Lena und Franz

Zwei Menschen lernen sich online kennen, verlieben sich, schwören sich ewige Treue. Das Problem? Sie ist 13 und er 31. Unser Autor hat ihre Geschichte in einer mehrjährigen Recherche rekonstruiert.

Von William Stern (Text) und Gregory Gilbert-Lodge (Illustrationen), 09.04.2022

Synthetische Stimme
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Céline: Lena, ich bin Schwester von Franz. Er seit 20.1.17 nicht mehr erreichbar. Wir wissen nicht wo er ist. Ich mache mir grosse sorgen. Ich bin bei der Polizei und habe eine vermisst Meldung durchgegeben. Weisst du irgendwas?

Lena: Hallo Céline.

(Verpasster Anruf von Céline.)

Lena: Es ist was passiert … Sie wissen ja, dass Franz und ich eine Beziehung seit 2 Jahren führen

Céline: Was ist passiert?!

Lena: Ich bin nicht so alt, wie Franz gesagt hat…
Ich bin ein bisschen jünger…

Céline: Wie alt bist du?????

Lena: 15
Es tut mir Leid
Es tut mir so Leid
Aber Franz und ich wir haben uns so geliebt

Chatverlauf auf Lenas Handy, 23. Januar 2017.

Der Anfang

In der Schweiz lebt ein Mann, der trägt manchmal enge Hosen und eine Kapitäns­mütze. Er heisst Franz, arbeitet als Pfleger, und wenn er sich nach der Arbeit auf sein Sofa legt und einen Joint anzündet, kann er die Zeit für ein paar Stunden anhalten.

In Deutschland lebt ein Mädchen, das heisst Lena.

Als Franz Lena kennenlernt, paukt sie im Mathematik­unterricht in der Schule gerade Brüche, Dezimal­zahlen, Dreisatz.

Lena ist zu diesem Zeitpunkt 13 Jahre alt, sie kommt aus der bayerischen Provinz, ihre Familie ist im Jahr 2000 von Kroatien nach Deutschland eingewandert, wenige Monate vor ihrer Geburt im Jahr 2001. Nach der Schule trifft sie sich mit ihren Freundinnen zum Skaten, am Abend schaut sie «Germanys next Topmodel». Sie ist Michael-Jackson-Fan, unsicher, impulsiv, mal so, mal so. Zwei Gesichter, ein Zwilling. Hat schon Wodka geklaut im Super­markt und heult vor Freude, wenn Chip, ihr Hund, Männchen macht.

Franz mag Musik, schräge und vor allem düstere Sachen, Post-Punk, The Cure. Ein ruhiger Mensch, der die Konflikte im Dialog mit sich selber austrägt und am Abend Cannabis raucht, um die vielen schweren Tage in einem gleichmässigen, friedvollen Nebel aufgehen zu lassen. Manchmal, wenn er einsam ist, loggt er sich auf Facebook ein oder auf Twitter, er denkt oft an die Urlaubs­tage in Wien oder New York, wo ihn seine Schüchternheit für einige Tage losliess. Seine Freunde kann er an einer Hand abzählen, und wenn er fertig ist, bleiben noch ein paar Finger übrig. Franz ist 31 Jahre alt.

Als Lena 2001 auf die Welt kam, trug Franz Baggy Pants, skatete und rauchte seit zwei Jahren Gras.

Am 28. September 2014 schreibt Lena in der App Kik in ihr Profil: 14 Jahre alt, auf der Suche nach neuen Leuten. «Wer Interesse hat, soll sich bei mir melden.» 350 Menschen schreiben ihr daraufhin, hauptsächlich Männer, die Sex suchen. Aber unter den Hunderten von Männern fällt Lena Franz auf, sie schreibt ihm eine Nachricht, er antwortet, stunden­lang unterhalten sie sich an diesem Abend, zuerst auf Kik, dann auf Whatsapp. Aus Stunden werden Tage. In der Schule denkt sie nur an ihn. Sie gesteht ihm, dass sie 13 ist und nicht 14, er weint am Telefon, wenn er über seine Gefühle spricht. Lena notiert einige Tage später in ihr Tagebuch: Ich glaube, ich habe mich verliebt.

Sie chatten täglich, telefonieren fast jeden Abend, immer um 22.20 Uhr, das haben sie so abgemacht. Franz ist lustig, nachdenklich, versponnen, nicht so wie die Jungs aus ihrer Schule und ganz anders als die Männer, die sich im Netz herum­treiben. Die App Kik wurde damals vor allem von Kindern und Jugendlichen zwischen 11 und 15 genutzt. Schon 2014 warnte ein Kriminologe vor Pädo­kriminellen auf dem Messenger­dienst.

Am 13. November 2014 fragt Franz: «Lena, wollen wir ein Paar sein?» Lena sagt Ja.

«Lena, ich kann nicht glauben, dass ich mich in eine Minder­jährige verliebt habe. Ich hab Angst, dass ich pädophil bin.»

«Ach was, Franz, Liebe kennt kein Alter.»

Die Liebe ist vielleicht alters­blind, aber dem Auge des Gesetzes entgeht sie nicht. Auf sexuellen Kontakt von Erwachsenen mit Kindern unter 14 Jahren steht in Deutschland laut Paragraf 176 im Straf­gesetz­buch eine Strafe zwischen sechs Monaten und zehn Jahren. Als Lena und Franz sich das erste Mal küssen, ist sie 13, als sie ihn das erste Mal oral befriedigt, ist sie 13. Als er sie das erste Mal oral befriedigt, ist sie 13. Zwischen ihnen liegen 18 Jahre. Eine ganze Kindheit, eine ganze Jugend.

«Lena, was passiert, wenn sie uns finden?»

«Denk nicht daran, Franz, sie werden uns nicht finden.»

Am Abend schlafen sie zusammen ein, sie in einer Kleinstadt in der bayerischen Provinz, er in Zürich, ihre Gesichter vom fahlen blauen Schein des Laptops beleuchtet. Das Erste, was Franz sieht, wenn er am Morgen aufwacht, sind Lenas schwarze Haare und die Grübchen in ihrer Wange. Manchmal wird die Verbindung nachts unterbrochen, dann starrt er am Morgen in eine schwarze Wand.

Der Plan ist, zu warten, bis Lena 16 oder 17 ist. Dann sollen Lenas Eltern eingeweiht werden. Eine Zeit lang werden sie damit hadern, damit rechnen Franz und Lena, das ist ihnen klar. Lenas Eltern sind russisch-orthodox, vor allem der Vater ist konservativ, aber die Mutter könnte vielleicht … Irgend­wann werden sie sich daran gewöhnen müssen. Sie lieben doch ihre Tochter.

Zum Gespräch mit dem Autor

Wie ist William Stern bei seiner Recherche vorgegangen? Warum erzählt er die Geschichte von Lena und Franz weitgehend in ihren Worten – und bezieht selber keine Stellung? Und wie denken die Protagonistinnen heute über ihre Beziehung? Hören Sie den Podcast «Aus der Redaktion».

Noch weiss niemand von ihnen, nur Franz’ Schwester hat überhaupt eine vage Ahnung, dass Franz in einer Beziehung ist. Dass Lena minder­jährig ist, weiss sie nicht. Eine Beziehung mit einer Frau hatte Franz bislang bloss ein einziges Mal. 2007, da war er 24, lernte er auf den Philippinen bei einem Geburtstags­fest seiner Tante eine junge Frau kennen, beide sind damals Mitte zwanzig. Sie führen eine Fern­beziehung, chatten auf MSN, in echt sehen sie sich nur zwei oder drei Mal. Franz hat mit ihr zum ersten Mal in seinem Leben Sex, 2007 steckt sie ihn beim Geschlechts­verkehr mit Chlamydien an.

Wenn er heute davon erzählt, verzieht er das Gesicht, als ob es ihm noch immer Schmerzen bereiten würde. 2008 beendet er die Beziehung. Heute lebt die Frau in Florida, hat zwei Kinder und einen Ehemann. Von Zeit zu Zeit denkt Franz, dass er dieser Ehemann hätte sein können.

Franz ist kein Schwer­verbrecher. Er kam nie mit dem Gesetz in Konflikt, nur einmal, 2001, musste er eine Busse bezahlen, weil er in einem Park mit einem Joint erwischt wurde.

Am 7. Januar 2015 treffen sich Franz, 31, und Lena, 13, das erste Mal. Am Haupt­bahnhof München wartet sie auf ihn, seit 8 Uhr steht sie auf dem Perron, obwohl sein Zug erst um 10 Uhr kommt. Als Lena Franz das erste Mal sieht, rennt sie zu ihm, sie umarmen sich. Am 7. Januar feiert man nach dem russisch-orthodoxen Kalender Weihnachten. «Franz, du bist mein Weihnachts­geschenk.» Zusammen fahren sie mit der S-Bahn in einen Münchner Vorort, Franz hat ein Zimmer im Hotel Bären reserviert, dort checken sie ein. Niemand erkundigt sich nach dem Mädchen in seiner Begleitung. Wenn ihn jemand fragen würde, wer seine Begleitung sei, er wüsste nicht, was er sagen sollte.

Aus dem Befragungs­protokoll des Amts­gerichts München:

Und wir sind dann hoch ins Zimmer gegangen und er hat da bisschen so ausgepackt. Er hat mir Briefe gegeben. Er hat mir drei Briefe geschrieben (...) Und ich hab diese Briefe dann halt so gelesen und er sass halt so neben mir und ich war gerührt von diesen Briefen, ich fand das richtig süss, was er mir geschrieben hat, und dann haben wir uns halt so, keine Ahnung, angeschaut und dann haben wir uns halt geküsst gehabt.

Und dann haben wir uns halt noch geküsst und noch geküsst und geküsst und geküsst und Sachen halt, ja. Ja.

20. Februar 2017.

Franz fragt sich manchmal, warum ihn das Leben so müde macht. Und das Gras. Immer das Gras. Seit 17 Jahren. Wenn sie miteinander skypen, sieht Lena, wie er einen Joint raucht. Sie kann dann in Echtzeit beobachten, wie er sich verändert, verwandelt, mit jedem Zug wird er ein bisschen anders, der Franz. Mit jedem Zug ein bisschen weniger der Franz, den sie kennt, liebt.

«Franz, du rauchst zu viel. Willst du nicht aufhören?»

«Ich kann nicht, es gehört zu mir. Mein Gott, du kannst mir nicht sagen, was ich machen soll.»

Kurz darauf entschuldigt er sich wieder.

«Lena, du hast recht, mein Verhalten war kindisch.»

Franz verspricht, den Konsum zu reduzieren. Ein bisschen wenigstens, das sollte machbar sein. Aber es fällt ihm schwer. Zehn Gramm raucht er pro Monat, einen oder zwei Joints nach Feier­abend, vier bis fünf Joints pro Tag, wenn er frei hat.

Sie sehen sich drei, vier Mal im Jahr. Alle paar Monate reserviert Franz ein Hotel in der Nähe ihres Wohnorts, packt Zahnbürste, Duschgel und die Konsole in seinen Nintendo-Rucksack und fährt die viereinhalb Stunden von Zürich nach München, dann weiter mit der S-Bahn in den Vorort. Nur im Herbst nicht. Im Herbst braucht es ihn auf der Station, dann sterben die Leute im Pflege­heim, in dem Franz arbeitet. Franz sagt, er empfinde es als eine Ehre, die Menschen beim Sterben begleiten zu dürfen. Erst wenn sich die Leute sicher fühlen, können sie gehen. Bei ihm sind sie in guten Händen.

Lena wird 14, dann 15. Franz begleitet sie beim Erwachsen­werden, im Hotel­zimmer berühren sie sich, sie kitzeln sich, kichern, haben Sex. Nachher reden sie lange, spielen zusammen «Mario Kart» auf der Konsole. Wenn er bei ihr ist, verzichtet er aufs Kiffen. Am Nachmittag, wenn die Schule aus wäre, geht sie nach Hause, als wäre nichts gewesen.

Lena schneidet sich die Haare kurz, den Micky-Maus-Pullover will sie nicht mehr tragen. Ihrem Vater fällt auf, dass sie sich älter darstellt, als sie ist. Ihre Mutter wird später bei der Zeugen­einvernahme auf dem Polizei­posten drei Fotos vorlegen: Auf allen ist Lena zu sehen, einmal liegt sie, den Arm über ihren Bauch gelegt, auf einem weissen Sessel, die Füsse nackt. Ein andermal sitzt sie vor einem weissen BMW, in einem Autohaus, den Mund fingerbreit geöffnet, sodass man eine Zahnspange erkennen kann. Das dritte Bild zeigt Lena, wie sie auf ihrem Bett unter der Dach­schräge Gitarre spielt, die Beine übereinander­geschlagen, den Kopf leicht zur Seite geneigt, neben ihr liegen Stofftiere.

Auf allen Bildern sieht sie jung aus, nicht wie ein Kind, aber wie ein junger Teenager. Und doch sind es keine kindlichen oder zufälligen Posen, in denen sie festgehalten wird. Ihr Blick verrät neben der scheuen Neugier eines jungen Menschen auch die wallende Unruhe einer wechselhaften Lebens­phase – und eine tiefe Melancholie. Lena sagt, sie sei ein schrecklich unsicherer Mensch gewesen, bevor sie Franz kennen­gelernt habe.

Und Franz? Gibt er sich gegenüber Lena jünger, als er eigentlich ist? Oder ist Franz bloss ein Junge, der sich als Erwachsener verkleidet? Die Sprache, die Briefe, die Anrede, das Vokabular: eine Mischung aus einem schwülstigen Liebes­roman, «Bravo»-Kummer­ecke und Instagram-Jargon. In seinen Briefen nennt er Lena «meine Partnerin». Und Franz kennt Wörter aus der Jugend­sprache, die nicht einmal Lena kennt. Franz sagt später einmal, er fühle sich geistig noch immer wie 18. Franz ist jetzt 32 Jahre alt.

Franz’ Leben gehorcht manchmal einem Trägheits­gesetz. Er ist damit beschäftigt, Leben zu spielen, auch wenn es selten wirklich Spass macht; nach der Arbeit kommt er oft ausgelaugt nach Hause, vielleicht ein bisschen fernsehen, vielleicht ein bisschen gamen. Die Klassiker aus den Neunziger­jahren, «Zelda», «Super Mario» oder ein anderes Jump-’n’-Run-Game. Mehr liegt oft nicht drin. Und die Musik? Franz möchte endlich ein Album aufnehmen, eine Karriere als Musiker starten, aber die Musse fehlt, auch nächstes Jahr wird nichts draus, das weiss er schon jetzt. Vielleicht übernächstes Jahr. Zeit, nur ein bisschen Zeit. Franz ist oft ein müder, erschöpfter Mensch.

Irgendwann im Sommer­urlaub in Kroatien, 2015, erzählt Lena ihrem Vater, dass sie einem Mann im Internet schreibt. Ihr Vater warnt sie vor derartigen Bekanntschaften, er arbeitet für eine IT-Security-Firma, das Internet ist für ihn keine Blackbox wie für so viele andere Eltern. Sie verspricht, ihm Bescheid zu geben, wenn der Mann wieder schreibt. Lena bittet ihren Vater, es ihrer Mutter nicht zu erzählen. Dabei könnte ihre Mutter zu diesem Zeitpunkt schon alles wissen. Irgendwann im Frühjahr 2015 erzählt Lenas kleine Schwester ihrer Mutter nämlich, Lena würde mit einem Mann mit Bart schreiben. Er sei Musiker. Lenas Mutter misst der Sache keine Bedeutung bei.

Den Eltern fällt auf, dass Lena zu dieser Zeit oft ein Lied singt, es heisst «Moj Je život Švicarska».

Moj je život Švicarska, skoro pa savršen / K’o blistavi brilijant vještom rukom izbrušen

Mein Leben ist die Schweiz, fast perfekt, wie ein schimmernder Diamant, geschliffen von kunst­reicher Hand

Imam sve sto pozelim, samo jedno ne / Da me neko bar na tren voli zbog mene

Ich hab alles, was ich will, nur etwas fehlt: dass mich jemand nur für einen Moment liebt für das, was ich bin

Lena und Franz sind glücklich. Sie lieben sich, sind beste Freunde. Sie schmieden Pläne für die Zukunft. Eines Tages wird Lena zu Franz nach Zürich ziehen, um da zu studieren. Franz wird sich eine grössere Wohnung leisten können, eine Wohnung für beide. Sie werden sich einen Audi A1 kaufen, oder einen Golf, und damit eine Reise durch ganz Europa machen.

Wenn Franz nach Deutschland fährt, loggt sich Lena am Abend vorher ins E-Mail-Konto ihrer Mutter ein, schreibt ihrer Klassen­lehrerin eine Entschuldigung: «Meine Tochter kann morgen leider nicht zur Schule kommen, sie ist krank.»

Am nächsten Morgen geht sie mit dem Schul­ranzen aus dem Haus und fährt mit dem Bus zum Haupt­bahnhof München. Sie gehen essen, spazieren zusammen durch München, Grünwald, Germering, am Starnberger See, Hand in Hand, was die anderen Passanten wohl denken? Aber nie dreht sich jemand nach ihnen um, nie hebt jemand die Augen­braue. Die Leute schauen sich nicht mehr ins Gesicht, und täten sie es doch, sie würden bloss einen immer noch jungen Mann mit schwachem Bartwuchs und Röhren­jeans sehen, der mit seiner Teenager­freundin spazieren geht.

Am Nachmittag verabschiedet sich Lena von Franz, sie muss rechtzeitig zum Ende des Schul­unterrichts wieder zu Hause sein. Franz ist meistens von Montag bis Freitag in Deutschland oder von Montag bis Mittwoch, immer wenn er frei hat.

Aus dem Befragungs­protokoll der Polizei­inspektion:

Von wem ging die Initiative aus?

Was heisst Initiative?

27. Januar 2017.

Aus dem Eindrucks­vermerk der Polizei­inspektion:

Lena macht einen intelligenten, aber zurück­haltenden Eindruck. Sie scheint ruhig und vernünftig zu sein. (…) Sie hat eine romantische Vorstellung von Liebe, typisch für ihr Alter. Sie erklärte mehrfach, dass Liebe keine Grenzen kenne. Dies sei auch ihr gemeinsames Dogma gewesen. (…) Lena versuchte stets ihn zu decken und sich als Antreiberin, Verantwortliche darzustellen.

17. Januar 2017.

Franz macht sich oft Vorwürfe. «Lena, ich weiss, dass es nicht richtig ist, aber es fühlt sich richtig an. Vielleicht sollten wir wirklich warten.»

«Ach komm, sei nicht so paranoid, es wird nichts rauskommen. Für mich bist du der Beste.»

«Für die meisten bin ich nur ein P.»

Wenn Franz über Pädophilie spricht, dann sagt er immer nur «P». Als müsste nur schon über den Verdacht einer Krankheit eine schwere Decke gelegt werden.

An der Eisbach­brücke im englischen Garten in München hängen sie ein Liebes­schloss auf.

Sie fliegen auf

An manchen Tagen zerreisst es Lena fast. Mit niemandem kann sie über Franz reden. Franz und sein schräger Musik­geschmack, seine Kleidung, seine Art zu reden und wie er sich traut, eine Kapitäns­mütze zu tragen. Im Jahr 2017. Was für ein komischer, liebens­werter, verschrobener Mensch.

Irgendwann weiht sie ihre zwei engsten Freundinnen ein, dass sie eine Beziehung mit einem Mann aus der Schweiz hat. Aber dass er 18 Jahre älter ist als sie, das kann Lena ihnen nicht erzählen.

In der Schule fehlt sie nun öfters, aber weder Lehrerinnen noch die Schul­leitung schöpfen Verdacht. Sie ist eine solide Schülerin, guter Durch­schnitt, einzelne Problem­fächer, aber nicht versetzungs­gefährdet.

Immer nur zu zweit. Ein Abenteuer, eine Flucht, ein Verstecken.

Regeln: immer Chat­verläufe löschen. Alle Geräte passwort­geschützt. Nie das Handy herum­liegen lassen. Nie das Handy verlieren!

Franz: «Wir sind wie Bonnie und Clyde, wir scheissen auf die Gesetze, wir scheissen auf die Welt.»

Januar 2017, Lena ist jetzt 15 Jahre alt. In ihrer Klasse wird mit Drogen experimentiert. Marihuana, Haschisch, harmloses Zeug, wenn man es nicht übertreibt, aber in Bayern, dem Bundes­land mit dem striktesten Betäubungs­mittel­gesetz, kennen die Behörden kein Pardon. Auch Lena kifft zum ersten Mal, in ihrer Klasse steigt sie in der Gunst der Klassen­kameraden ein paar Stufen höher. Lena bittet Franz, ihr beim nächsten Mal etwas mitzubringen. Franz ist erstaunt, verärgert, weigert sich zuerst. «Das hätte ich nicht von dir gedacht …» Dann gibt er nach. 15 Gramm Amnesia Haze, allerbeste Qualität.

Am 16. Januar 2017 ist es so weit.

Am Abend bevor sie sich treffen schreibt Lena wie jedes Mal eine Mail an ihre Schule. «Meine Tochter kann morgen nicht zur Schule kommen, sie ist krank.» Aber am nächsten Morgen, kurz bevor sie aus dem Haus gehen will, passiert etwas Komisches, ein Anruf, frühmorgens. Ihr Vater geht ran, sagt ein paar Worte, ja, nein, danke. Deine Schule, sagt er zu Lena, als er aufgehängt hat, sie überprüfen, ob du wirklich krank bist. Lena versteht nichts mehr, ihre Eltern wussten ja gar nicht, dass sie sich krank­schreiben liess.

Franz wartet im Hotel Terminus, vergebens.

E-Mail von Lena, am 16. Januar um 10.33 Uhr. «Es tut mir Leid! (...) Aber morgen komme ich, ich komme so um 7.20 und du sagst mir nur wo du bist also Zimmer. Es tut mir leid. Ich habe dich sehr gerne.»

Am Abend setzt sich Lena auf die Bettkante und betet. Bitte bitte, lieber Gott, mach, dass wir nicht auffliegen, lass nichts Schlimmes passieren, lass mich ihn morgen sehen.

Das Handy im Flugmodus, GPS aus. Eine Vorsichts­massnahme.

Als Lena am nächsten Morgen um halb acht zu Franz ins Hotel Terminus kommt, Zimmer vier, umarmen sie sich lange. Lena ist traurig, Franz ist besorgt.

«Ja, Lena, keine Ahnung, das mit der Schule und so, ich, ich hab kein gutes Gefühl, was, wenn das eines Tages auffliegt?»

Dann weinen sie zusammen.

«Wir werden nicht auffliegen, Franz.»

«Keiner ist so verrückt wie wir.»

Sie küssen sich, schlafen miteinander. Dann klopft es an der Tür. Franz, nur mit Boxer­shorts bekleidet, geht zur Tür, Lena liegt nackt im Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Franz öffnet die Tür, erwartet den Reinigungs­service und schaut zwei Polizisten ins Gesicht. Er sieht sein Leben wie einen Film an sich vorbeiziehen.

Am Abend des 17. Januar schreibt Lena Franz eine E-Mail: «Tut mir leid, ich liebe dich.» Eine Stunde später schreibt sie nochmals: «Ich bin draussen, schreib mir wenn du draussen bist auf diese Adresse.» Dann nochmals: «Ich bin zuhause, meine Eltern sind enttäuscht. Wie gehts dir, wo bist du? Es ist fertig.»

Am nächsten Tag hat Lena immer noch nichts von Franz gehört.

«Ich wünschte, dass ich jetzt bei dir bin, egal wo du jetzt bist. Ich liebe dich und werde auf dich warten. Wir schaffen es, deine Lena.»

In der Zelle der Polizei­inspektion Dachau hört Franz sein Handy klingeln, nur ein paar Meter entfernt, immer und immer wieder die Melodie des Songs von Nirvana, «You Know You’re Right».

Was Lena nicht wusste: Ihr Vater, IT-Fachmann, wusste schon seit ein paar Wochen von der Beziehung zu Franz. Nachdem er sie in ihrem Zimmer mit einer selbst gebastelten Bong erwischt hatte, verschaffte er sich Zugang zu ihrem Facebook-Konto. Als Lena und Franz in einem Chat geheimnis­voll von «H» geschrieben hatten, schaltete er die Polizei ein. Die Unterhaltung zwischen Lena und Franz drehte sich um Haschisch, aber umgangs­sprachlich steht «H» eben auch für Heroin.

Mahal kita, volim te puno.
Ich liebe dich sehr.

In der Untersuchungs­haft hat Franz einmal einen komischen Traum: Er steht vor einem Bahn­schalter im Münchner Haupt­bahnhof und will sich ein Zugticket kaufen nach Zürich. Aber kaum hat er eines gekauft, fährt der Zug ohne ihn los. Also kauft er erneut ein Ticket. Aber auch den nächsten und den übernächsten Zug verpasst er. Und dann kauft er wieder eins und wieder eins, und doch fahren alle Züge ohne ihn nach Hause.

Lena weint, morgens, mittags, abends. Zu Hause und in der Schule.

Franz hat sich informiert über die Strafe, die ihm droht, schon lange bevor er auf der harten Pritsche der Zelle in der Justiz­vollzugs­anstalt Stadelheim liegt und mit den Augen die Zimmer­decke entlang­fährt. Auf sexuellen Kontakt mit Minder­jährigen steht in Deutschland bis zu zehn Jahre Haft. Und da er Lena beim letzten Besuch Cannabis mitgebracht hatte, könnte man ihn nun auch wegen der Abgabe von Betäubungs­mitteln an Minder­jährige belangen. Sein Anwalt beruhigt ihn, er müsse höchstens mit ein paar Monaten Haft rechnen. Maximal zwei Jahre, aber auf Bewährung.

Ich bin kein böser Mensch, ich tue niemandem Leid an und werde es auch nie!!!

Brief von Franz, 9. März 2017, JVA Stadelheim.

Warum tut mir der Staat dass an und lässt mich in diesem Bau sitzen?!?!? Manchmal zweifle ich an die Gerechtigkeit aber ich muss!!! stark bleiben!

Brief von Franz, 17. März 2017, JVA Stadelheim.

Seine Handschrift sieht aus wie die eines 14-jährigen Mädchens: bauchig, niedlich, unschuldig; die Punkte über dem kleinen i sind kleine Kreise.

Es braucht Geduld, viel Geduld, aber wir schaffen das gemeinsam, wir gegen diese böse, abartig kranke Welt!!! (…) Du schaffst das und ja, wir schaffen es!!! Wir gehören zusammen seit dem 13.11.14.

Brief von Franz, 7. März 2017, JVA Stadelheim.

Die grosse Stations­uhr im Gefängnis Stadelheim steht seit Wochen auf 9.48 Uhr. Wenn doch nur die Zeit etwas schneller vorüberginge.

Am 21. April um 11.22 Uhr schreibt Lena eine E-Mail an die Staats­anwaltschaft München I, Betreff: Frage.

Sehr geehrte Damen und Herren, mein Name ist Lena F. und ich hätte eine Frage, wegen den Verhandlungen von meinem Freund, Franz M. Wann steht sein Urteil fest und mit wie vielen Jahren Freiheits­strafe soll ich rechnen? In welchem Gefängnis muss er seine Strafe absitzen? Darf ich ihn während der Untersuchungs­haft besuchen? (…)

Lena darf Franz im Untersuchungs­gefängnis nicht besuchen. Sie schreibt ihm Briefe. Alle zwei, drei Tage. Franz schreibt Lena fast jeden Tag.

Ich will für immer nur dich. Und ich will am Abiball mit dir tanzen. Du in einem schicken Anzug und ich in einem eleganten Kleid. (...) Weisst du noch, wo wir im Skater­park in Starnberg (…) zusammen getanzt haben?

Brief von Lena, 20. März 2017.

Ich habe dir doch nie was böses getan und Dich auch nie ausgenutzt. Es war alles so von Dir gewünscht.

Brief von Franz, 16. März 2017, JVA Stadelheim.

Nie werde ich dein Gesichts­ausdruck vergessen. [Als die Polizei am 17. Januar an die Tür ihres Hotel­zimmers geklopft hat.]

Brief von Lena, 20. März 2017.

Manchmal wacht Lena mitten in der Nacht auf und kriegt dieses schreckliche Klopfen nicht mehr aus ihrem Kopf. Sie isst fast nichts, nimmt acht Kilogramm ab, in der Schule hat sie einen Zusammen­bruch. Diagnose: unglaubliche Herz­schmerzen. Der Schularzt macht ihr einen Tee. Sie geht in eine Therapie, spricht über Drogen, ihre Familie, Franz.

Lena, stimmt es, dass dein Freund im Knast sitzt?

Im Frühling besucht ein Reporter von «Pro 7» Lena zu Hause. Lena soll über die Drogen­deals an ihrer Schule sprechen. «Wie wird an Schulen gedealt? Wie viel wird gedealt? Wie bist du zu Drogen gekommen?» Im Film wird man wahrscheinlich nur ihre Hände sehen oder ihren Schatten. Über Franz spricht sie im Interview natürlich nicht. Lenas Vater ist enttäuscht von seiner Tochter.

Wenn meine Eltern merken, dass du mich wirklich liebst, werden sie dich akzeptieren, 100%! PS: Pinguine haben während ihrem ganzen Leben nur einen Partner. Selbst wenn sie lange auf der Jagd sind und sich nicht sehen, finden sie sich wieder und sind vereint. Ich bin dein Pinguin, Franzi.

Brief von Lena, 20. März 2017.

Franz hat im Gefängnis immer kalte Füsse, und kalte Füsse machen krank.

Sobald Franz wieder in Freiheit ist, will er mit dem Kiffen aufhören, das schwört er sich.

Jetzt muss damit Schluss sein, ich möchte nämlich gerne weiter­leben und zwar ohne «high sein». (...) Möchtest du mir auch dabei helfen??

Brief von Franz, 31. März 2017, JVA Stadelheim.

Deine Briefe sind das Licht hier, unsere Liebe und Freundschaft ist was besonderes und einzig­artig und sie wird ein Leben halten! Nie mehr getrennt sein von Dir!!!

Selbst wenn ich mein altes Leben in Freiheit verlieren werde, ich halte zu dir und werde dich immer lieben.

Mit dir schaffe ich es, ganz bestimmt! Ich kämpfe für uns und mit deiner Hilfe ist es machbar. Ich brauche nur dich, meine beste Partnerin ♥♥.»

Briefe von Franz, 27. bis 31. März 2017, JVA Stadelheim.

Immer dieser Druck, immer stark sein zu müssen. Immer da sein zu müssen für Franz. Und das eigene Leben? Lenas Eltern drohen, sie in ein Erziehungs­heim zu stecken.

Oh Franzi, ich habe so Angst. Drück mir bitte die Daumen, dass ich da nie hingehen muss!

Brief von Lena, 30. März 2017.

Im Knast nennen sie Franz wegen seiner schmalen Statur, der Brille und dem zurück­haltenden Wesen «Schwuchtel», «Arsch­ficker», «Harry Potter». Während die anderen an den Gewichts­maschinen hängen, versteckt er sich in seiner Zelle, liest Zeitung und schaut alte TV-Serien, «MacGyver», «Knight Rider».

Vor dem Einschlafen formt sie aus ihrer Decke einen Körper, gibt ihm den Namen Franz und stellt sich vor, wie es ist, wenn er wieder neben ihr liegt. Nur noch ein paar Monate, dann ist Lena 16 und ihre Beziehung legal.

Franz setzt in der Gefängnis-Schuh­macherei Plastik­teile zusammen für Spielzeug­autos. Einmal lächelt ihm der Anstalts­leiter zu, als sie sich auf dem Gang begegnen. Franz schreibt in einem Brief: «Ich kann also kein schlechter Mensch sein.»

22,7 Kilometer ist Lena von Franz entfernt. Aber «verdammt, so getrennt voneinander waren wir noch nie».

Die Staats­anwaltschaft München beauftragt eine Forensik­firma mit der Untersuchung von Franz’ technischen Geräten. Das Resultat: Auf den Beweis­mitteln wurden keine Bild- oder Video­dateien mit kinder­pornografischen Inhalten festgestellt.

Wenn Franz rauskommt, wollen sie gemeinsam ein Album aufnehmen, Franz schreibt die Texte, Lena spielt Gitarre, einen Namen für die Band haben sie schon: Sounds of Lovers. Die Lieder handeln von Einsamkeit und Isolation. Wie es ist, wenn man das Gefühl hat, man passe nicht in diese Welt. Franz hat oft das Gefühl, er passe nicht in diese Welt.

Lena will ein Buch schreiben über das, was ihnen widerfahren ist. Schon als kleines Kind wollte sie Schrift­stellerin werden, hatte aber keine Idee und keine Geschichte. Jetzt hat sie endlich eine. Der Arbeits­titel lautet: Liebe kann man nicht verbieten.

Am 26. Mai 2017, vier Tage nach Lenas 16. Geburtstag, wird das Urteil gefällt: Franz wird wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und Abgabe von Betäubungs­mitteln zu drei Jahren Haft verurteilt.

Lena weint drei Tage lang, als sie vom Urteil erfährt. Wie kann jemand schuldig sein, wenn zwei sich lieben?

Im Gefängnis

Nach dem Urteil wird Franz in die Justiz­vollzugs­anstalt Landsberg verlegt, einen voluminösen Jugendstil­bau aus dem frühen 20. Jahr­hundert, kreuz­förmiges Panoptikum mit byzantinischen Turm­zinnen, ein verhextes Märchen­schloss, das seine Türen nie öffnet, und eines der bekanntesten Gefängnisse Deutschlands. Hier verfasste Hitler während seiner Festungs­haft «Mein Kampf». Hier, im sogenannten War Criminals Prison No. 1, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg 259 Todes­urteile durch den Strang und 29 durch Erschiessen gegen NS-Kriegs­verbrecher vollstreckt.

Durch einen Metall­detektor gelangt man in den Besucher­raum. Zwei Wärter sitzen gelangweilt hinter einer Glas­scheibe, neben den Besucher­tischen eine Kinder­ecke: Indianer-Tipi, Wildwest­szenerie. Franz trägt eine riesige grüne Hornbrille, einen grauen Gefängnis­pullover, ein bisschen zu weit; blaue Arbeiter­jeans und schwere schwarze Halbschuhe. Nach Besuchen muss sich Franz komplett ausziehen. Nach vorne beugen. Taschen­lampe. Seine Haare sind jetzt kurz geschoren, der Blick schmal. Sein Chef im Pflege­dienst hat den Patienten gesagt: Franz ist auf Weltreise. Aber die einzigen Momente, in denen Franz die schweren Mauern von Landsberg verlässt, sind die Ausflüge in die Erinnerungen während der Besuche von seiner Mutter und seiner Schwester Céline.

Weisst du noch, Franz, als wir auf dem Konzert waren von Rihanna?

Ja, ich musste deine Haare halten, weil du so fest gekotzt hast.

Franz lacht.

Manchmal möchte ich dich einfach mitnehmen, Franz.

Franz schweigt.

In manchen Nächten kann Franz nicht schlafen. Die Leute schlagen dann gegen die Zellen­wände und Gitter­stäbe, schreien durcheinander, fluchen. Wenn die Mitgefangenen rausfinden, dass Franz ein P. ist, dann ist es aus mit ihm.

Seine Schwester streicht mit der Hand über seine Stoppeln. Seine Mutter fragt, wann er in die Schweiz verlegt wird.

Der Vater kommt nicht, und wenn er doch einmal kommt, dann sagt er nur: «Du bist selber schuld, du hättest halt das Scheiss­zeug nicht rauchen sollen.» Einmal schreibt Franz seinen Eltern: «Durch meine Schuld wird 2017 zum bisher schlimmsten Jahr seit eurer Eheschliessung.» Der Vater schreibt ihm: Deine Beziehung zu Lena wird sowieso nicht halten.

Lena und Franz glauben daran, glauben an sich. Wenn es auch in der Justiz keine Gerechtigkeit geben mag, in der Liebe gibt es sie. Wir schaffen es, Franz. Und wenn uns das alles nicht trennen kann, dann gibt es nichts, was uns trennen kann.

Franz fallen die Zähne aus, ein, zwei, drei Stück. Werden ganz locker, wegen des schlechten Essens oder der schlechten Hygiene, wer weiss. Einmal, kurz vor Weihnachten, serviert das Gefängnis­personal Rinds­gulasch mit Nudeln und Gemüse. Alles verschimmelt.

Anfang 2019 wird Franz in die Schweiz verlegt. Ein Polizei­transport bringt ihn ins provisorische Gefängnis Kaserne in Zürich. Drei Tage später wird er in die Justiz­vollzugs­anstalt Realta gebracht, ein Gefängnis in der bündnerischen Region Viamala. Mitte des 19. Jahr­hunderts wurde es als Zwangs­arbeits­haus für «arme, arbeits­fähige, aber dem Müssig­gang und Bettel ergebene Menschen» eröffnet. Heute ist es ein Gefängnis mit einer eigenen Metzgerei, Schreinerei, einem Hofladen und der einzigen heroin­gestützten Behandlungs­möglichkeit für Straf­fällige landesweit.

An den Nachmittagen ist der Besucher­raum leer, draussen auf dem Feld sieht man einen jungen Mann in einer Schub­karre dösen, sonst wirkt die Anlage wie ausgestorben. Franz arbeitet jetzt im Schweine­stall, seine Aufgabe ist es, Tiere zu versetzen, die Mutter­säue von den Ferkeln zu trennen. Die Säue können aggressiv werden, kürzlich biss ihn eine in den Finger, und Franz muss aufpassen, dass er keine emotionale Beziehung zu den jungen Schweinchen aufbaut, sonst schmerzt die Trennung nicht nur die Mutter­sau, sondern auch ihn.

Mit Lena läuft es harzig. Sie hat bald Abitur und ist gestresst, Goethe, «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo», die Literatur-Interpretationen bereiten ihr Mühe. Lena will Psychologie studieren, aber sie hat einen Noten­schnitt von etwa 2,5, und für Psychologie braucht man eine 1,3. Telefonieren können sie nur selten, die Viertel­stunde kostet fünf Franken, und Franz hat fast kein Geld. Aber vor einigen Wochen haben sie sich zum ersten Mal seit langem wieder in die Augen geschaut, seit dem Urteil im Land­gericht München, seit eineinhalb Jahren, zwar nur auf Skype, aber dennoch. Franz hat dafür eine spezielle Bewilligung bekommen.

Als Franz Lena gesehen hat, war es, als wäre er gar nie weg gewesen, als wäre keine Zeit vergangen seit damals. Sie schmieden wieder Pläne, in zehn Jahren zusammen in Zürich wohnen, das gemeinsame Album heraus­bringen, das Buchprojekt endlich starten, aber es ist wie verhext: Jedes Mal ist die Zukunft weiter entfernt, und die grossen Pläne klingen langsam wie ein Echo aus vergangenen Tagen.

Das Ende

Im Sommer 2019 hat Franz das erste Mal Ausgang, 56 Stunden Freiheit. Er geht mit seiner Schwester Céline ins Einkaufs­zentrum Sihlcity in Zürich, trinkt einen Kaffee, beobachtet Menschen, kauft die Jeansjacke von Levi’s nicht, auch wenn sie so schön aussieht im Schau­fenster. Als die Sirenen eines Spielzeug-Hydraulikautos losheulen, zuckt Franz zusammen.

Triggert dich das, Franz, fragt seine Schwester.

Ja, ein bisschen.

Franz erzählt von den kleinen Schweinchen im Schweine­stall in Realta.

Céline sagt, weisst du noch, Blacky? Das kleine Schweinchen, das immer so süss über die Mauer gelinst hat? Stellte sich auf die Hinter­beine, streckte den Kopf über die Mauer, um mich zu begrüssen. Und eines Morgens war Blacky dann plötzlich nicht mehr da. Die Schweine wurden an den Füssen aufgehängt und ausgeblutet, mit heissem Wasser aufgepumpt, sodass sie aufquollen und man ihnen die Haut besser abziehen konnte. Und sie haben geschrien und gequiekt, das waren fast menschliche Geräusche, Schmerzens­schreie von kleinen Kindern.

Ich habe gern zugeschaut, sagt Franz, mir hat das nichts ausgemacht.

Wenn man Franz eine Frage stellt, wiederholt er manchmal ein Wort ein-, zweimal, als ob er Zeit schinden möchte. Wenn er über komplizierte Dinge spricht, saugt er hörbar Luft durch die Zahn­lücken ein, als würde er einen tiefen Zug von einer Zigarette nehmen. Manchmal fehlen ihm die Begriffe, wenn man sie beisteuert, antwortet er scheinbar begeistert: Ja, genau! Dabei waren es gar nicht die Worte, die er gesucht hatte. In diesen Momenten kann Franz eifrig wirken. Franz sagt von sich, er sei lernschwach, müsse alles zehnmal wiederholen, bevor er es verstehe.

Manchmal weckte der Vater Franz und Céline mitten in der Nacht und forderte sie auf, eine Rechen­aufgabe zu lösen.

Einmal, kannst du dich erinnern, Franz, da hat mir unser Vater einen derartigen Tritt verpasst, dass ich durch den ganzen Flur geflogen bin, mindestens 100 Meter, voll in den Home­trainer rein.

Ich habe meinen Vater gern, sagt Franz.

Dich hat er öfters geschlagen, Franz.

Ja.

Wenn Franz spricht, sucht er die Augen seiner Schwester, als wäre darin ein verborgenes Wissen von Franz, etwas, das ihn wieder vollständig macht, heilt. Franz und Céline sind unzertrennlich.

Du bist halt eher der devote Typ, Franz.

Ja.

Als du einmal eine Aufgabe nicht wusstest, haute Vater dir den Abakus mit voller Kraft auf die Nase.

Ja, das musste im Spital genäht werden.

Fünf oder sechs Jahre alt war er da, der Franz.

Und Franz hat noch immer das Problem mit den Fingern. «Franz, du musst unbedingt zum Arzt gehen, einem Spezialisten.» Franz krümmt die Finger zur Demonstration, sobald sie einen 90-Grad-Winkel erreichen, springen sie mit einem Schnapp­geräusch in die Ausgangs­stellung, «hör auf damit, Franz». Nachher muss er noch Bartöl kaufen und Schnürsenkel.

Die kleinen Schweinchen im Gefängnis­stall nagen immer an den Schnürsenkeln.

Im Warten macht dir niemand etwas vor, Franz.

Ja, warten kann ich gut. Ich bin geduldig.

Im Sommer 2019 erfährt Franz, dass seine Rest­strafe auf Bewährung ausgesetzt ist. Er muss regelmässig Urin­proben abgeben und sich bei seiner Bewährungs­helferin melden.

Im Herbst 2019 sehen sich Franz und Lena das erste Mal in Freiheit wieder. Zweieinhalb Jahre haben sie auf diesen Moment gewartet. Samstag­nachmittag, wieder steht Lena an einer Haltestelle, dieses Mal nicht am Bahnhof, sondern an der Bus­haltestelle. Eine Stunde zu früh. Lena denkt, sie werde gleich in Ohnmacht fallen, so nervös ist sie. Ihre Eltern und ihre kleine Schwester sind für ein paar Tage weggefahren, Lena und Franz haben die Wohnung für sich allein. Sie haben Sex, gehen dann auswärts Pizza essen und Weissbier trinken, wieder zu Hause gucken sie einen Film, «Bohemian Rhapsody». Sie schlafen das erste Mal neben­einander ein, wachen nebeneinander auf. Ist das jetzt das echte Leben? Oder ist das nur Fantasie? Am nächsten Morgen ein gemeinsames Bad, eine Fertig­lasagne, dann fährt Franz mit dem Flixbus zurück in die Schweiz. Am Montag muss er wieder zur Arbeit, er hat eine Praktikums­stelle in einem Pflege­heim bekommen.

Ein paar Monate später fährt Lena nach Zürich zu Franz. Franz holt sie mit seiner Mutter vom Bahnhof ab, sie gehen essen, die Atlanta-Pizza bei «Sam’s Pizza Land», Blattspinat, Bergkäse, Speck und Knoblauch. Danach spazieren sie zu zweit die Bahnhof­strasse entlang, Gucci, Louis-Vuitton, Prada, Rolex. Franz zeigt ihr die Park­bank, wo er sich früher entspannte nach der Arbeit.

Franz, wenn du wieder anfängst zu kiffen, bekommst du es mit mir zu tun.

Das Schlimmste haben wir jetzt hinter uns.

Endlich müssen sie sich nicht mehr verstecken. Lenas Eltern wissen, dass sie in Zürich ist. Ihre Mutter hat ihr gesagt, «du bist 18, du hast dein eigenes Geld, verbieten kann ich es dir nicht».

Lena glaubt, in einem Jahr könnte es so weit sein, dass sie ihnen Franz vorstellen kann.

Zu Hause wartet eine Flasche Kleiner Feigling auf sie.

Das Gras begleitet Franz, seit er 16 ist. Irgendwann muss er einen Pakt geschlossen haben, als er benebelt war, oder als er einmal traurig war oder gestresst von der Arbeit. Das Gras muntert ihn seither zuverlässig wieder auf, immer und immer wieder, hüllt ihn in einen Kokon, flüstert ihm zu, dass alles gut kommt, dass heute heute ist und morgen morgen. Die Zeit wird einfach angehalten, für ein paar Stunden bleibt alles so, wie es ist. Alle Sorgen ausgesperrt. Aber wie soll das funktionieren? Mit seiner Arbeit verdient Franz nicht einmal 2000 Franken, und er hat Schulden. 50’000 Franken, vom Drogen­konsum und von den Kleidern, die er sich mit Geldern von Creditnow finanziert hat. Die Anwalts­kosten und die Steuern sind auch nicht bezahlt, und zu Hause stapeln sich die Rechnungen und Betreibungen.

Zweieinhalb Jahre hat er Lena nicht mehr ausserhalb der Gefängnis­mauern gesehen, fast drei Jahre hat er auf das Gras gewartet. Ein paar Monate gibt er nach seiner Entlassung noch reine Urin­proben ab, dann, im Herbst 2019, erinnert er sich daran, wie weich das Leben ist, wenn man kifft. «Ich habe gesündigt. Ein, zwei Züge vielleicht. Ein Leben ohne Gras ist nicht realistisch.» Seit Dezember 2019 konsumiert er wieder regelmässig.

Franz dreht an einem imaginären Rad, wenn er etwas Kompliziertes erklären muss, oder er zieht an einem unsichtbaren Seil.

Seine Nase ist ganz rot, eine Erkältung.

Im März 2020 eine SMS von Franz: «Lena und ich, wir haben uns getrennt.»

Die grossen Pläne, die Europa­reise, das gemeinsame Album, das Buch: Ideen wie aus einem anderen Leben.

April, ein Skype-Gespräch mit Franz und Lena. Lena sitzt in ihrem Zimmer unter der Dach­schräge und zieht an einer elektronischen Zigarette. Sie bläst den Rauch in die Bildschirm­kamera. Irgendwann stürmt ihre kleine Schwester ins Zimmer und ruft: «Komm, Lena, komm!» Ein doppelter Regen­bogen spannt sich über die bayerische Provinz.

Wir hatten halt andere Vorstellungen vom Leben, sagt Franz.

Du liebst das Gras mehr als mich.

Im Hintergrund sieht man einen riesigen Plüsch­teddybären. Ein Geschenk von Franz.

Wenn du meinst. Alles musste so kommen, wie es gekommen ist. Schicksal.

Warum ist Franz so, wie er ist. Warum kann er nicht über seine Gefühle sprechen.

Lena hat Tränen in den Augen.

Du lachst, Franz, warum.

Er hat nur gelacht, weil ihm die Worte fehlten.

Bereust du etwas, Franz?

Nein, nichts, alles noch einmal so.

Wenn du etwas bereuen würdest, Franz, dann hättest du dir gewünscht, diesen Joint damals nicht angezündet zu haben.

Franz zuckt mit den Schultern. Er lacht, er kann nicht anders. Er kann nicht aufhören zu kiffen, und er kann nicht anfangen zu sprechen. Ein stummer Leib­wächter seiner Gefühle. Es ist, als hätte er ein fremdes Leben ausgeliehen und wartete jetzt, bis der Moment gekommen ist, da er es zurück­geben muss. Immer nur auf diesem grossen, weichen Sofa liegen und schweigen.

Du wirst nie wieder jemanden finden, Franz.

Lena ist jetzt 18, halb so alt wie Franz und doch so viel älter als er. Sie ist Franz entwachsen. Ein therapeutischer Gutachter kommt zum Schluss, dass bei Franz «unreife Anteile» vorhanden sind. Franz pflege «einen jugendlichen, aber auch alternativen Lebens­stil, indem er sich bis heute jugendlich fühlt und auch optisch deutlich jünger wirkt». Es scheint, als hätte sich Franz’ Körper seinem Geist angepasst. Nur der Rücken tut immer häufiger weh.

Lena sagt, bevor sie Franz kennen­gelernt habe, sei sie unsicher gewesen, schüchtern, ein kleines Mädchen, das die Welt auf Abstand gehalten habe. Franz habe in ihr etwas freigelegt, ihr eine andere Seite gezeigt, beigebracht, dass man sich selber lieben und so akzeptieren kann, wie man ist.

Aber da ist noch etwas anderes. «Wenn ich ein 13-jähriges Mädchen sehe», sagt Lena einmal in einem Gespräch im Sommer 2020, «denke ich: Das ist ja noch ein Kind!»

Aber sich selber, ihr 13-jähriges Ich, das fünf Jahre lang mit einem 18 Jahre älteren Mann in einer Beziehung war, sieht Lena nicht in diesem Kind. Auch jetzt nicht, sieben Jahre später. «Ich bereue es nicht», sagt Lena. Würde sie es nochmals so machen? Lena schweigt. «Früher hätte ich Ja gesagt. Ja, einfach etwas später.»

Sie schweigt wieder. «Aber eigentlich», sagt Lena dann, «gehörte auch das dazu, was nachher passiert ist: die Polizei im Hotel­zimmer, das Gerichts­urteil, die Haft­strafe, der Streit mit den Eltern. Wäre das alles nicht geschehen, wäre ich heute nicht die Person, die ich bin.»

Frühjahr 2020. Franz hat wieder angefangen zu skaten, in ein paar Monaten will er den Kickflip beherrschen, den Shove-it und den Heelflip, wie früher.

Als Kind war Franz fasziniert von Science-Fiction, er baute Lego-Raumschiffe nach seinen eigenen Plänen und schlug Weltraum­schlachten mit ihnen. Er schaute stunden­lang «Star Trek», «Deep Space Nine», die Idee von Parallel­welten übte eine besonders starke Anziehungs­kraft aus. Was, wenn es da draussen unzählige Versionen dieses einen Lebens gäbe? Ein anderer Franz, eine andere Lena, eine Welt, in der beide glücklich sind miteinander?

In dieser, unserer Welt, wird alles zu Staub. Franz hat die Briefe von Lena alle geschreddert, 200, 300 Stück, zwei Schuh­kartons gefüllt mit Liebes­schwüren und Kose­namen. «Liebe dich so sehr, Franzi. Niemand ist so wie du. Du bist mein süsser Teufel, mein bester Freund, mein bester Partner, mein Titan und Triton, mein Boy.» Es hat zu fest weh getan. Jetzt ist der Kopf wieder frei.

«Weisst du», sagt Franz, «ich möchte nicht mehr einsam sein.»

Frühjahr 2022, Lena ist jetzt fast 21. «Ich glaube, ich hatte einfach wahnsinnig Glück mit Franz», sagt sie. «Er ist ein guter Mensch, und wir haben uns geliebt. Aber es hätte auch ganz anders kommen können.» Lenas Schwester ist jetzt 13 Jahre alt, so alt wie Lena damals. «Je älter ich werde, desto mehr verstehe ich, warum es verboten ist. Der Alters­unterschied ist nicht das Problem. Aber es stimmt etwas nicht, wenn ein 31-jähriger Mann ein 13-jähriges Mädchen attraktiv findet.»

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