Binswanger

Die Blitz-Bekehrung der Putin-Fans

Nach dem Angriff auf die Ukraine tun die Diktatoren­verehrer in der Schweiz, Europa und den USA, was sie immer tun: sich geschmeidig aus der Verantwortung stehlen.

Von Daniel Binswanger, 19.03.2022

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Eskalation in rasendem Tempo: Die russischen Kriegs­verbrechen gegen Zivilisten werden immer brutaler, in Mariupol, Charkiw, Kiew. Mit den Stalin-artigen Tiraden von Wladimir Putin, der öffentlich erklärt, das «russische Volk weiss Abschaum und Verräter zu unterscheiden von echten Patrioten», und der eine «Selbst­säuberung» ankündigt. Mit der Biden-Administration, die nicht mehr zögert, die Dinge beim Namen zu nennen, und Putin der Kriegs­verbrechen bezichtigt. Mit den Reden des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski vor den Parlamenten in London, Washington und Berlin, die ihm Standing Ovations einbringen – und den Druck, die militärische Unter­stützung offensiver zu gestalten, noch einmal massiv verstärken.

Wird Putin weiter eskalieren? Wird der Vormarsch auf die Hafen­stadt Odessa demnächst erfolgen? Wird der Westen trotz aller Bedenken schliesslich direkt in die Kampf­handlungen eingreifen? Das konkrete Kriegs­geschehen wirft so dramatische Fragen auf, dass wir uns seinem Bann nicht entziehen können. Nicht entziehen dürfen.

Allerdings steht schon heute fest, dass der Russland-Ukraine-Krieg nicht nur in Osteuropa, sondern in allen westlichen Demokratien zu einer politischen Epochen­wende führt. Auch diese Entwicklung erfolgt in rasendem Tempo – und mit völlig offenem Ausgang. Es geht hier in West­europa nicht unmittelbar um Leben und Tod, aber auch ihre Konsequenzen werden dramatisch sein.

Francis Fukuyama, der Vater der Theorie des Endes der Geschichte, ist überzeugt, dass der Russland-Ukraine-Krieg nicht nur zu einer Niederlage Russlands, sondern zu einer «Wieder­geburt der Freiheit» führen wird. Dass die liberalen, demokratischen Verfassungs­staaten sich ihres eigentlichen Grund­konsenses wieder erinnern und für ihre Werte wieder einstehen werden. Ohne jeden Zweifel sind wir mittendrin in der «Rückkehr der Politik», wie Olivia Kühni diese Woche in einem Republik-Essay ausgeführt hat. Aber wird diese sich wirklich vollziehen als «Wieder­geburt der Freiheit»? Fürs Erste hat diese Wieder­kehr eine äusserst wider­sprüchliche Gestalt.

In einer Identitätskrise sind zunächst einmal die politischen Kräfte am rechten Rand des politischen Spektrums. Das zeigt sich bei Figuren wie Eric Zemmour oder Matteo Salvini, die aus ihrer Putin-Bewunderung keinen Hehl gemacht haben und deren Popularität nun massiven Schaden nimmt. Es zeigt sich aber vor allem in den rechten Establishment-Parteien.

In den USA waren die Republikaner noch bis vor ganz kurzem gespalten in der Frage, ob ihre Loyalität nun der Nato oder Russland gehören soll. Trump hat bekanntlich noch in den ersten Tagen des Ukraine-Überfalls seine Lobes­hymnen auf Putin fortgesetzt. Der Fox-TV-Starmoderator Tucker Carlson betreibt seine Putin-Propaganda weiterhin derart hemmungslos, dass Clips aus seinen Sendungen – auf explizite Empfehlung der Staats­organe – sogar permanent im russischen Fernsehen gezeigt werden. Inzwischen scheint sich die Front etwas zu schliessen, und den offensiven Putin-Verehrerinnen bleibt nichts anderes übrig, als wieder zurück­zurudern.

Die Faszination für den Moskauer Diktator hat sich deshalb aber nicht in Luft aufgelöst: Es gehört zum klassischen Profil des Rechts­populisten, dass er sich innen­politisch als volks­verbunden und urdemokratisch darstellt, aussen­politisch aber ein fast grenzenloses Verständnis für autoritäre Macht­strukturen an den Tag legt. Aussen­politisch hat man schliesslich immer die Ausrede des «Verständnisses für andere Traditionen» und des «Realismus».

Ein grosser Teil der amerikanischen Rechten verehrt Putin für seine reaktionäre Anti-Wokeness, seine repressive Homophobie, seine mörderische Gewalt­tätigkeit gegenüber der politischen Opposition – und nicht zu vergessen für die bizarren Oben-ohne-Inszenierungen von vermeintlicher Virilität. Aktuell jedoch bekommt Putins Feindbild-Rolle zwangsläufig wieder die Oberhand, und die Mehrheit der Republikanerinnen findet zurück zur Real­politik der anti­russischen Falken.

Die eigentlichen Fragen sind damit jedoch noch lange nicht geklärt: Ist die ideologische Affinität nun plötzlich überwunden? Wird ein neuer kalter Krieg mit einem neoimperialistischen Russland wirklich ausreichen, um die disparaten Kräfte des amerikanischen Konservatismus erneut hinter eine gemeinsame Flagge zu scharen?

Ähnlich aufgeladen sind diese Fragen in der Schweiz. Bekanntlich sind auch Teile des rechts­bürgerlichen Establishments in der Wolle gefärbte Putin-Verehrer, auf paradigmatische Weise der SVP-Nationalrat Roger Köppel. Es lohnt sich, die Dimensionen dieses ideologischen Wahns hier noch einmal mit einem Zitat zu beleuchten: «Putin entlarvt den hohlen Moralismus seiner Gegner. Und die Dekadenz des Westens. Während sich unsere Politiker damit befassen, ob Minder­jährige ohne Einwilligung der Eltern bei der Einwohner­kontrolle für siebzig Franken ihr Geschlecht abändern dürfen, fährt Putin mit seinen Panzer­divisionen auf. Botschaft: Es gibt da draussen doch noch so etwas wie eine harte Wirklichkeit der Tatsachen, nicht nur das eingebildete Metaversum der ‹Diskurse› und ‹Narrative›, mit denen man sich die Welt so zurechtlegt, wie man sie gerne hätte. Vielleicht, hoffentlich ist Putin der Schock, den der Westen braucht, um wieder zur Vernunft zu kommen.»

Am putinschen Wesen soll die Welt genesen, sagt ein Mitglied des Schweizer Nationalrats am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine. Will irgend­jemand im Ernst bestreiten, dass solche Ausfälle die Schweizer Institutionen und die internationale Glaub­würdigkeit unseres Landes gravierend beschädigen?

Natürlich kann man einwenden, dass wir uns ja schon an einiges gewöhnt haben und dass es, Gott sei Dank, nicht das Mass aller Dinge ist, was Roger Köppel in der geschützten Werkstatt seiner «Weltwoche» vor sich hinfantasiert. Köppel ist zwar nicht weniger toxisch als Tucker Carlson, aber im Vergleich zu diesem hat er eine bloss mikroskopische Reichweite. Allerdings kommt genau an dieser Stelle der eigentliche publizistische Skandal ins Spiel. Nur zweieinhalb Wochen nach seiner russophilen Hasspredigt gegen die «Dekadenz des Westens» hatte Köppel nämlich erneut einen grossen Auftritt – diesmal allerdings nicht in der «Weltwoche», sondern in der NZZ.

Dass der «Weltwoche»-Chefredaktor einen Gastauftritt hat in der NZZ, ist an sich schon ein absurdes Unding. Allerdings ist das auch schon geschehen, als 2019 ruchbar wurde, dass die «Weltwoche» sich als Propaganda­portal für die Volks­republik China profiliert – und dass zeitgleich, wie die NZZ selber öffentlich gemacht hatte, die Volksrepublik auffällig viele Inserate in der «Weltwoche» schalten liess. Es ist offensichtlich der neue Courant normal des rechts­bürgerlichen Schulter­schlusses: Immer dann, wenn Köppel als hoffnungslos kompromittiertes Sprach­rohr eines autoritären Gewalt­regimes das Gesicht zu verlieren droht, rollt ihm Eric Gujer den roten Teppich aus. So viel zum Begriff von Freiheitlichkeit der «bürgerlichen» Schweiz.

Natürlich hat Köppel jetzt Kreide gefressen, an situativer Biegsamkeit fehlte es ihm schliesslich nie. Seine Putin-Hymnen haben sich augenblicklich in Appeasement-Predigten verwandelt. Jetzt, wo man nicht mehr laut sagen darf, dass man mit schäumender Begeisterung an der Seite des russischen Kriegs­verbrechers steht, muss man sich eben auf die Position zurückziehen, es sei ein fataler «Neutralitäts­bruch», dass die Schweiz sich an Wirtschafts­sanktionen beteiligt. Wenn wir schon nicht mehr Putins Freunde sein dürfen, müssen seine Unter­stützer wenigstens verhindern, dass die Schweiz auch nur im Aller­geringsten mit seinen Feinden assoziiert wird.

Wie kann sich die NZZ, das sogenannte bürgerliche Leitblatt, an so einer Farce beteiligen? Wieso beglaubigt sie die Fiktion, der Putin-Verehrer Roger Köppel liefere satisfaktions­fähige Beiträge zur aktuellen Neutralitäts­debatte?

Die Antwort ist offensichtlich. Eric Gujer ist zwar unzweifelhaft ein Nato-Freund und Atlantist, aber er hat die NZZ inzwischen so weit rechts positioniert, dass er sich dem ideologischen Kraftfeld der Putin-Verehrung nicht mehr entziehen kann. Konsequent hat Gujer eine Deutschland-Strategie verfolgt, welche die NZZ zum AfD-Leitorgan oder – in der ehrerbietigen AfD-Diktion – zum «Westfernsehen» werden liess. In einem aktuellen Ukraine-Kommentar von Gujer steht jetzt zu lesen: «Die Logik des Kalten Krieges kommt (…) zurück. Sein scharfer Antagonismus ersteht wieder auf: Freiheit gegen Unfreiheit, internationale Regeln gegen nackte Aggression, Freund gegen Feind. (…) Das werden auch diejenigen merken, die sich wie die AfD und die SVP scheuen, klar Stellung zu beziehen.»

Solche Sätze aus der Feder des NZZ-Chefredaktors haben schon beinahe etwas Heroisches: Das Dilemma, das er beschreibt, ist sein eigenes. Wird er seine «Deutschland­strategie» nun aufgeben? Hört er jetzt ganz plötzlich damit auf, im faschistoiden Teich der Putin-Versteher zu fischen? Vorderhand wird offensichtlich eine polyvalente Lösung anvisiert. Die atlantistischen Leitartikel von Gujer. Die russophilen Appeasement-Kommentare von Köppel. So kann man das Publikum, das man mit so grosser Sorgfalt über lange Jahre heran­gezüchtet hat, vielleicht ja weiterhin bei Laune halten.

Die Bomben fallen auf Mariupol. Der Westen ist gefordert. Wir zahlen jetzt den Preis dafür, dass rechts­populistische Strömungen eine profunde Affinität zu autoritärer Gewalt­herrschaft haben – und dass diese Strömungen schon lange ein integraler Teil des bürgerlichen Establishments sind. Die Wieder­kehr des Politischen schafft massiven Klärungs­bedarf. Nicht nur in den USA, sondern auch in der Schweiz. Doch von der Bereitschaft zu dieser Klärung ist vorderhand nicht viel zu spüren.

Illustration: Alex Solman

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