Mit russischer Power gegen die Kälte: Ein Zeichen von Gazprom nahe Nowy Urengoi in Westsibirien, eine Stadt, die in den 1980er-Jahren vom weltgrössten Erdgasunternehmen gebaut wurde. Justin Jin

Putin + Klimakrise = 🤯

Steigende Energiepreise könnten Europa politisch sprengen – ausgerechnet in einer Zeit, in der die Dekarbonisierung so nötig ist wie nie zuvor. Die Situation ist hochgefährlich – aber nicht ausweglos.

Von Elia Blülle, 25.03.2022

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Ein Anstieg von zwei oder drei Grad wäre für ein nördliches Land wie Russland nicht so schlimm. Wir müssten weniger für Pelzmäntel ausgeben.

Wladimir Wladimirowitsch Putin, World Conference on Climate Change, 2003.

Der Gaspreis steigt und steigt und steigt. In der Schweiz kostet Benzin so viel wie noch nie. Kerosin und Heizöl werden auch immer teurer. Und sollte der russische Präsident und Quasi­diktator Wladimir Wladimirowitsch Putin bald endgültig den Gashahn zudrehen, würden die Preise weiter in die Höhe schiessen.

Nun könnte das eigentlich eine gute Entwicklung sein, denn wir müssen uns sowieso von fossilen Energie­trägern verabschieden. Steigen die Preise für Öl und Gas, werden erneuerbare Energie­formen attraktiver – umso besser.

Bloss: So einfach ist es nicht.

Steigende Energie­preise könnten Europa politisch sprengen. Eine wirksame Klima­politik wäre für Jahre vom Tisch: CO2-Steuern ein Tabu, grüne Technologien verhindert, die Dekarbonisierung verlangsamt.

Beim Krieg, den Putin gegen die Ukraine führt, geht es nicht nur um Grossmachts­fantasien, Zerstörung und Geopolitik. Es geht auch um die Klimakrise – und um Russlands hochgefährliche Rolle im Umgang damit.

Eskalation statt Kooperation

An der letztjährigen Klima­konferenz in Glasgow waren sich fast alle Staaten einig, dass die kommenden acht Jahre darüber entscheiden, wie und vor allem unter welchen Bedingungen künftige Generationen auf diesem Planeten leben werden. Der wissenschaftliche Klimarat betont im neusten Sachstands­bericht, es brauche jetzt Massnahmen, um irreversible Schäden bei Mensch und Umwelt zu verhindern. «Wir haben nur ein kleines Zeitfenster», warnte der Ökologe Hans-Otto Pörtner als Co-Vorsitzender des Klimarats.

Dass sich Russland – beziehungs­weise Putin – gerade in die Selbst­isolation bombt, hat die Aussichten noch einmal verdüstert.

Um die Pariser Klimaziele einzuhalten, müssten sich nämlich insbesondere jene Gross­mächte über eine schnelle Dekarbonisierung einigen, die gemeinsam mehr als die Hälfte aller globalen CO-Emissionen verantworten: China, die USA, Indien und – Russland. Künftig werden diese Länder aber nur noch im Schatten von Kriegs­verbrechen miteinander sprechen. Feind oder Freund. Wer nachgibt, verliert. Eskalation statt Kooperation. Ein kalter Krieg.

Die Gefahr dabei: Russland könnte künftig gemeinsam mit verbündeten Staaten Klimaschutz­verhandlungen in den Vereinten Nationen komplett blockieren, wie das in der Vergangenheit schon geschehen ist. Diplomatie als Provokation. Die ukrainische Umwelt­ministerin fordert deshalb, Russland ganz aus dem Klima­abkommen auszuschliessen. Eine weitere Blockade der Verhandlungen würde den kläglichen, langsamen Niedergang des Pariser Klima­abkommens bedeuten, das die globale Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius im Vergleich zur vorindustriellen Zeit begrenzen will.

Neu wäre die russische Verweigerung in der Klima­politik allerdings nicht.

Wichtige Repräsentanten der Russischen Akademie der Wissenschaften gebärden sich schon lange als Klima­skeptiker. Viele Politikerinnen und Akademiker sehen in der Klimakrise eine vom Westen erfundene Verschwörung, um Russland zu schwächen. 2018 sagte Putin, die Erde erwärme sich durch «kosmische Veränderungen, irgend­welche Verschiebungen in der Galaxie, die für uns unsichtbar sind».

Putin selbst hat zwar vergangenes Jahr die Klima­neutralität Russlands bis 2060 angekündigt. Unternommen aber hat er bisher nichts. Die jüngst verabschiedete «Energie­strategie» enthält keine einzige Massnahme zur CO-Senkung. Stattdessen setzt Putin vollständig auf Gas, Öl und Kohle.

Das ist aus seiner Perspektive nachvollziehbar: Die angestrebte Dekarbonisierung ist für Putin ein hochgradig persönliches Thema.

Ein Russland ohne Fossile ist ein armes Russland

Fossile Energie­träger sind de facto die einzigen Ressourcen, die Russland noch hat. Heute steht das Land bei den weltweiten Gasexporten an erster, bei den Ölexporten an zweiter und bei den Kohle­exporten an dritter Stelle.

Für Putin ist das Fluch und Segen zugleich.

Ein Fluch, weil das Land über keine Alternative zu den fossilen Energie­trägern verfügt. Sobald die Nachfrage im Ausland abnimmt, ist Russland ohne Öl- und Erdgas­exporte ein armes Russland.

Ein Segen, weil vor allem das Erdöl die Autokratie finanziert und das Gas neben den Atom­bomben das wichtigste von Putins Droh­mitteln ist. Seit den 2000er-Jahren hat Russland diverse Länder mit Pipelines an sich gebunden.

In Putins Energiestrategie heisst es ausdrücklich, dass «Energie­exporte dazu beitragen sollen, die Aussen­politik des Landes zu fördern».

Was Putin unter «Aussenpolitik» versteht, hat er in den letzten Wochen und Monaten klargemacht. Seit einem Jahr spielt er mit dem Gashahn. Der Staatskonzern Gazprom drosselte letztes Jahr die Lieferungen, und die EU-Staaten konnten im Sommer ihre Speicher nicht auffüllen. Noch im Herbst deuteten Experten die Verknappung als Erpressungs­versuch, um eine schnelle Zertifizierung der Gaspipeline Nord Stream 2 herbeizuführen.

Heute wissen wir: Putin bereitete einen Energie­krieg vor.

Erst diesen Februar erklärte die EU-Kommission Erdgas für «nachhaltig»; es ist ungefähr ein Viertel weniger klimaschädlich als Erdöl. Bis vor kurzem hat Frankreich Gas­heizungen mit staatlichen Geldern subventioniert. Das russische Gas hätte in Europa die grüne Wende mit billiger Breitband­energie absichern sollen. Noch im Jahr 2020 warteten in den europäischen Ländern insgesamt über 100 Milliarden Euro darauf, in Gasprojekte investiert zu werden. So viel Geld, dass man damit acht neue Gotthard-Basis­tunnel bauen könnte.

Nun ist die Strategie, Erdgas als «nachhaltige» Brücken­technologie zu nutzen, in sich zusammen­gefallen wie ein lausig gebackenes Soufflé.

Durch die Gaspipeline Nord Stream 2, «eine gefährliche geopolitische Waffe des Kreml» (O-Ton des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski), wird wohl nie Erdgas strömen. Das Projekt ist sistiert. Ein 9-Milliarden-Euro-Loch. Stattdessen setzten die europäischen Regierungen auf Kohle und importieren teures Flüssig­gas aus Katar, das neue Abhängigkeiten schafft, die ebenso gefährlich sind. Kohle­kraftwerke werden in Deutschland (und auch anderswo) länger betrieben als geplant.

Das wird die europäische Klima­bilanz in den kommenden Jahren verhunzen. Trotzdem will die Europäische Union nun vorwärts­machen. Das Ziel: Noch «deutlich vor 2030» sollen die EU-Mitglieder auf russisches Gas verzichten.

In Deutschland, das sich mit Gas durch den Winter heizt, haben die Ministerien ein ganzes Paket neuer Gesetzes­entwürfe vorgestellt. Der Ausbau von erneuerbaren Energien soll noch einmal massiv beschleunigt werden, die Zahl der Wind­räder zu Land und auf See vervielfacht werden. Bis 2026 wollen die Deutschen umgerechnet zusätzliche 200 Milliarden Franken in den Klima­schutz und die grüne Energie­wende investieren.

«Eine verantwortungsvolle, voraus­schauende Energie­politik ist nicht nur entscheidend für unsere Wirtschaft und unser Klima», sagte der deutsche Bundes­kanzler Olaf Scholz. «Sondern entscheidend auch für unsere Sicherheit.»

Der Russland-Ukraine-Krieg schweisst Europa über fast alle politischen Lager zusammen. Die Energiewende ist nicht mehr nur eine Utopie von Birkenstock­trägern, sondern elementare Sicherheits­politik. Heute sind politische Massnahmen möglich, die gestern noch keine Mehrheit fanden.

Gute Nachrichten in düsteren Zeiten. Doch es folgt ein fettes Aber.

Putins Krieg hat die Gas- und Erdölpreise auf ein so hohes Niveau katapultiert, dass sie die Energie­wende auszubremsen und die Ärmsten in Europa in eine finanzielle Misere zu stürzen drohen.

Und das ist eine der gefährlichsten Rollen, die Putin spielt: Er kann Europa in eine politische Krise zwingen, die es nicht nur grundsätzlich schwächt – sondern die auch die gesamte Klima­politik auf Jahre hinaus lahmlegt.

Steigt der Ölpreis, droht die Inflation

Um zu verstehen, wieso es zu früh für Jubel­stimmung ist, muss man sich damit beschäftigen, wie Inflation und Energie­preise zusammen­hängen.

Fast alles, was wir gegen Geld konsumieren, seien es Güter oder Dienst­leistungen, entsteht heute durch den Einsatz von Energie. Bis zum Beispiel der Morgen­kaffee in die Tasse tröpfelt, sind Dutzende Arbeits­schritte nötig, bei denen Strom, Benzin und Kerosin verbraucht werden. Sie halten unsere Wirtschaft am Leben wie ein schlagendes Herz.

Steigen die Preise für Öl oder Gas, treibt das auch die Inflation an.

Inflation herrscht, wenn man heute für ein Kilo Kaffee­bohnen 10 Franken bezahlt, morgen aber für das gleiche Kilo 2 Franken mehr – und das bei vielen Produkten und Dienst­leistungen gleichzeitig. Es ist ein allgemeiner Anstieg des Preisniveaus.

Energie aus Narjan-Mar: In der Stadt nördlich des Polarkreises haben einige Öl- und Gasunternehmen ihren Hauptsitz. Justin Jin

Wird Energie teurer, wird alles teurer. In den letzten Monaten haben sich die Energie­kosten durch ganze Volks­wirtschaften gefressen. In vielen Ländern ist die Inflations­rate so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Im Vergleich zum Vorjahr beträgt sie im europäischen Wirtschaftsraum hohe 5,9 Prozent.

An den Finanzmärkten wird deshalb eine Leitzins­erhöhung der Europäischen Zentralbank mittlerweile nicht mehr ausgeschlossen. Das würde bedeuten: Wer Geld ausleihen will, müsste dafür mehr Zinsen bezahlen.

Florian Egli, Ökonom an der ETH Zürich, sagt, die Inflation habe einen über­proportionalen Effekt auf erneuerbare Energien. Er hat an einer Studie mitgearbeitet, die zeigt, dass in Deutschland die Kosten für Solar­anlagen um 11 Prozent und für Windkraft­projekte um 25 Prozent steigen könnten, sollten die Zinsen wieder ein so hohes Niveau erreichen wie vor der Finanzkrise.

Bedenklich ist das vor allem, weil die erneuerbaren Energien sich gerade erst durchsetzen. Die Internationale Energieagentur prognostizierte 2020, dass erneuerbare Energien bald ohne Subventionen auskommen würden. Regierungen und Industrie­verbände in ganz Europa denken darüber nach, die Förder­massnahmen in den kommenden Jahren auslaufen zu lassen.

Nun nimmt die Attraktivität von grünen Investitionen wieder ab. Das Risiko ist zu gross. Die Internationale Energie­agentur schrieb deshalb bereits im Dezember, dass hohe Rohstoff­preise, Inflation und steigende Zinsen die Energie­wende verlangsamen und deren Kosten erhöhen könnten.

Das allein wäre schon tragisch genug.

Die Lage würde aber zusätzlich verschlimmert, wenn aufgrund der Energie­preise auch die europäischen Klimaziele unter Beschuss gerieten.

Und das werden sie.

Für die Ärmsten wird es am teuersten

Das Herzstück der europäischen Klima­politik ist der Emissions­handel. Energie­wirtschaft und Industrie müssen für jede Tonne CO2, die sie verursachen, Emissions­rechte kaufen. Es gilt das Verursacher­prinzip: Wer dreckelt, muss zahlen. Richtig umgesetzt, würden so alle anderen Massnahmen obsolet. Der Markt spielte seine Wucht aus – ohne Verbote, übermässige Staats­interventionen und Bürokratie. So die Theorie.

Doch seit seiner Einführung 2005 war der europäische Emissions­markt mehr oder weniger nutzlos. Die Preise für die Emissions­rechte lagen viel zu tief und erzeugten keine Wirkung. Es war, als wollte man den Amazonas umlenken – mit ein paar wenigen Sand­säcken.

Das ändert sich nun. Letzten Juli hat die EU-Kommission Gesetzes­vorschläge präsentiert, mit denen sie die 27 Mitglieds­staaten in das klimaneutrale Zeitalter führen will. Unter anderem soll neben dem bestehenden EU-Emissions­handel ein zweiter Markt für Verkehr und Gebäude entstehen. Der bereits bestehende Emissions­handel, etwa für Kohle­konzerne, soll verschärft werden.

Davon angetrieben, hat sich der Preis für Emissions­rechte seit 2020 vervierfacht. Endlich wirkt der Markt. Dämme statt Sandsäcke.

Doch die Preissteigerungen haben auch Gegner. Die Feinde von Reformen und Klima­zielen gewinnen mit jedem Rappen an Zuwachs. Die «Financial Times» spricht von einem regelrechten «Oppositions­sturm».

So fordert etwa die konservative EVP, die grösste Fraktion im Europäischen Parlament, eine Notbremse gegen zu schnell steigende Zertifikats­preise.

Die Regierungen von Ungarn, Tschechien und Polen verlangten bereits im Herbst, Europa müsse seine Klima­politik überdenken. Der ungarische Premier­minister Viktor Orbán bezeichnete sie als eine «utopische Fantasie».

Der luxemburgische Umwelt­minister erklärte, seine Regierung werde sich einer Ausweitung des Emissions­marktes auf Autos und Gebäude widersetzen, «da dies die Gefahr birgt, einkommens­schwächere Bevölkerungs­schichten zu bestrafen». Auch die Umweltschutz­organisation Greenpeace sagte, das neue Emissions­handels­system «könnte ärmeren Haushalten schaden».

Tatsächlich könnte eine Ausweitung des Emissions­handels die Energie­preise weiter ankurbeln. Eine Modellierung von «Cambridge Econometrics» schätzt, dass sich die Kosten für französische Gasheizungen in den nächsten zehn Jahren fast verdoppeln werden und kohle­beheizte Haushalte in Polen mit einem Preisanstieg von 188 Prozent rechnen müssten.

Kommt hinzu: Steigt das allgemeine Preis­niveau, also die Inflation, trifft das die sozialen Schichten ungleich. Ärmere Menschen haben keine Reserven. Jeder Rappen zählt. Das wird rasch existenz­bedrohend.

Passen jetzt die Regierungen nicht auf, schlittert bald auch die untere Mittel­schicht in die Armut. Und Menschen, die frieren, ihre Strom­rechnungen oder das Benzin nicht bezahlen können, werden keine teure Energie­wende unterstützen.

Sollte Putin seine Drohung wahrmachen und die Pipeline Nord Stream 1 schliessen, würden die Gaspreise den Rest erledigen: Die europäische Klima­reform wäre ernsthaft bedroht.

Auftrieb für die Anti-Klima-Rechte

Welche politische Sprengkraft hohe Energie­preise haben, zeigten die gilets-jaunes-Proteste in Frankreich 2018 eindrücklich. Sie wurden durch anonyme Facebook-Beiträge gegen die neue Ökosteuer auf Benzin losgetreten. Angeheizt von russisch gelenkten Trollen und Putins Staats­medien wie Sputnik und RT, die Propaganda übers Netz verteilten.

Zehntausende zogen durch die Strassen von Paris – es gab gewalt­tätige Ausschreitungen, Dutzende Schwer­verletzte und auch Tote.

Im Moment tritt die europäische Politik noch geeint auf. Aber das kann sich rasch ändern. In Frankreich sind bald Wahlen, die extreme Rechte klopft an die Pforte des Élysée-Palasts. Überall versuchen klima­skeptische Kräfte, die steigenden Energie­preise den ökologischen Steuern in die Schuhe zu schieben – und sie beginnen bereits heute damit, die Millionen Flüchtenden aus der Ukraine für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

Mit Putin spielt ein Autokrat mit der europäischen Energie­versorgung, der ein Interesse daran hat, die Dekarbonisierung weiter zu verzögern. Er wird auch in Zukunft wieder jene Kräfte in Europa unterstützen, die sich in der Vergangenheit mit ihm verbündeten. Es sind die gleichen, die seit 30 Jahren die Energie­wende und jegliche Klima­politik vehement bekämpfen.

Etwa Nigel Farage. Der britische Brexit-Politiker brach schon Interviews ab, als ihn Journalisten nach seinen Beziehungen zu Russland fragten. Putin lobte er einst als den «besten politischen Führer der Welt». Jetzt lanciert er eine neue Bewegung, die ein Referendum über die britischen Netto-null-Ziele fordert. In einem Kommentar schrieb er: «Netto null ist netto dumm.»

Die rechtsextreme deutsche AfD, bekannt für ihre Nähe zu Putin, versucht den Anstieg des Benzin­preises der neuen deutschen CO2-Steuer anzuhängen. «Weg mit der CO2-Steuer, weg mit der Ökoabgabe. Die Bundes­regierung muss die Bürger entlasten», fordert die Fraktions­vorsitzende von der Bundes­regierung.

Und die französische Präsidentschafts­kandidatin Marine Le Pen sagte, dass sie im Falle ihrer Wahl alle Subventionen für erneuerbare Energien streichen und die Windkraft­anlagen in Frankreich abbauen würde. Wenige Tage nach Kriegs­ausbruch liess Marine Le Pen 1,2 Millionen Wahlkampf­flyer schreddern, die sie lächelnd beim Handschlag mit Putin zeigten.

Der Russland-Ukraine-Krieg rückt die Verkettung zwischen fossilen Energie­trägern, Autoritarismus und extremem Populismus so offen ans Licht wie noch nie. Er zeigt: Die Dekarbonisierung ist nicht nur eine ökologische Angelegenheit, sondern auch eine Frage der Demokratie.

Subventionen für eine tote Industrie

Mit Putin erpresst ein Autokrat Europa, der schon seit 20 Jahren viel Geld in die Spaltung des Kontinents investiert.

Möglich ist das nur, weil die europäischen Regierungen, Parlamente und Wählerinnen – die Schweiz inklusive – blind darauf vertrauten, dass sich die Märkte irgendwann irgendwie bewegen und die Dekarbonisierung voran­treiben würden.

Das Resultat waren 30 Jahre gähnende Nicht­politik.

Ein Beispiel: Zwischen 2010 und 2021 stieg der Anteil von SUV am europäischen Automarkt von 10 Prozent auf beinahe 50 Prozent. In der Schweiz ist fast jedes zweite neu verkaufte Auto ein Gelände­wagen. Besonders in Deutschland, aber auch in der Schweiz, blieb der Verkehr faktisch unangetastet.

Die Ironie: Jetzt, wo sich die Märkte endlich bewegen, das Autofahren, das Heizöl und das Gas teurer würden, droht ein massiver politischer Backlash. Die exorbitanten Preise könnten die Energie­wende ausbremsen und die Menschen in die Armut treiben.

Rekordverdächtig: Die Anlage des Unternehmens Lukoil vor der russischen Arktisküste gilt als nördlichstes Ölterminal der Welt. Justin Jin

Um steigende Armut zu verhindern, planen nun diverse europäische Regierungen, die Gas- und Benzinpreise zu deckeln. Frankreich und Spanien haben die Subventionen für fossile Brennstoffe wieder eingeführt – nur vier Monate nachdem sie auf dem Klima­gipfel deren Abschaffung beschlossen hatten. Und in der Schweiz entschied die Mehrheit des Nationalrats letzte Woche, Benzin und Diesel um 7 Rappen zu vergünstigen.

Das alles ist verrückt. Subventionen für Sprit und Heizöl sind wie Schutzgeld­zahlungen an die Mafia: Für kurze Zeit investiert man in die Sicherheit, aber je länger man zahlt, desto mehr Geld steckt man in den eigenen Untergang.

«Der Tankrabatt ist teuer, schädlich und unsozial», sagte der deutsche Ökonom und Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschafts­forschung Marcel Fratzscher am Wochen­ende im Radio­sender «Deutschlandfunk».

Denn damit wird jede Klimapolitik ad absurdum geführt. Auch nach der Energiekrise werden viele Unternehmen darauf hoffen, dass der Staat bei steigenden Energie­preisen erneut eingreift. Ein fataler Fehlanreiz: Gewinne für die Verschmutzer, das Risiko dem Staat.

Es droht ein ähnliches Debakel wie bereits in der Pandemie: In den ersten vier Monaten 2020 investierten die G-20-Staaten 89 Milliarden Dollar öffentliche Gelder in erneuerbare Energien. Aber 151 Milliarden flossen gleichzeitig in Öl- und Gasfirmen. Die historisch grösste Chance, die grüne Wende voran­zutreiben, platzte rasch und leise wie eine Seifenblase.

Wie können die Regierungen in Brüssel, Bern oder London nun verhindern, dass im Zuge des russischen Krieges wieder dasselbe passiert?

Deutschland macht vor, wie es gehen könnte: Die Regierung hat aufgrund der Energie­krise milliarden­schwere Entlastungen beschlossen. Arme Familien sollen für ihre Kinder bald einen Zuschlag von 20 Euro im Monat erhalten, Empfänger von Sozial­leistungen einmalig 100 Euro ausgezahlt bekommen. Das reicht bei weitem nicht, aber es ist ein Anfang.

In der Schweiz wird die CO2-Abgabe bereits heute über die Kranken­kasse zurückverteilt. Anstatt jetzt Benzin zu subventionieren – eine Massnahme, von der SUV-Fahrerinnen überproportional profitieren –, könnten Bund und Kantone einkommens­schwache Familien über die bereits bestehenden Prämien­verbilligungen stützen. Das spüren Arme sofort im Portemonnaie. Es wäre eine kühne Sozialpolitik, die sowohl die freiheitliche Ordnung Europas als auch die Klimakrise als grösste Heraus­forderungen priorisierte.

Mit ihrem Klimapaket setzt die EU als erste grosse Volks­wirtschaft der Welt ihre Klima­versprechen in konkrete Massnahmen um. Gelingt es und folgen die USA, wird das auch China unter Druck setzen. Das ist wichtig, denn der weitere Verlauf der Erderwärmung hängt vor allem auch von der chinesischen Regierung ab, die über ein Drittel aller globalen Emissionen wacht.

Müssen aber die Ärmsten die Kosten schultern, werden viele klimapolitische Ambitionen scheitern und die hohen Energie­preise Europa politisch spalten.

Und davon würde vor allem einer kräftig profitieren. Er hat sein Büro in Moskau.

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