nicht nur mit Verletzungen des humanitären Völker­rechts befasst, sondern auch mit Verletzungen der Menschen­rechte. Die Rechts­dogmatik sagt: Das humanitäre Völker­recht geht den Menschen­rechten im Konfliktfall vor.
Zumindest in Situationen aktiver Feindseligkeiten. Aber je weiter man sich von der Frontlinie entfernt, desto eher gehen die Menschen­rechte vor. Und es gibt viele Situationen, die das humanitäre Völkerrecht gar nicht abdeckt.

Zum Beispiel?
Die indirekten Folgen. Das haben wir im Bericht betont: Weitaus mehr Menschen sterben nicht durch Granaten, sondern weil sie etwa ein Herzleiden haben und nicht an ihre Medikamente kommen. Oder wenn Schulen zerstört werden und Kinder nicht mehr unterrichtet werden können, was das Recht auf Bildung verletzt. Und die ganzen Folgen für besonders verletzliche Personen­gruppen wie beispielsweise Menschen mit Behinderung, Frauen, Kinder und so weiter.

Der Europäische Gerichtshof für Menschen­rechte (EGMR) hat mit Bezug auf den Konflikt in Georgien – vereinfacht gesagt – entschieden, dass während aktiver Kriegs­handlungen kein Vertragsstaat für Menschenrechts­verletzungen verantwortlich gemacht werden kann.
Ich wäre ja noch einverstanden, wenn einer eine Rakete abschiesst und Menschen trifft, die Hunderte Kilometer weit entfernt sind, dass die nicht in die Verantwortung des Menschenrechts­gerichtshofs fallen – sondern nur unter das humanitäre Völkerrecht. Der EGMR hat aber mit Bezug auf Georgien gesagt: Bei der ganzen Invasions­phase sind wir nicht zuständig, weil im Chaos aktiver Kampf­handlungen sich die Opfer nicht in der Zuständigkeit einer der beiden Kriegs­parteien befinden. Diese Situation käme nahe an jene in Butscha heran. Gut, wenn die Vorwürfe sich dort bewahrheiten, stellt das eine Verletzung des humanitären Völker­rechts dar, und man muss sich gar nicht erst auf die Menschen­rechte berufen. Aber es zeigt doch, dass der EGMR mit seiner Aussage vielleicht etwas zu weit gegangen ist.

Haben Menschenrechte in umkämpften Gebieten also faktisch hauptsächlich Symbol­charakter?
Das würde ich nicht sagen. Die Russen haben in den von ihnen neu besetzten Gebieten, wo keine aktiven Kampf­handlungen mehr stattfinden, beispiels­weise Personen verhaftet, weil sie nach der Konfiskation von deren Handys festgestellt haben, dass sich die Betroffenen als Aktivisten gegen die russische Invasion eingesetzt haben. Das Recht der Meinungs­freiheit wird vom humanitären Völkerrecht nicht abgedeckt. Also verbieten es nur die Menschen­rechte, diese Leute zu verhaften. Oder es gab Demonstrationen in ukrainischen Dörfern gegen die russische Besatzung. Demonstrations­freiheit ist im humanitären Völkerrecht nirgends geregelt, das ist eine rein menschen­rechtliche Frage. Die Regeln, wie man eine Demonstration stoppt, wären in dieser Situation gleich wie in Genf. Das Limit wäre: Tränengas, aber sicher nicht scharfe Munition. Auch in besetzten Gebieten. Insofern spielen Menschen­rechte auch in bewaffneten Konflikten eine absolut zentrale Rolle.

Illustration: Till Lauer

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