Das ganz schnelle Ende des Protests: Die Polizei nimmt einen Demonstranten auf einem Platz nahe dem Kreml fest, er trägt ein Plakat mit der Aufschrift «Keinen Krieg» (13. März 2022). Getty

Klartext braucht nicht zwingend Worte

Lautstarker Einspruch in den russischen Fernsehnachrichten, Verhaftung wegen eines weissen Plakats: Die Proteste in Russland sind vielfältiger, kreativer und vernehmbarer geworden. Ist das Anlass zu ein wenig Hoffnung?

Von Daniel Graf, 18.03.2022

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1. Schwarz auf Weiss

Es waren nur ein paar Sekunden, aber sie genügten, um die russische Journalistin Marina Owsjannikowa zu einer Ikone des Protestes gegen Putins Angriffs­krieg zu machen.

Mitten in den live gesendeten Abend­nachrichten des staatlichen Fernseh­senders Perwy kanal (Kanal Eins) übertönte Owsjannikowa die Sprecherin mit «Stoppt den Krieg»-Rufen und hielt ein handgeschriebenes Plakat in die Kamera, auf dem die Zuschauer in grossen Lettern einen Appell lesen konnten, den Krieg zu beenden. Dazu die Sätze: «Glauben Sie der Propaganda nicht», «hier werden Sie belogen». Darüber auf Englisch die Headline «No War» und als Schlusszeile, wie zur Signatur: «Russians against War».

Es war die direktest­mögliche Botschaft, mit der Marina Owsjannikowa – eine Mitarbeiterin des Senders, die selbst jahrelang an dessen Nachrichten­manipulation mitgewirkt hatte – die Bevölkerung zum Protest aufrief und die eigene Fernseh­anstalt als Propaganda­instrument entlarvte. Im Zentrum einer putin­treuen Desinformations­maschinerie machte sie in aller Klarheit und vor einem grösstmöglichen Publikum zentrale Wahrheiten über Putins Aggressions­krieg sichtbar, Schwarz auf Weiss: Klartext inmitten systematischer Vertuschung und Verschleierung. Und dies nur wenige Tage nachdem weitere Repressions­gesetze gegen Medien und Öffentlichkeit erlassen worden waren – bis zu 15 Jahre Haft drohen Owsjannikowa. In einem Schnell­verfahren ist sie zunächst wegen eines zuvor veröffentlichten Protest­videos auf Social Media zu einer Geldstrafe von 30’000 Rubel (etwa 270 Franken) verurteilt worden.

«Glauben Sie der Propaganda nicht»: Marina Owsjannikowa mit ihrem Protestplakat in der Nachrichtensendung im russischen Fernsehen. Keystone/EPA/DSK

Eine unmissverständliche humanitäre Botschaft und das Eingehen eines immensen persönlichen Risikos: Das ist die Kombination, die Marina Owsjannikowa nun zu einer weltweit verehrten Heldin macht. Damit geht die Botschaft ihrer Geschichte weit über die Inhalte ihres Plakats hinaus.

In einer Zeit, in der das Verständnis von Heldentum urplötzlich wieder mit archaisch-virilen Bildern von militärischer Stärke einhergeht, erinnert Owsjannikowas Aktion an eine andere Auffassung von Helden­mut: gewaltfrei, doch subversiv und mit der Kraft moralischer Klarheit. Dieses Verständnis von «heroisch» hat mit einem Festhalten an der Unterscheidung von Wahrheit und Lüge zu tun, mit einer ethischen Selbst­verpflichtung unter höchstem persönlichem Einsatz.

Klartext, Schwarz auf Weiss: Das ist die eine Form des Einspruchs.

Doch es gibt auch das komplementäre Gegenstück dazu: wortloser, performativer Protest, der genauso sprechend sein kann.

2. Weiss auf Weiss

Niemand in Russland hat das zuletzt eindrücklicher vor Augen geführt als die junge Frau, die kürzlich in Nischni Nowgorod verhaftet wurde – weil sie ein weisses, leeres Plakat hochhielt.

Ob den russischen Polizisten, die die Frau abführten, klar ist, dass erst sie die komplexe Botschaft dieser wortlosen Schrift komplettierten? Dass sie ungewollt Haupt­rollen in einer Farce übernahmen, die sich keine Theater­regisseurin hätte treffender ausdenken können und die ganz real war?

Besser als mit dieser unbeschriebenen, leeren Fläche lässt sich die herrschende Willkür in Russland nicht veranschaulichen. Was das Plakat der jungen Frau wortlos sagte, war: Es ist völlig egal, was da steht, ihr nehmt uns ja sowieso fest. Es geht überhaupt nicht um manifeste Inhalte, um Positionen oder Argumente; es sind die Meinungs­freiheit, die öffentliche Debatte und der Anspruch auf Wahrheit selbst, die ihr bekämpft und unterdrückt.

In Nizhny Novgorod, Russia, a brilliant, beautiful and brave protest.

This woman holds up a *completely blank* sign, and is still taken away by police.

Shero. pbs.twimg.com/ext_tw_video_thumb/1502729795695747080/pu/img/hxI2Eh4cxWa8WEed.jpg

Doch womöglich geht die Beredtheit des weissen Plakates noch weit darüber hinaus. Was, wenn die leere Fläche sagte: Die Polizisten haben schon richtig verstanden – ihr alle habt es verstanden. Was, wenn dieses weisse Plakat, adressiert an die russische Öffentlichkeit, die stärkste Ansage überhaupt formulierte: Ihr könnt dieses Plakat lesen. Ihr wisst auch ohne Worte, was da stehen könnte, sollte, müsste. Denn wir wissen doch alle, was gerade vor sich geht.

Wenn das die Botschaft dieses Plakates wäre, würde es unausgesprochen sagen: Lasst euch selbst die Lügen nicht durchgehen.

1969 hat Ernst Jandl ein Gedicht mit dem Namen «eine fahne für österreich» geschrieben, das zu dem blanken Plakat bestens gepasst hätte:

rot

ich weiss

rot

Das Gedicht ist eine Abrechnung mit den Verdrängungs­tendenzen im Österreich der Nachkriegs­zeit und dem lange gepflegten Opfer­mythos, der verhindern sollte, die eigene ideologische Verblendung und die eigenen nazistischen Verbrechen zu thematisieren. Indem Jandl die Farbe Weiss mit dem Akt des Wissens überblendet, vollzieht er demonstrativ eine «Fahnen­korrektur»: Gegen die Tendenzen zur Weiss­waschung und zu neo­nationalistischer Selbst­gerechtigkeit schreibt Jandl seinem Land das Wissen um die eigene Geschichte auf die Fahne. Eine legitime Bezugnahme auf die eigene Nation, heisst das, kann, wenn überhaupt, nur auf Basis eines kritischen Geschichts­bewusstseins erfolgen.

Jandls Wortspiel von «weiss» und «wissen» funktioniert natürlich nur in der deutschen Sprache. Aber die Grundidee, die er damit performativ umsetzt, ist universell: Bürgerin eines Landes zu sein, bedeutet auch die Verantwortung, den alten und neuen Lügen, der Geschichts­fälschung und ihrer Instrumentalisierung für neues Unrecht entgegen­zutreten.

Die Aktion von Marina Owsjannikowa und das weisse Plakat in Nischni Nowgorod bilden aktuell in Russland die beiden Pole zwischen nonverbalem Protest und Klartext. Je auf ihre Weise insistieren sie aber beide auf einem Wissen, aus dem sich moralische Appelle ergeben. Mehr noch: Die Protestierenden sorgen selbst dafür, dass dieses Wissen unausweichlicher wird. Sie produzieren genau die Bilder, die das Wegschauen und Leugnen schwieriger machen, und sie setzen der Propaganda die Kraft der viralen Verbreitung dieses Protests entgegen.

Owsjannikowa hat mit ihrer Aktion in den Nachrichten den Einspruch genau dort platziert, wo die Desinformation der russischen Bevölkerung stattfindet. Man muss sich deshalb keine Illusionen machen: Es wird in solchen Medien bei diesem winzigen Zeitfenster für einen kritischen Einspruch bleiben. Aber die Bilder von der Aktion werden sich ebenso wenig dauerhaft unterdrücken lassen wie das dazu­gehörige Social-Media-Video.

So geht es bei dieser Art des Protests auch darum, Bilder zu schaffen, die über Kanäle abseits der staatlich kontrollierten Medien zirkulieren. Ganz im Sinne des weissen Plakats, dessen Bedeutung entschlüsselt werden kann, weil das Vorwissen dazu längst vorhanden ist, können womöglich auch diese Videos den Menschen in Russland in Erinnerung rufen, was ihnen – flächen­deckende Propaganda hin oder her – vielleicht doch nicht ganz unbekannt ist.

Die Botschaft all dieser Proteste lautet: Es ist möglich. Für jede einzelne mutige Person, die dem Regime trotz existenzieller Bedrohung entgegentritt, ist das Risiko unvorstellbar gross. Doch dadurch, dass es Menschen gibt, die trotz allem die möglichen Folgen in Kauf nehmen, wird unleugbar: Eine Zwangs­läufigkeit für russische Bürgerinnen und Bürger, diesen Krieg zu akzeptieren oder gar gutzuheissen, existiert nicht.

Das mag fürs Erste angesichts der tatsächlichen Macht­verhältnisse nach sehr wenig klingen. Aber womöglich liegt darin eine Kraft. Und es ist der persönliche Gewissens­entscheid, an den auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski appelliert, wenn er den russischen Soldaten eindringlich sagt: Wir wissen, dass ihr Angst habt; wir wissen, dass ihr belogen worden seid. Aber ihr habt noch eine Chance, eure moralische Integrität zu wahren und euer Leben zu retten, indem ihr euch diesem durch nichts zu rechtfertigenden Krieg verweigert.

3. Postskriptum

Das Englisch auf dem Plakat von Marina Owsjannikowa zeigt es an: Ihre Botschaft richtet sich auch an den Westen.

Doch gilt noch in ganz anderer Weise, dass diese Protest­aktionen von uns ebenfalls eine Reaktion erfordern – einschliesslich der kritischen Hinter­fragung auch jener Botschaften, die uns gefallen. Die zuletzt einsetzenden Diskussionen um die Frage, wie glaubwürdig Owsjannikowa ist, haben vor diesem Hinter­grund eine gewisse Berechtigung, was allerdings wilde Spekulationen und Unter­stellungen nicht rechtfertigt.

Angemessener wäre es vielmehr, noch einmal unser Bild von heroischen Figuren zu hinterfragen. Womöglich zeigt sich am Beispiel Owsjannikowas, die selbst jahrelang Teil jenes Systems war, das sie in ihrer Protest­aktion nun so fulminant kritisiert hat, dass Heldinnen sehr viel ambivalenter sein können als die hollywood­haften Idealbilder, die eher an Fantasie­wesen als an Menschen erinnern.

Zweitens: Als Appell aus den Protesten erfolgt sicher auch die Verantwortung, sie nicht zur Selbst­beruhigung zu missbrauchen. Was die Oppositionellen in Russland tatsächlich erreichen können und wie schnell, ist vollkommen ungewiss. Sicher dürfte nur sein: Es wird noch sehr viele Mutige brauchen, um Putins Macht­system ernsthaft in Schwierigkeiten zu bringen.

Und nicht zuletzt: Wir sollten die Proteste nicht verkitschen.

Dass mutige Handlungen in einer Extrem­situation uns emotional zutiefst bewegen, ist ein Ausweis von Menschlichkeit. Problematisch aber wird es, wenn die eigene Emotionalität den Blick auf die moralischen und politischen Fragen verstellt. Wo die eigene Rührung sich vor das Leid der anderen schiebt, da beginnt der Kitsch. Die Menschen in der Ukraine und die Mutigen in Russland aber haben mehr verdient als unsere Ergriffenheit.

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