Die Lüge im Kern von Putins Krieg

Wladimir Putin will ein Reich der Russisch­sprachigen. Wie viele vor ihm ignoriert er damit erstens, wie Sprache funktioniert. Und zweitens, dass unsere Muttersprache nicht festlegt, wer wir sind und was wir wollen.

Von Marie-José Kolly (Text) und Lina Müller (Illustration), 04.04.2022

Synthetische Stimme
0:00 / 22:54
Kampagnen-Logo

Unabhängiger Journalismus lebt vom Einsatz vieler

Unterstützen auch Sie die Republik mit einem Abo: Einstiegsangebot nur bis 31. März 2024.

Wählen Sie Ihren Einstiegspreis
Ab CHF 120 für ein Jahr

«Do you speak English? Po russki?», fragt eine Korrespondentin der «New York Times» aus dem Auto­fenster. Es ist Anfang März, und ihr Wagen rollt im Stau von Kiew gegen Westen. Ja, er spreche Russisch, sagt der Ukrainer im Auto nebenan. Seine Familie verlasse das Land, aber er werde bleiben müssen. Mit schwerem Gefühl im Herzen.

Stunden später fragt die Reporterin ein Mädchen auf Englisch und dann auf Russisch, ob es etwas hätte mitbringen wollen, das es hinter sich lassen musste. Die Grossmutter und den Vater, sagt das Kind auf Englisch. Und den Hamster.

«What’s the hamster’s name?», fragt die Reporterin.
«Busya», sagt das Mädchen auf Ukrainisch.
«Busya. What does Busya mean in Russian?»
«Busynka.»
«It’s like a pearl?»
«Yeah, pearl. (…) He is white.»

Ukrainer, die auf der Flucht ganz spontan Russisch sprechen; die fliessend vom Ukrainischen ins Russische wechseln; oder die westwärts fliehen, obwohl sie gar kein Ukrainisch können: All das passt nicht so recht in die Erzählung des russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Putin erzählt, im Sommer 2021: Als die Krim und die heutige Ostukraine im 18. Jahrhundert ins Russische Reich eingegliedert wurden, sei das nicht nur ein Resultat politischer und diplomatischer Entscheide gewesen: «Zugrunde lagen auch der gemeinsame Glaube, geteilte kulturelle Traditionen, und – das möchte ich erneut betonen – sprachliche Gemeinsamkeiten.»

Putin erzählt, am 21. Februar 2022: Russisch­sprachige Ukrainerinnen in diesen Regionen kämpften ums Recht, «ihre eigene Sprache zu sprechen und ihre Kultur und ihre Traditionen zu bewahren».

Und diese Russisch­sprachigen, erzählt Putin, seien «unsere Landsleute».

Es ist eine uralte Erzählung – und eine, die immer wieder an verschiedenen Orten der Welt für viel Leid gesorgt hat.

Im selben Reich vereint

In diesem Fall sind nach dieser Erzählung Russisch­sprachige erst einmal Russen, bevor sie ukrainische Staatsbürger sind. Russisch­sprachige, egal wo, gehören demnach zur Russki Mir, zur russischen Welt. Und der russische Macht­haber leitet daraus den Auftrag ab, «alle russisch­sprachigen Menschen auf den Territorien, die irgendwann zum russischen Zaren­reich gehört haben, wieder [im selben Reich] zu versammeln», wie die Russland­expertin Fiona Hill kürzlich zu «Politico» sagte.

So sollte Sprache im Jahr 2014 plausibel machen, dass Russland die ukrainische Halbinsel Krim annektierte und dass russische Truppen in die ukrainischen Provinzen Donezk und Luhansk einmarschierten. Und Sprache soll auch 2022 plausibel machen, dass Russland zunächst diese Provinzen für unabhängig erklärte und dann einen gross­flächigen Angriff auf die Ukraine startete.

Dass Sprache in dieser Region politisch instrumentalisiert wird, ist nicht neu: Das Ukrainische erlebte Repressions­wellen unter Zaren und unter Stalin, Förderungs­wellen in den 1920er- und ab den 1990er-Jahren. Beides führte zu Ressentiments, die vermutlich bis heute nachwirken (dazu später mehr).

Auch Putins Erzählung ist keine neue – sondern eine, die immer mal wieder beschworen wird. Sie geht letztlich zurück auf eine Vorstellung, die in abgeschwächter Form in vielen Köpfen vorherrscht und die im späten 18. Jahrhundert aus der Romantik entstand:

Ein Volk spricht eine Sprache und bildet so eine Nation, die in einem Staat existiert.

Dahinter stecken durchaus legitime Gedanken (auch dazu später mehr). Die Vorstellung inspirierte aber auch völkisch getriebene Grossmacht­fantasien: Nicht ganz zufällig ist Putins Lieblings­philosoph der (tote) Iwan Iljin, ein Mussolini-Bewunderer, Hitler-Verteidiger und russischer Faschismus-Vordenker, der «Ukrainer» konsequent in Anführungs­zeichen schrieb.

Anhand der Frage, wer wo wie spricht, leiten Macht­haber wie Putin territoriale Ansprüche ab. Das ist stark verkürzt gedacht, und es zeugt von einem vereinfachten Verständnis der sprachlichen Realität auf diesen Territorien.

Mit deutlichen Worten: Hier wird Sprache für politische Macht­ansprüche missbraucht. Denn die Wirklichkeit ist sehr viel komplexer.

Wo eine Sprache endet und wo die nächste beginnt

Zwischen verwandten Sprachen existieren keine scharfen Grenzen, die man mit gespitztem Bleistift auf Karten einzeichnen könnte, sondern ein Kontinuum. Ein Deutsch­sprachiger aus dem südlichen Oberwallis mag eine Nieder­länderin zwar nicht verstehen, kann sich aber problemlos mit jemandem aus dem nördlich gelegenen Nachbar­dorf verständigen, jener wiederum mit seinem nördlichen Nachbarn – und so weiter, bis die Niederlande ins Meer übergehen.

Auf so einem Kontinuum wandelt sich die Sprache graduell: Wandert man von der Ost- in die Westschweiz, so hört man Raststätte für Raststätte andere Wörter für dieselbe Sache oder andere Aussprachen für dasselbe Wort: Man hört zum Beispiel immer mehr «offene» Vokale: Zuger (und Sprecherinnen westlich davon), die Bett sagen, tun das mit offenerem Kiefer als Zürcher. Und Berner wiederum sagen Schnee mit offenerem Kiefer als Zuger. Irgendwo im Aargau verändert sich also nicht plötzlich der gesamte Dialekt von Zürich­deutsch zu Berndeutsch, sondern höchstens die Aussprache von e in Bett oder jene von ö in schön.

Grenzen, die einzelne Sprach­merkmale betreffen, staffeln sich über ein Territorium hinweg – und sogar sie lassen sich nicht als eindeutige Linie zeichnen. Menschen bewegen sich stets, Sprache wandelt sich stets. Und keine zwei Menschen sprechen exakt gleich.

So gibt es auch keinen Ort, wo plötzlich die ukrainischen Dialekte enden und die russischen beginnen. Im Norden gehen ukrainische Dialekte kontinuierlich in belarussische über, im Osten in russische. Und auch hier verstehen Menschen den Dialekt aus dem Nachbar­dorf sehr gut, jenen aus dem etwas weiter gelegenen Dorf etwas weniger gut und so weiter, sagt der slawistische Sprach­wissenschaftler Patrick Sériot von der Universität Lausanne. «So ist es unmöglich, gesprochene Sprachen auf Karten voneinander abzugrenzen.»

Dort, wo verwandte Sprachen ohne Dialekt­kontinuum aufeinander­prallen – etwa Standard­deutsch und Standard­niederländisch, oder eben Standard­ukrainisch und Standard­russisch –, tun sie es erst einmal aus politischen Gründen: weil man eine Sprache standardisiert und als offizielle Sprache eines Staates definiert hat, deren offizieller Status dann auch an dieser Staats­grenze endet.

Politisch kann auch sein, wie man eine Sprache standardisiert. Als ein Sprach­wissenschaftler 1918 erstmals Orthografie und Grammatik der belarussischen Standard­sprache festgeschrieben habe, sei er auf Abstand zum Russischen bedacht gewesen, sagt Jan Patrick Zeller, Professor für Slawische Sprach­wissenschaft an der Universität Greifswald, zur Republik. Später, zu Stalins Zeiten, habe man, umgekehrt, diese Norm wieder dem Russischen angenähert und auch die ukrainische Standard­sprache dem Russischen ähnlicher gemacht: So entstand eine politisch hergestellte sprachliche Nähe, die heute wiederum Wladimir Putin politisch instrumentalisiert.

Es gibt sie auch, die natürlichen Entwicklungen, die Grenzen zwischen Standard­sprachen verstärken: Politische Grenzen können durchaus auf sprachliche Merkmale zurückwirken, wie es übrigens auch geografische oder konfessionelle Grenzen tun, die (häufig) Sprach­kontakte verringern. In stärkerer Isolation bewahrt ein Gebiet mal ältere Formen, die ein anderes verliert, mal entwickelt es neue.

Auch kann die Standard­sprache auf gesprochene Dialekte abfärben: In der Schweiz etwa geht der Gebrauch mancher Dialekt­wörter wie Fifalter oder Summervogel zurück, und zwar zugunsten einer Form, die der Standard­deutschen entspricht: Schmätterling. In manchen Gebieten gehen die Dialekte zugunsten der Standard­sprache sogar unter. Aber auch da, wo nur noch die ältere Bevölkerung (oder niemand mehr) Dialekt spricht, ist die Standard­sprache typischer­weise nicht homogen, sondern variiert zwischen Menschen, zwischen Dörfern.

So sind auch die Sprachgrenzen, die sich offiziell und in der kollektiven Wahrnehmung mit Staats­grenzen decken, unscharf.

Nicht jede lebt da, wo ihre Mutter­sprache überwiegt

Solche Grenzen verschwimmen zusätzlich, weil Menschen dies- und jenseits von ihnen leben. Da, wo der oft zitierte Graben zwischen der deutsch- und der französisch­sprachigen Schweiz liegen könnte, gibt es zwar kein Dialekt­kontinuum, aber ein Graben liegt da eben auch nicht: Menschen deutscher und Menschen französischer Mutter­sprache leben mal in derselben Stadt, mal im selben Quartier zusammen. Romands leben in Ortschaften, deren offizielle Sprache Deutsch ist, et vice versa. Grenze und Graben sind eine Abstraktion der sprachlichen Realitäten.

Nun kam es immer wieder vor, dass ein Macht­haber solche Realitäten aus ideologischen Gründen loswerden wollte. Und die Realität kann durchaus so verändert werden, dass Sprach- und Staats­grenzen zusammen­passen. Aber nur gewaltsam:

Indem man Menschen umsiedelt oder vertreibt. Das sind dann aber wiederum politisch geschaffene Grenzen, die mit der Sprache selbst nichts zu tun haben.

Oder indem man Gebiete, wo eine bestimmte Sprache dominiert, mit propagandistischen und militärischen Mitteln einnimmt:

Wie das Adolf Hitler 1938 tat, als er das Sudetenland annektierte unter dem Vorwand, die (mehrheitlich) deutsch­sprachigen tschecho­slowakischen Bürger in dieser Region seien erst einmal Deutsche.

Und wie das Wladimir Putin 2014 tat, als er die Halbinsel Krim annektierte, und 2022, als er die Provinzen Donezk und Luhansk für unabhängig erklärte unter dem Vorwand, die (mehrheitlich) russisch­sprachigen ukrainischen Bürger in diesen Regionen seien erst einmal Russen.

Diese Vorstellung der kollektiven Identität entstand im späten 18. Jahrhundert, als Deutschland noch kein Staat war, sondern eine fragmentierte Landschaft deutsch­sprachiger Regionen. «Für die deutschen Intellektuellen der romantischen Epoche existierte die deutsche Nation, weil sie eine gemeinsame Sprache hatte», sagt der Slawist Sériot. Die Nation war also natürlich gegeben und existierte damit erst einmal unabhängig von staatlichen Strukturen: «Die Sprache macht die Nation.» Für die französischen Jakobiner dagegen war die Nation ein politisches Projekt – und damit automatisch ein Staat –, das eine zum Standard bestimmte Sprache gegenüber den Dialekten durchsetzen darf und muss: Die gemeinsame Sprache resultiert daraus, dass die Nation gebildet wurde.

Nun sind diese Vorstellungen, werden sie grosszügig ausgelegt, durchaus nachvollziehbar:

Eine offizielle Standard­sprache dient der über­regionalen Verständigung. Wir brauchten eine administrative Sprache, eine Sprache der Gesetze und der Schulen, sagt Sériot – aber so, dass die gesprochene Sprache und lokale Dialekte weder ausradiert noch stigmatisiert werden.

Und Menschen, die ähnlich sprechen wie wir selbst, fühlten wir uns automatisch verbundener, sagt Zeller: «Wenn ich als norddeutsch Geborener etwa in der Schweiz bin und da jemand etwas Nord­deutsches sagt, dann empfinde ich, dass der irgendwie zu mir gehört.»

Für eine sehr grosszügige Auslegung der Vorstellung «eine Sprache, eine Nation, ein Staat» gibt es auch viele Beispiele, ganz besonders in Europa, dessen National­staaten oft nach diesem Muster entstanden sind – mit der Schweiz, die sich als Willens­nation definiert, als prominentem Gegenbeispiel.

Aber es sei «eine extrem gefährliche politische Ideologie, die sprachliche Zugehörigkeit höher zu stellen als die staats­bürgerliche», sagt Sériot. «Wenn der russische Präsident russisch­sprachige Ukrainer seine ‹Landsleute› nennt, ist das genau so, als würde der französische Präsident Menschen in der Romandie seine Landsleute nennen, weil sie Französisch sprechen.»

Sprache mag uns verbinden, prägen und zu unseren Identitäts­gefühlen beitragen. Sie tut es aber für jede und jeden unterschiedlich stark.

Aus sprachwissen­schaftlichen Experimenten weiss man, dass Identitäts­gefühle, Empathie­fähigkeit und Empfindungen einer Sprecherin gegenüber einer bestimmten Fremdsprache – hochgradig individuelle Dinge – mitbestimmen, wie stark ihr fremd­sprachlicher Akzent in dieser Sprache ausfällt. Aus sprach­wissenschaftlichen Umfragen weiss man, dass sich Menschen ganz unter­schiedlichen Räumen zugehörig fühlen: deutsch­sprachige Bernerinnen etwa primär der Schweiz, französisch­sprachige zunächst der Romandie und Europa (und dann erst der Schweiz).

Manche deutschsprachige Freiburger störte es sehr, als der Bahnhof nur mit Fribourg – und noch nicht mit Fribourg/Freiburg – angeschrieben war. Andere störte es ein wenig, noch andere gar nicht. Wo man gefühlt hingehört, kann mit Sprache zu tun haben, muss es aber nicht. Die mehrsprachige Schweiz ist vielleicht eines der besten Beispiele hierfür.

Die Mehrheit der Menschen ist mehrsprachig

Wenn er in der Ukraine auf den Markt gehe und auf Russisch Kartoffeln bestelle, antworte man ihm manchmal auf Ukrainisch, manchmal auf Russisch, sagt der Slawist Patrick Sériot zur Republik. «Aber bevor ich hingehe und rede, weiss ich nicht, wie der Gemüse­bauer zu mir sprechen wird.»

Das nicht nur, weil Menschen beider Mutter­sprachen in denselben Orten wohnen und auf denselben Märkten Kartoffeln verkaufen. Sondern auch, weil die Mehrheit der Ukrainerinnen zweisprachig ist, also Ukrainisch und Russisch kann. Mal das eine besser, mal das andere, mal beides etwa gleich gut.

Ukrainer seien «eine Nation von code-switchers», sagte der Historiker und Osteuropa-Experte Timothy Snyder kürzlich zu «Vox»: von Sprechern, die fliessend von der einen in die andere Sprache wechseln, oft auch im selben Gespräch oder im selben Satz. Von Sprecherinnen, wie sie in bilingualen Regionen auf der ganzen Welt üblich sind.

Besonders in Europa dominiert seit der Entstehung der National­staaten die verzerrte Vorstellung des grundsätzlich einsprachigen Menschen, der in einem einsprachigen Staat lebt. Die weltweite Realität ist anders: Mehr als die Hälfte der Menschen dürfte zwei oder mehr Sprachen sprechen. Einsprachigkeit ist eher die Ausnahme als die Norm.

Die meisten Ukrainerinnen sprechen zusätzlich eine Mischform: Surschyk, das je nach Gesprächs­situation stärker vom Ukrainischen oder stärker vom Russischen geprägt ist. Dabei sei Sprechern nicht immer bewusst, welche Sprache sie gerade verwendeten, sagt Sériot: «Wenn man sie fragt, sagen manche, das sei Ukrainisch, auch wenn sie gerade Surschyk sprachen.»

Spätestens hier wird klar: Territoriale Ansprüche und Grenz­ziehungen aufgrund sprachlicher Verhältnisse sind aus linguistischer Sicht irrsinnig (und sprach­geografische Umfragen und Statistiken in diesem Gebiet sind mit viel Vorsicht zu betrachten).

Wenn es rund um diese Sprach­verhältnisse Konflikte gibt, war da typischer­weise zuerst ein politischer Konflikt. «Die Sprachen werden dann benutzt, um für den Konflikt ein Symbol zu haben», sagt der Slawist Jan Patrick Zeller.

Zum Beispiel von russischer Seite, als 1863 der Innen­minister des russischen Reichs – nicht etwa ein Minister für Bildung oder Wissenschaft – die zunehmende Entwicklung der ukrainischen Sprache und Literatur per Dekret einschränkte und ukrainisch­sprachige Publikationen verbot, die sich an die breite Bevölkerung richteten. Sprache, so das Signal, ist eine Frage der innen­politischen Sicherheit. Auf ähnliche Weise unterbanden die Zaren auch andere Sprachen, deren Sprecher sie als Bedrohung wahrnahmen.

Nach einer kurzen Phase einer frühsowjetischen liberalen Sprach­politik folgte unter Stalin eine erneute Repressions­welle: Die Sprache der Administration und des Militärs zum Beispiel musste Russisch sein. Um eine gute Kommunistin zu sein, musste man Russisch sprechen. «Und in der Ukraine sind sehr viele Menschen, die sich für ihre Sprache eingesetzt haben, einfach getötet worden», sagt Jan Patrick Zeller.

So konnte sich das Russische im ostslawischen Raum lange Zeit als alleinige Prestige­sprache halten. Als die Sowjetunion in den 1950er-Jahren die freie Wahl der Schul­sprache eingeführt habe, hätten sich die meisten Eltern für das Russische entschieden, «weil es als die zukunfts­weisende Sprache galt», sagt Zeller. In Belarus sei das Belarussische gegenüber dem Russischen ohne spezifische Förderung nach wie vor fast chancenlos.

In der Ukraine hat die Politik das Ukrainische aktiv gefördert. Es wurde kurz vor der ukrainischen Unabhängigkeit, 1989, zur einzigen Amts­sprache im Land. Das Russische und Minderheiten­sprachen konnten in Provinzen, in denen mindestens 10 Prozent der Bevölkerung sie als Muttersprache angeben, seit 2012 zu offiziellen Amts­sprachen gemacht werden – seit 2019 sind sie aber nur noch als nicht offizielle Regional­sprachen vorgesehen.

Das neue Sprachgesetz von 2019 bestimmte das Ukrainische auch zur Default-Sprache in der breiteren Öffentlichkeit: Lehrerinnen, Gesundheits­personal, Verkäufer sollen ihr Gegenüber auf Ukrainisch ansprechen, es sei denn, das Gegenüber wünscht explizit, ins Russische zu wechseln. Publikationen müssen, sofern sie nicht sowieso auf Ukrainisch erscheinen, übersetzt werden. (Inwiefern das Gesetz in der Realität bisher tatsächlich umgesetzt wurde, ist unklar, und in informellen Gesprächen reden die Menschen selbstverständlich so, wie sie möchten.)

Damit ist das Prestige des Ukrainischen gestiegen. Zugleich entstanden durch solche Massnahmen wiederum Verletzungen, diesmal bei manchen russisch­sprachigen Ukrainern. «Die Geschichte zeigt, dass man mit Demütigungen meist schlechte Resultate erreicht – egal, um welche Sprachen es geht», sagt Patrick Sériot von der Universität Lausanne.

Wie angespannt die Debatte in manchen Gruppen geführt wird, zeigt das Beispiel des Social-Media-Shitstorms, der McDonald’s im Sommer 2020 dafür anprangerte, seine Speise­karten nur noch auf Ukrainisch und Englisch anzubieten und nicht mehr auf Russisch.

Und das zeigen auch sprach­politische Plakate aus dem Jahr 2012, die Sériot dokumentierte:

«Zone der ukrainischen Sprache» druckten diejenigen, die das Ukrainische als einzige Amtssprache beibehalten wollten.

«Ich bin Ukrainerin und spreche meine Mutter­sprache: Russisch!» schrieben jene, die für das Russische als zweite Amtssprache plädierten.

Und in einer Internet-Community kursierte dann eine verfälschte Version davon: «Ich bin eine Schlampe und spreche meine Mutter­sprache: Russisch!»

Die meisten Ukrainer, sagt der Slawist Zeller, störten sich aber seiner Erfahrung nach nicht an der sprachlichen Vielfalt: «Viele wären sogar einverstanden gewesen, das Russische in manchen Regionen als gleich­berechtigte Amtssprache zu belassen.» Wie gesagt: Es ist erst einmal ein politisch getriebener Konflikt um Territorium und Identität, in dem zwei Seiten die Sprachen lange für nationalistische Zwecke instrumentalisierten.

Er werde in letzter Zeit häufig gefragt, ob Ukrainisch ein patois, ein Dialekt des Russischen sei, sagte der Slawist Sériot in einer Vorlesung in Lausanne. Die Frage zeigt, wie stark sich Putins Erzählung auch im Westen verbreiten konnte. Denn gemäss seiner (wieder falschen) Erzählung hat sich die ukrainische Sprache aus dem Russischen heraus­gebildet, und deshalb gehört eigentlich auch gleich der ganze ukrainische Staat zu Russland. Damit erhebt er dann auch über mehrheitlich russisch­sprachige Gebiete hinaus Anspruch auf die gesamte Ukraine – und mehr.

Denn was sich Putin zurückwünscht, ist nicht die Sowjetunion. Er sehne sich nach einem Imperium, das viel weiter zurückreicht: nach dem Russischen Reich, sagte kürzlich Masha Gessen, journalistisch und schrift­stellerisch tätig, zur «New York Times»: «Gespräche, Politik und rechtliche Vereinbarungen wertet Putin ab. Er beschwört das Bild eines natürlichen, vielleicht sogar mystischen Staats. Es gibt ein Ding, das ist, und er weiss, was dieses Ding ist: eine Einheit aus Russen und Ukrainern. Und wenn er ‹Einheit› sagt, meint er eigentlich die Nicht­existenz der Ukrainer. Es sind dann alles Russen.»

Sprache prägt, aber sie definiert uns nicht

Sprache entzieht sich der Kategorisierung. Viele Politikerinnen verstünden das nicht und behandelten Sprachen gern analog zu dem, was sie aus der Natur­wissenschaft kennten, sagt der Slawist Sériot. Natürlich könne man problemlos die nördliche Grenze der Olivenbaum­kultur bestimmen. Aber eben nicht die westliche Grenze der russischen Sprache.

Menschen sind keine Pflanzen, sind nicht an ein Territorium gebunden.

Menschen und ihr Denken werden auch nicht durch die Sprache bestimmt, die sie sprechen. Sie treffen als Individuum persönliche Entscheidungen und haben als Kollektiv einen demokratischen Willen.

Die ukrainische Bevölkerung hat ihn geäussert: etwa 1991, als sich mehr als 90 Prozent für die ukrainische Unabhängigkeit aussprachen, und insbesondere die Mehrheit jeder einzelnen Provinz. Oder bei Versuchen zweier ihrer Präsidenten, mehr Macht zu erlangen, und sie sich bei Protesten auf dem Maidan-Platz dagegen wehrte.

Wladimir Putins Erzählung ist mächtig, und sie strahlt offensichtlich bis in den Westen aus. Aber Menschen reagieren auf Geschichten nicht immer so, wie sich das Politiker vorstellen: Seit dem russischen Einmarsch von 2014 beobachtet der Historiker Snyder eine langsame Verlagerung der Präferenzen vieler Sprecherinnen zugunsten des Ukrainischen. «Das, was Putin behauptet, schützen zu wollen – die russische Sprache –, wird also durch seine eigenen Handlungen verletzt.»

Kampagnen-Logo

Unabhängiger Journalismus lebt vom Einsatz vieler

Artikel wie diesen gibt es nur, wenn genügend Menschen die Republik mit einem Abo unterstützen. Kommen Sie bis zum 31. März an Bord!

Wählen Sie Ihren Einstiegspreis
Ab CHF 120 für ein Jahr