Spuren der Verwüstung ausserhalb von Kiew.

Leben in Trümmern

Tschernihiw

Lesha fährt mit einem Freund in die Vororte von Kiew und nach Tschernihiw. Was er dort antrifft, lässt Hass in ihm aufsteigen. Wegschauen kann unser Fotograf trotzdem nicht.

Von Lesha Berezovskiy (Text und Bilder) und Annette Keller (Bildredaktion und Übersetzung), 18.04.2022

Synthetische Stimme
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Der öffentliche Verkehr in Kiew funktioniert mit jedem Tag besser. Es sind mehr Autos auf den Strassen und Menschen unterwegs. Die Stadt ist bemüht, zu einer Art Normalität zurück­zufinden. Auch wenn einige Politikerinnen deutlich davon abraten, nach Kiew zurück­zukommen, wollen viele, die zu Kriegs­beginn weggezogen sind, wieder nach Hause. Sie sind es leid, in einem Provisorium zu leben. Hinzu kommt der finanzielle Aspekt – auswärts wohnen können nicht alle umsonst. Ein paar meiner engeren Freunde sind deshalb aus dem Westen der Ukraine zurück­gekehrt. Ich bin natürlich sehr glücklich darüber, sehe aber auch, dass einige diese ungewisse Pause dazu nutzen, um überlegter zu packen und ihre Wohnungen aufzugeben. Die Angst vor einem zweiten Versuch Putins, Kiew einzunehmen, liegt in der Luft und belastet auch mich.

In den letzten Tagen war ich viel als Kurier mit dem Auto unter­wegs und habe dabei nach einer Gelegen­heit Ausschau gehalten, jemanden in die Vororte zu begleiten. Schliesslich kann ich mich einem Konvoi von fünf Autos anschliessen, mit dem wir Hilfs­güter in das weiter entfernte Tschernihiw bringen. Wir haben Essen, Medizin und Tier­futter im Gepäck. Auch Benzin ist gefragt – die meisten Tank­stellen ausserhalb von Kiew sind geschlossen. Und Plastik­planen nehmen wir auch mit, sie werden gebraucht, um Löcher in den Dächern zu stopfen, die russische Raketen hinter­lassen haben. Wir treffen uns alle im Haus eines Helfers und laden unsere Waren ab, sie werden sortiert und von uns ein paar Stunden später verteilt.

Mein Freund Tolik und ich bringen Medikamente zum Kranken­haus. Die Mitarbeiterinnen sind sehr dankbar. Aber es ist an uns, Danke zu sagen, denn wir stehen in ihrer Schuld, für ihre Tapferkeit. Tschernihiw ist eine Helden­stadt, und wir wollen uns nicht vorstellen, was mit Kiew geschieht, sollte sie fallen.

Mit Tolik unterwegs nach Tschernihiw.
Ruinen …
… Zerstörung …
… Bombenkrater …
… begleiten uns auf dem Weg.

Nach dem Besuch im Kranken­haus fahren wir durch die Gegend, um alles mit eigenen Augen zu sehen. Es ist grauenvoll. Überall Einschlag­löcher von Raketen; bombardierte und in sich zusammen­gefallene Gebäude; Menschen, die in den Ruinen nach ihren Habselig­keiten suchen.

Das ist die russische Wahrheit, und ich hasse sie. Es fällt uns schwer, anzuhalten und genauer hinzu­schauen. Aber wir fühlen beide, dass wir das tun müssen, um zu verinnerlichen, was da gerade geschieht. Dieses Bedürfnis, Bilder fassbar und erfahrbar zu machen, zieht mich auch nach Butscha. Auch wenn ich mich manchmal frage, ob es nötig ist oder ob das, was ich online gesehen habe, vielleicht doch schon Erfahrung genug ist.

Auch wenn sich die Stimmung in Kiew vorsichtig bessert und sich zunehmend zuversichtlich anfühlt, kann ich mich dem nicht so recht hingeben. Die Nachrichten, die wir aus dem Donbass erhalten, brechen mir das Herz. Ich bin froh, dass ich mit dem Ausliefern von Hilfs­gütern eine Aufgabe gefunden habe, es hält mich vor allem davon ab, ständig die News zu lesen. Ich kann sie natürlich nicht ignorieren – ich will ja auch wissen, was los ist –, aber es ist gut, zwischen­durch abgelenkt zu sein.

Wir erfahren, dass es in meinem Geburts­ort im Donbass eine grössere Explosion gab, offenbar wurde ein russisches Waffen­depot von der ukrainischen Abwehr getroffen. Wir wissen es aber nicht genau. Ich mache mir Sorgen um meine Gross­eltern und hoffe einfach, dass es ihnen gut geht. Ich kann sie immer noch nicht telefonisch erreichen. Der Kontakt läuft über ihre Nachbarin, und sie hat mir auf meine letzte Nachricht noch nicht geantwortet.

Ruhe für den Moment.
Agata fährt sehr selten mit.
Stillleben ...
... aus einer anderen Zeit.

Während ich also viel herum­fahre und helfe, beschäftigt sich meine Frau Agata zu Hause. Es ist uns immer noch zu riskant, gemeinsam unterwegs zu sein. Aber ich freue mich, berichten zu können, dass es ihr deutlich besser geht.

Das lässt sich auch daran erkennen, dass sie wieder gerne Zeit in der Küche verbringt. Sie liebt es, zu backen und neue asiatische Gerichte auszu­probieren. Wir sind grosse Fans der koreanischen Küche. In den ersten Wochen nach der Invasion waren wir einfach zu deprimiert, um uns darüber Gedanken zu machen, und wollten nichts anderes essen als Pasta und Vareniky (für die Region typische gefüllte Teigtaschen). Abgesehen davon war es unmöglich, an die Zutaten zu kommen. Aber auch das hat sich inzwischen entspannt, es haben immer mehr Geschäfte offen, und Agata experimentiert wieder mit koreanischen Rezepten. Das beruhigt mich ungemein.

Kürzlich war ich auch das erste Mal seit der Invasion wieder in meinem Studio, es stehen da ein paar Pflanzen, die dringend Wasser benötigen. Es war ein komisches Gefühl. Ich merkte, wie sehr ich es vermisse und damit vor allem mein Leben vor dem Krieg. Gleichzeitig scheint es mir unvorstellbar, hier zu sitzen und an etwas zu arbeiten, auch wenn wir gerade nicht unmittelbar bedroht sind. Ich glaube nicht, dass ich mich auf irgend­etwas konzentrieren könnte.

Manchmal ist es sogar schwer, meine Gedanken für euch zu Papier zu bringen. Sie drehen pausen­los Runden in meinem Kopf, und es ist nicht immer einfach, sie zu fassen und sinnhafte Sätze daraus zu machen.

In einer früheren Version schrieben wir, Tschernihiw sei ein Vorort von Kiew. Dies ist falsch, wir bedanken uns für den Hinweis aus der Leserschaft.

Zum Fotografen

Lesha Berezovskiy arbeitet als freier Fotograf in Kiew. Er ist 1991 im ostukrainischen Bezirk Luhansk geboren. Als dort 2014 der Krieg ausbricht, zieht er in die Hauptstadt, wo er heute mit seiner Frau Agata lebt.

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