Eine kleine Geschichte der Lebensmittelpreise
Weizen, Mais, Sonnenblumenöl: Zahlreiche Nahrungsmittel sind dieses Jahr teurer geworden. Russlands Angriff auf die Ukraine ist ein wichtiger, aber nicht der einzige Grund dafür.
Von Simon Schmid, 09.05.2022
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«Die russische Aggression könnte zur globalen Hungersnot führen.» So titelte die «Financial Times» kürzlich einen Kommentar zum Krieg in der Ukraine.
Pointierter lässt sich kaum formulieren, was zurzeit auf dem Weltmarkt für Nahrungsmittel passiert. Seit Russland den Krieg begonnen hat, sind die Preise von Weizen, Mais und weiteren Agrargütern exorbitant hoch.
Wie hoch, das zeigen Daten der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO). Aus ihnen geht hervor, dass Agrarerzeugnisse im internationalen Handel zuletzt so teuer waren wie nie seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1961. Der um die Inflation bereinigte Nahrungsmittelindex notierte im April 65 Prozent über dem historischen Schnitt – ein Rekord.
Essen ist schlagartig teurer geworden
Nahrungsmittelpreisindex der FAO, 2019–2022
Monatsdaten, inflationsbereinigt. 100 = historischer Schnitt der Jahresdaten seit 1961. Quelle: FAO
Russland und die Ukraine spielen in der Versorgung mit Nahrungsmitteln eine wichtige Rolle. 20 bis 30 Prozent der weltweiten Exporte von Weizen, Gerste und Mais stammen aus den beiden Ländern. Beim Sonnenblumenöl sind es sogar mehr als 60 Prozent. Diese Produkte, deren Anbau und Ausfuhr durch den Krieg stark beeinträchtigt sind, fehlen nun auf dem Markt. Als Folge davon herrscht eine akute Knappheit – deshalb die hohen Preise.
Doch der Russland-Ukraine-Krieg ist nicht der einzige Grund dafür, dass Esswaren in vielen Ländern zurzeit teuer sind. Wer die Grafik genau betrachtet, stellt fest: Der Anstieg der Preise im Welthandel von Nahrungsmitteln begann bereits 2021. Schon damals kletterten diese rund 40 Prozent über das historische Mittel. Neben dem Krieg sind also noch weitere Faktoren am Werk.
Um ihr Zusammenspiel zu verstehen – die langfristigen Trends, die kurzfristigen Schocks –, müssen wir einige Jahrzehnte zurückblenden.
1. Die grüne Revolution
Ab 1960 setzte in vielen Ländern eine Modernisierung der Landwirtschaft ein. Man baute zunehmend auf grossen Flächen und mit Maschinen an, wählte ertragreichere Getreidesorten, errichtete Bewässerungsanlagen, brachte synthetischen Dünger aus und sprühte Pflanzenschutzmittel.
Diese mit der grünen Revolution einhergehenden Techniken machten die Landwirtschaft vor allem in den Entwicklungsländern produktiver: Eine bestimmte Ackerfläche gab mehr Tonnen Getreide oder Gemüse her. Einer Studie zufolge wurde um die Jahrtausendwende pro Hektare Land beispielsweise dreimal so viel Weizen produziert wie noch im Jahr 1960.
Mehr Flächen wurden für die Landwirtschaft genutzt, und pro Fläche gab es höhere Erträge: Diese beiden Trends führten im späten 20. Jahrhundert zu einer enormen Steigerung der weltweit produzierten Nahrung. Wie Robert Finger, Professor für Agrarökonomie und Agrarpolitik an der ETH Zürich, sagt, wurde dies zur damaligen Zeit als etwas sehr Positives empfunden. «Hunger und Mangelernährung zählten zu den globalen Hauptproblemen.»
Wie die Daten der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO zeigen, führte die grüne Revolution auch zu tieferen Preisen: Von 1961 bis 2000 wurden Agrarprodukte um ein Drittel günstiger.
Im 20. Jahrhundert sanken die Preise
Nahrungsmittelpreisindex der FAO, 1961–2000
Jahresdaten, inflationsbereinigt. 100 = historischer Schnitt seit 1961. Quelle: FAO
Ich will es genauer wissen: Was im Nahrungsmittelpreisindex steckt
Der Food Price Index der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) misst, wie sich die internationalen Preise eines Nahrungsmittel-Warenkorbs verändern. Er enthält fünf Kategorien: Getreide (Weizen, Mais, Gerste, Reis, Hirse), Zucker, Fleisch (Rind, Schwein, Huhn, Lamm), Milchprodukte (Butter, Käse, Milchpulver), Pflanzenöl (Palmöl, Öl aus Sonnenblumen, Soja, Raps, Erdnuss, Baumwollsamen, Kokos, Leinsamen, Rizinus).
Die einzige Ausnahme während dieser Phase fallender Nahrungsmittelpreise war die Ölkrise: 1973 bis 1975 waren nicht nur Benzin und Diesel, sondern auch Nahrungsmittel plötzlich sehr teuer. Auf die Gründe dafür kommen wir noch zu sprechen – sie spielen auch in der Gegenwart eine wichtige Rolle.
Doch zunächst müssen wir auf eine andere Veränderung eingehen.
2. Neues Jahrtausend, neue Marktsituation
Um die Jahrtausendwende veränderten sich die Agrarmärkte fundamental. Die grüne Revolution verlor an Tempo – aus vielen Böden wurde bereits das Maximum herausgeholt, zusätzliche Ertragssteigerungen waren nicht mehr so einfach möglich. Oder sie waren gar nicht mehr erwünscht, weil ökologische Überlegungen in der Landwirtschaftspolitik insbesondere in Europa an Bedeutung gewannen, wie Robert Finger sagt. So verlangsamte sich das Wachstum der Agrarproduktion, gerade auch in der Schweiz.
Gleichzeitig nahm die Nachfrage stark zu. Dafür verantwortlich waren die wachsende Weltbevölkerung und der zunehmende Wohlstand. In vielen Ländern bildete sich eine kaufkräftige Mittelschicht, die generell mehr Nahrung zu sich nehmen und insbesondere auch mehr Fleisch essen wollte. Dies erhöhte den landwirtschaftlichen Produktionsdruck stark – denn pro Kilogramm konsumiertes Fleisch braucht es insgesamt viel mehr Getreide als pro Kilogramm Getreide, das vom Menschen direkt konsumiert wird.
Eine weitere Neuheit der Nullerjahre waren Biotreibstoffe: Benzin, Diesel, Öl oder Gas, das aus Zuckerrohr, Mais, Raps und weiteren Pflanzen gewonnen wird und in vielen Ländern obligatorisch fossilen Treibstoffen beigemischt werden muss. Schätzungen zufolge werden 10 Prozent des weltweit produzierten Getreides inzwischen für Biotreibstoff gebraucht, in den USA sogar bis 40 Prozent. Das trägt zur Nachfrage bei und wirkt preissteigernd.
Hinzu kam, dass viele Staaten ihre Agrarpolitik im Lauf der Zeit umstellten. «Besonders die Vereinigten Staaten und Europa hörten auf, den Weltmarkt mit subventionierten Exporten zu fluten», sagt Josef Schmidhuber, stellvertretender Direktor der Abteilung Handel und Märkte bei der FAO, der Republik. Gleichzeitig begannen manche Schwellenländer, importierte Nahrung zu verbilligen, was wiederum die Nachfrage auf dem Weltmarkt steigerte.
Aus all diesen Gründen endete der Sinkflug der Nahrungsmittelpreise im neuen Jahrtausend. Stattdessen begannen die Preise wieder zu steigen.
Trendwende im neuen Jahrtausend
Nahrungsmittelpreisindex der FAO, 1961–2022
Jahresdaten, inflationsbereinigt. 100 = historischer Schnitt seit 1961. Quelle: FAO
Ich will es genauer wissen: Sind die Preise wirklich im Allzeithoch?
Preise von Einzelgütern und auch Preisindizes, die auf Warenkörben beruhen, werden vielfach in nominellen Einheiten angegeben. Um die heutigen Preise mit jenen der Vergangenheit zu vergleichen, muss man sie deflationieren: das heisst, die Inflation herausrechnen. Der Nahrungsmittelpreisindex der FAO verwendet dafür den sogenannten Manufactures Unit Value Index, einen Index für die Preise industrieller Exportprodukte aus fünf grossen Industrieländern. Dieser unterzeichnet die Inflation tendenziell. Würden stattdessen gebräuchlichere Inflationsindikatoren wie etwa die US-Konsumentenpreise verwendet, stünde der Nahrungsmittelpreisindex heute nicht auf einem Allzeithoch, sondern ungefähr im historischen Schnitt, wie Josef Schmidhuber von der FAO sagt.
Hinzu kam ab der Jahrtausendwende ein weiteres Phänomen: Die Preise gingen in der Tendenz nicht nur nach oben, sondern wurden auch volatiler.
3. Energiepreise
Oder etwas weniger technisch ausgedrückt: Es gab heftigere Preisausschläge. Auch das hat verschiedene Gründe. Der vielleicht wichtigste von ihnen ist der Konnex zwischen Energie- und Nahrungsmittelpreisen.
Essen herzustellen, braucht Energie. Viel Energie, vor allem fossiler Art: für Traktoren und anderes landwirtschaftliches Gerät (Benzin oder Diesel), für den Transport per Lastwagen und Schiff (Diesel, Schweröl), aber auch für die Herstellung von Pestiziden und Düngemitteln (Erdgas) – gerade Letztere haben sich 2021 stark verteuert, weil Erdgas teurer wurde. Energie wird auch gebraucht, um Tierfutter zu produzieren und Agrarprodukte zu verarbeiten.
Steigen die Öl- und Gaspreise, so schlägt dies somit unweigerlich auf die Preise von Nahrungsmitteln durch. Das bestätigt sich in Berechnungen, welche die FAO angestellt hat, und lässt sich auch grafisch mit einiger Plausibilität nachweisen – hier anhand von zwei Preisindizes für Erdöl und für Nahrungsmittel, die der Internationale Währungsfonds herausgibt.
Teures Öl geht einher mit teurer Nahrung
Nahrungsmittelpreise und Energiepreise
Abweichung vom historischen Mittel seit 1992. Daten inflationsbereinigt anhand des US-CPI. Quelle: IWF
Wie die Weltbank in einer Studie schreibt, hat sich die Korrelation zwischen Energie- und Nahrungsmittelpreisen im neuen Jahrtausend verstärkt. Steigt der Ölpreis um 10 Prozent, so werden auch Nahrungsmittel um 3 Prozent teurer. Mitverantwortlich sind die Biotreibstoffe: Es wird bei hohen Preisen lukrativ, von Nahrungsmittel- auf Biotreibstoffproduktion umzustellen.
4. Eine Folge von Krisen
Diese Abhängigkeit macht den Nahrungsmittelmarkt anfällig. So brachte das neue Jahrtausend nicht nur generell höhere Energiepreise, sondern auch starke Energiepreis-Schwankungen. Das führte jeweils zu Krisen.
2007 bis 2008: Während der Finanzkrise wurden Grundnahrungsmittel wie Reis, Weizen und Mais um das Doppelte bis das Dreifache teurer. Das führte zu sozialen Spannungen in vielen Entwicklungsländern. Hohe Energiepreise verursachten und verschärften die damalige Situation.
2010 bis 2013: Kaum hatte sich die Lage entspannt, schossen die Preise vieler Nahrungsmittel, von Weizen über Hühnerfleisch bis Maniok, zeitgleich mit dem Ölpreis erneut in die Höhe. Die resultierende Krise wird mit dem Ausbruch des Arabischen Frühlings in Verbindung gebracht.
2021 bis 2022: Nachdem sie zu Beginn der Pandemie im Keller waren, zogen die Energiepreise 2021 stark an. Geopolitische Spannungen und der Aufschwung trugen dazu bei. Parallel dazu wurden auch Nahrungsmittel teurer: Weizen, Mais, Gerste sowie Öl aus Raps, Sonnenblumen und Soja.
Potenziell trägt auch Finanzspekulation in jüngerer Zeit vermehrt dazu bei, Preisausschläge auf den Nahrungsmittelmärkten zu verschlimmern. Die genauen Wirkungszusammenhänge zu eruieren und das Ausmass zu bestimmen, ist allerdings sehr schwierig, wie aus Studien hervorgeht.
Schliesslich, und auch dies wird in der Literatur kontrovers diskutiert, wurde der Welthandel zunehmend liberalisiert. Staaten setzten lieber auf Importe, um lokale Ernteausfälle abzufedern, als eigene, kostspielige Speicher zu betreiben, etwa für Getreide. So nahmen die weltweiten Speicherkapazitäten über die Zeit ab – und in schlechten Erntejahren entstand öfter Knappheit.
Doch damit nicht genug. Es gibt einen weiteren Faktor, der den Anbau von Nahrungsmitteln mutmasslich bereits beeinflusst hat und in Zukunft sogar eine noch bedeutendere Rolle spielen dürfte: die globale Erwärmung.
5. Der Klimawandel
Erwiesen ist: Der Klimawandel bringt häufigere Extremereignisse mit sich. Hitzewellen, Dürren, Kälteeinbrüche, Überschwemmungen und intensive Regenfälle – all dies plagt die Landwirtschaft bereits heute stärker als früher und wird mit zunehmender Erwärmung in Zukunft noch öfter zum Problem. Darin sind sich internationale Organisationen, Wissenschaftler, Journalisten und umweltbewusste Bauernverbände (etwa in Australien) weitgehend einig.
Häufiger treten Extremereignisse auch simultan auf, wie Robert Finger von der ETH Zürich sagt: «Die Wahrscheinlichkeit nimmt zu, dass zum Beispiel Frost und Dürre im selben Jahr auftreten.» Das belastet die Landwirtschaft.
Dokumentiert ist auch, dass Wetterkapriolen und -katastrophen die globalen Agrarmärkte bereits in der Vergangenheit durcheinandergebracht haben. So gab es im Vorfeld der Nahrungsmittelkrise von 2011 etwa Dürren in Russland, der Ukraine, China und Argentinien sowie Starkniederschläge in Kanada, Australien und Brasilien. 2020 und 2021 herrschte Trockenheit in Süd- und Nordamerika, während Bauern in Europa abwechselnd mit Regen und Hitze zu kämpfen hatten.
Doch nicht nur Extremereignisse beeinflussen die Landwirtschaft: Auch die generellen Klimaveränderungen – höhere Temperaturen, anders verteilte Niederschläge – wirken sich aus. Wie genau, ist nicht ganz sicher. «Im hohen Norden profitiert die Landwirtschaft von wärmeren Temperaturen, in der Nähe des Äquators leidet sie unter der Hitze», sagt Josef Schmidhuber, der als führender Autor an Berichten des Weltklimarats mitgearbeitet hat. Unter dem Strich dürfte der positive Effekt bisher dominiert haben, so der Experte. Doch er warnt gleichzeitig davor, dass jede weitere Temperaturerhöhung zu einer Belastung der globalen Produktionskapazität führen werde.
Manche wissenschaftlichen Studien gehen noch weiter. Eine 2021 publizierte Arbeit besagt, dass die weltweite Agrarproduktivität durch den Klimawandel bereits in der Vergangenheit um 20 Prozent geschmälert wurde. Eine andere Arbeit kam 2011 zum Schluss, dass der Klimawandel innerhalb der letzten knapp dreissig Jahre bei Produkten wie Weizen landwirtschaftliche Ertragsausfälle von rund 5 Prozent verursacht habe und für einen Anstieg der Nahrungsmittelpreise von bis zu 20 Prozent verantwortlich sei.
Es ist schwierig, den Impact des Klimawandels auf die Landwirtschaft exakt zu beziffern. Denn die Wissenschaft hat viele Facetten, und die ökologischen Probleme überlagern sich, teils auch als Folge der landwirtschaftlichen Intensivierung, die bis heute vorangetrieben wird: Fruchtbare Böden degradieren oder erodieren, Grundwasserreserven gehen zur Neige, Agrarflächen verschwinden wegen des steigenden Meeresspiegels.
6. Ein perfekter Sturm
Das führt uns zurück in die Gegenwart – zum perfekten Sturm, der sich über dem Nahrungsmittelmarkt nun entlädt. Wie die Daten der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Uno zeigen, sind nicht alle Typen von Agrarprodukten gleichermassen davon betroffen: Während beim Öl die Preise etwa 152 Prozent über dem langjährigen Schnitt liegen, liegen sie bei Zucker und Fleisch jeweils nur 30 bis 40 Prozent darüber.
Akuter Engpass beim Speiseöl
Preise in Abweichung zum langfristigen Schnitt
Abweichung vom historischen Mittel seit 1990. Quelle: FAO
Und auch innerhalb der Hauptkategorien gibt es Unterschiede. Zum Beispiel beim Getreide: Während Weizen, Mais und Gerste momentan sehr teuer sind, blieb der Preis von Reis über die letzten zwei Jahre fast unverändert.
In den Daten zeigt sich allerdings auch: Günstiger als üblich ist momentan kein Nahrungsmittel. Was im Grunde auch logisch ist, da auf dem weltweiten Markt der Agrarprodukte fast alles indirekt miteinander zusammenhängt.
Wann sich die Lage entspannt, weiss niemand. Sicher ist nur: Solange Krieg herrscht und die Energiepreise hoch bleiben, so lange werden auch Nahrungsmittel am Weltmarkt teuer sein. Darunter leiden allgemein arme Länder – und unter ihnen speziell jene, die Nahrung importieren müssen.