Zum Fressen gern

Die Sprache der Liebe handelt vom Verschlingen und Verzehren. Was passiert, wenn Literatur die Bilder beim Wort nimmt, zeigen zwei aktuelle Romane. Sie behandeln: Pädophilie und Kannibalismus.

Von Christine Lötscher (Text) und Jan Robert Dünnweller (Illustration), 17.03.2022

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«Ich hab dich zum Fressen gern», «ich könnte dich verschlingen»: Die Sprache der Liebe nährt sich von Bildern des Essens und Sich-Einverleibens. Darin steckt nicht kulinarischer Genuss, sondern im Grunde eine gewaltige Provokation. Wir zelebrieren – rein rhetorisch, versteht sich – das zugleich gewaltsame und lustvolle Aufschneiden, Aufbrechen und Auffressen von geliebten, begehrten Körpern.

Wörtlich genommen und in die Tat umgesetzt wären das kannibalische Praktiken: der Eintritt in eine Tabuzone, die für die allermeisten Menschen mit Liebe rein gar nichts zu tun hat. Und dennoch haben wir entsprechende Gesten so verinnerlicht, dass sie uns, samt der zugehörigen Formulierungen, ganz arglos über die Lippen gehen. Mit grösster Selbst­verständlichkeit beissen glückselige Eltern zart in die Füsschen ihrer Neu­geborenen und murmeln: «Ich könnte dich auffressen, mit Haut und Haar!»

Dass die obsessive erotische Liebe etwas Gefährliches ist und alles andere als ein respekt­voller und gepflegter Austausch zwischen zwei vernünftigen Wesen, gehört seit jeher zu den Themen der Literatur. Und es bringt immer wieder neue Geschichten, vor allem aber neue literarische Formen hervor. Das machen zwei aktuelle Romane deutlich – durch die Wahl ihrer Protagonisten, mehr aber noch durch ihre Arbeit an der Sprache und die rauschhafte Intensität, die sie erzeugen.

Kürzlich ist Senthuran Varatharajahs zweiter, auf verstörende Weise beglückender Roman erschienen. Er heisst «Rot (Hunger)» und begleitet einen Kannibalen beim ultimativen Liebes­akt, geht mit ihm tief unter die Haut und an die Grenzen des Sagbaren. In Marieke Lucas Rijnevelds «Mein kleines Pracht­tier», ebenfalls ein zweiter Roman, wird zwar nicht gefressen, doch auf extreme Weise in Besitz genommen. Der Ich­erzähler ist hier ein pädophiler Tierarzt. Sein Wunsch, die Geliebte zu brechen, zu zerstören, um sie endlich ganz zu besitzen, artikuliert sich in einer lyrischen Suada, mit der er sich seinen Sommer mit einem 14-jährigen Mädchen in Erinnerung ruft, als könne er die Liebe so weiter am Leben erhalten. Mittlerweile sitzt er im Gefängnis, und die Geliebte hat ihre eigene Stimme gefunden, sie feiert als Singer-Songwriterin inter­nationale Erfolge.

Zur Autorin

Christine Lötscher ist Professorin für Populäre Literaturen und Medien am Institut für Sozial­anthropologie und Empirische Kultur­wissenschaft der Universität Zürich sowie Literatur­kritikerin. Aktuell beschäftigt sie sich unter anderem mit dem Verhältnis von Mensch und Natur in der Literatur sowie mit Coming-of-Age-Erzählungen. 2020 erschien ihr Buch «Die Alice-Maschine. Figurationen der Unruhe in der Populär­kultur» im Metzler-Verlag.

Beide Texte interessieren sich auf ganz unterschiedliche, aber doch formal verwandte Weise für Extrem­fälle der Liebe und ihre radikal Grenzen überschreitenden Ausdrucks­formen. In beiden Fällen sind Roland Barthes’ «Fragmente einer Sprache der Liebe», das 1977 erschien, als Bezugs­punkt erkennbar. Denn was in der gewaltsamen Aneignung des Liebes­objekts ausgelotet wird, ist die Sprache, der Diskurs der Liebe.

Auch wenn dieser Zusammen­hang beim Lesen sehr bald deutlich wird und auch wenn man als Leserin schon nach wenigen Seiten von der lyrischen Verführungs­kraft der Texte eingenommen ist, blättert man die Seiten doch mit einigem Herz­klopfen um.

Es stellt sich ein ähnliches Gefühl ein wie bei Exploitation­filmen, wenn sie die Kombination von Sex und Gewalt ausschlachten und das moralische Dilemma ganz an den Zuschauer delegieren: Darf ich mir das überhaupt anschauen? Und vor allem: Darf ich die kunst­volle Sprache und Konstruktion der Texte geniessen, obwohl sie unerträgliche Gewalt mit grosser Liebe zum Detail schildern? Was sagt meine Faszination für das Transgressive über mich aus?

Auch Varatharajah und Rijneveld überlassen diese Fragen der Leserin. Und gerade weil sie die Verbindung von alltäglicher Sprache und erotisch-obsessiver Gewalt so deutlich heraus­arbeiten, verweisen die Texte darauf, dass das, was gern als Perversion abgespalten und verdammt, was systematisch den «Verrückten» und den «Wilden» zugeschrieben wird, eben doch Teil der Kultur ist, in der wir leben. Deshalb sind die Verweise auf die Popkultur und auf die religiöse Tradition in den Romanen so wichtig: Gewalt und Leiden sind überall, in idealisierter Form. Es braucht das Skalpell von Varatharajah und den Exzess von Rijneveld, um dies erfahrbar zu machen. Wer der Meinung ist, dass Literatur wehtun sollte, ist hier genau richtig.

Der «Kannibale von Rotenburg»

Senthuran Varatharajahs «Rot (Hunger)» greift auf ein reales Verbrechen zurück, auf den Fall von Armin Meiwes, der als «Kannibale von Rotenburg» in die Annalen eingegangen ist, weil er Bernd Brandes auf dessen Wunsch hin verstümmelte und Teile von ihm ass. Für die Tat wurde Meiwes wegen Mordes und Störung der Toten­ruhe zu einer lebens­langen Haftstrafe verurteilt. Meiwes hatte sich am 9. März 2001 am Bahnhof Kassel mit Brandes getroffen und war mit ihm in sein Haus in Rotenburg gefahren, um ihn, wie geplant, zu «schlachten». Bei Varatharajah erscheint die Szene so:

A ist Computer­techniker. B ist Ingenieur. A bleibt A: der Menschen­esser. B bleibt C: als Fleisch geboren. Unter diesen Namen haben sie sich kennengelernt. Das ist ihr Alphabet. Ich will, dass du mir den Schwanz abschneidest, mir das Fleisch bei lebendigem Leib von den Knochen reisst und mich auffrisst.

Vielleicht kann man so vom ersten Hunger sprechen.

Um den Tag, an dem dieser Plan umgesetzt wird, geht es in dem einen Erzähl­strang von Varatharajahs Roman. Im zweiten begegnen wir einem Ich­erzähler, der ein Jahr nach einer Trennung über die vergangenen Monate nachdenkt. Varatharajahs Provokation ist nun die: Er legt es auf Gemeinsam­keiten zwischen den beiden Geschichten an; er führt sie eng.

Um Abstand, um die unüberbrückbare Distanz zum geliebten Menschen, geht es bei diesem ganz gewöhnlichen Ich­erzähler. Und Varatharajahs Text sagt uns nun: Darum und um den Wunsch, diesen Abstand zum Verschwinden zu bringen, geht es auch bei A und B, hinter denen wir den realen Kannibalen und sein – ja, was? Opfer? – erkennen. Während der Ich­erzähler die Sprache seziert, um die Spur der Trennung, die Kluft zu früher sichtbar zu machen, setzt A die kannibalische Bild­sprache der Liebe wörtlich um. Dazwischen, wie Messer­stiche in den Text eindringend, wiederholen sich Sätze, die an Aphorismen erinnern und die Funktion von Loops haben: «Am Ende der Sprache gibt es keinen Unterschied zwischen einem Körper und einem Vers», heisst es da zum Beispiel. Oder, immer wieder: «Jede Form setzt Material voraus»; «Wenn wir träumen, träumen wir nicht in Rot».

Alle Sätze, die A und B in «Rot (Hunger)» zueinander sagen, sind Original­zitate aus dem Mail­verlauf und Chat­protokoll von Armin Meiwes und Bernd Brandes, oder sie stammen aus Interviews, die Meiwes nach seiner Inhaftierung gab. Der Ich­erzähler wiederum entwickelt im Lauf des Jahres eine immer grössere Faszination für A und B; er schreibt sogar Briefe an A, ohne jemals eine Antwort zu bekommen.

Varatharajah, der sich mit seinem Roman­erstling «Von der Zunahme der Zeichen» (2016) einen Namen als Philosoph und Sprach­theoretiker der deutsch­sprachigen Gegenwarts­literatur gemacht hat, interessiert sich weder für den Skandal um den «Kannibalen von Rotenburg» noch für die Ausschlachtung grausiger Details (die allerdings keineswegs fehlen im Text). Vielmehr besteht sein Text nachdrücklich auf einer These, die der Roman ganz am Anfang prominent in Szene setzt. Auf der ersten Seite steht nur ein einziger Satz:

Das ist eine Liebes­geschichte.

Liebesgeschichte, das bedeutet in der Abstraktheit von Varatharajahs textueller Konstruktion mehr Lyrik als Roman, mehr Philosophie als Erzählung: ein Versuch über die Sprache der Liebe. In der Mitte des Buches verstummt sie und überlässt das Feld dem Visuellen: Da sind zwei tiefrot gefärbte Seiten, umgeben von zwei Leer­seiten, auf die das Rot, je nach Licht­verhältnissen, einen roten Schimmer wirft.

Von Anfang an geht das Buch in seiner Materialität und in seinem Erscheinungs­bild über die verbale Sprache hinaus. Varatharajah zerstückelt die Wörter, indem er sie gegen die eingefleischten Regeln der Silben­trennung auf den Zeilen arrangiert. Zu «Where I End and You Begin» von Radiohead – einem Song mit dem Refrain «I will eat you alive» – formuliert der Ich­erzähler Sätze, die man nicht einfach zitieren kann, sondern im Satzbild wiedergeben muss:

Die befremdende Wirkung dieser Umbrüche ist so stark, dass sie während der gesamten Lektüre anhält; eine Gewöhnung, die einen über die sezierten Wörter hinweg­lesen lässt, stellt sich niemals ein.

Tatsächlich … Liebe

What’s love got to do with it, könnte man sich nun mit Tina Turner fragen. Ist das nicht nacktes Begehren, oder eben kranker Hunger, wie der Titel schon sagt?

Die Rede ist aber tatsächlich von Liebe, bei Varatharajah ebenso wie bei Marieke Lucas Rijneveld. Beide Romane legen auf ihre Art offen, wie sich Nähe und Distanz, aber auch, wie sich Macht­verhältnisse in der Sprache manifestieren, wie radikal übergriffiges Verhalten eines Liebhabers gegenüber seinem Liebes­objekt in der Metaphorik des Werbens verankert und legitimiert ist. Varatharajahs Ich­erzähler erwähnt neben Barthes unter anderem auch «All About Love», einen Essay von bell hooks, der vergangenes Jahr auch auf Deutsch erschien. Darin führt die kürzlich verstorbene Kult­autorin die Lieblosigkeit, die ihr überall entgegen­schlägt, auf die patriarchale Struktur des alles beherrschenden Liebes­konzepts zurück. Die Verflechtung von Liebe, Missbrauch und Gewalt, so ihr Argument, werde viel zu wenig hinterfragt:

Most psychologically and/or physically abused children have been taught by parenting adults that love can coexist with abuse. And in extreme cases that abuse is an expression of love.

(Den meisten Kindern, die seelische oder körperliche Gewalt erfahren haben, wurde von ihren Eltern vermittelt, dass Liebe und Misshandlung neben­einander existieren können. In einigen extremen Fällen sogar, dass Misshandlung eine Form von Liebe ist.)

bell hooks: «Alles über Liebe. Neue Sichtweisen».

Obwohl dieser Verweis bei Varatharajah steht, liest sich bell hooks’ Essay wie ein Schlüssel zu Rijnevelds Roman (dessen deutsche Über­setzung aus dem Nieder­ländischen durch Helga van Beuningen heute womöglich den Preis der Leipziger Buch­messe gewinnt – die Vergabe wird ab 16 Uhr live gestreamt).

Die Figuren­konstellation in «Mein kleines Pracht­tier» lebt davon, dass der Missbrauch zunächst für Täter und Opfer als Ausdruck von Liebe erscheint.

Wenn der wortgewaltige Tierarzt das Lieblings­tier seiner Kunden einschläfern muss, überreicht er ihnen in einem Umschlag das Gedicht «Joy in Death» von Emily Dickinson. Und wenn er in seinen Reden an die Geliebte auf die Trope des Liebes­wahns zurückgreift, dann vor allem, um klarzumachen, dass er als fleissiger Leser gelernt hat, wie machtlos man dagegen sei.

In seinem atemlosen, oft rasend witzigen Rede­schwall, der wie im Flug über 360 Seiten trägt, kombiniert er die Sprache der Liebe, die er in Literatur und Popkultur vorfindet, mit der Bildwelt seines ländlichen Tierarzt­lebens. Immer wieder zitiert er Humbert Humbert, das literarische Urbild des Pädophilen aus Vladimir Nabokovs «Lolita» («Feuer meiner Lenden»). Immer wieder vergleicht er seine Geliebte mit dem Vieh, dem er sich tagaus, tagein widmet:

Du lagst in jenem störrischen Sommer wie ein Kalb in Steiss­lage im Kreiss­saal meines Verlangens, ich war der Hand­langer des Wahnsinns, wusste nicht, wie ich dich nicht hätte wollen können, dich, die himmlische Auserkorene […]

Und das namenlose Mädchen, das er immer nur «mein kleines Pracht­tier» oder «mein Augen­stern» nennt, ist in der Unsicherheit darüber, was Liebe denn sei, bis zum Äussersten manipulierbar. Dazu kommt, dass der viel ältere Liebhaber auf jede ihrer Fantasien eingeht, sei es auf ihre Geschlechts­identität, die nach und nach fluider wird, sei es auf ihren Wunsch, sich in ein Tier zu verwandeln. Auch einfache Teenie-Spiele gehören dazu: Die beiden spielen Bonnie und Clyde, sie spielen Kurt Cobain und Courtney Love. Der liebestolle Tierarzt spürt genau:

Es wurde immer deutlicher, dass du irrlichtertest. Dass du zwischen einem Jungen und einem Mädchen irrlichtertest und dich immer obsessiver mit den dear boys im Schwimm­bad beschäftigtest, mit den Jungs­geweihen […].

Er erzählt von den Riesen­penissen des Blauwals, des Elefanten und der Seepocke, und – der Gipfel der Grausamkeit – verspricht seiner Geliebten, dass auch ihr ein «Jungs­geweih» wachsen werde, wenn sie sich nur von ihm penetrieren lasse:

[…] und was ich dann tat, war unfair von mir, ich log dich an, ich sagte, du würdest ein Jungs­geweih davon bekommen, ich würde einen kleinen Keim in dir pflanzen, und daraus würde ein Ausläufer wachsen wie bei den Kartoffeln, und deine Augen begannen zu glänzen, wenngleich du am Anfang noch etwas skeptisch warst […]

Gerade in den Szenen, die hart an der Grenze des Erträglichen sind, zeigt sich die Kunst Marieke Lucas Rijnevelds. Durch eine einzige Figuren­stimme wird hier mehr­stimmig erzählt. Das Erkunden der Gender­fluidität im Roman greift auf die Erzähler­stimme über und bricht die Perspektive des Täters auf.

Denn der Tierarzt, auf den ersten Blick ein klassischer unzuverlässiger Erzähler, der die Ereignisse und die Menschen um sich herum mit einem klaustro­phobisch anmutenden Röhren­blick betrachtet und alles so dreht und wendet, wie es ihm gefällt, arbeitet sich in seinem Wahn an jedem Satz ab, den die Geliebte im fraglichen Sommer geäussert hatte. Und er ruminiert über den Lied­texten des Debüt­albums «Kurt 12», das sie später veröffentlichen sollte.

Seine Sprache, vom hohen Ton Humbert Humberts inspiriert, dreht und schraubt sich in die Formulierungen und Bilder der jungen Künstlerin hinein, in die Bücher («Harry Potter»), Filme und vor allem in die Musik, die sie liebt. Die Playlist dazu gibt es übrigens auf Spotify, mit «Warwick Avenue» von Duffy, «Smells Like Teen Spirit» von Nirvana, «Wuthering Heights» von Kate Bush. Die Liedtexte ergeben ein dichtes Geflecht von Kommentaren, die der Ich­erzähler zwar gierig aufgesogen hat, ohne ihre oft gar nicht so versteckte Botschaft zu verstehen. In «Warwick Avenue» heisst es zum Beispiel klar und deutlich:

You think you’re loving but you don’t love me
I’ve been confused, out of my mind lately
You think you’re loving but I want to be free
Baby you’ve hurt me

(Du denkst, dass du liebst, aber du liebst mich nicht.
Zuletzt war ich völlig durcheinander,
du denkst, dass du mich liebst, aber ich will frei sein.
Baby, du hast mir wehgetan.)

So nimmt ihre Stimme immer mehr Raum ein, bis die Figur des Ich­erzählers hinter seinen Projektionen von ihr verschwindet – ohne aber zu verdecken, dass sie durch ihre ständige Beschwörung die grosse Abwesende ist in diesem Roman.

Liebe und Loops

Der Diskurs der Liebe zirkuliert in der Populär­kultur und lässt sich letztlich nur durch ein Arrangement von Zitaten einfangen. Das gilt für beide Romane. Es scheint, dass die Struktur des Popsongs mit ihren Loops geradezu ideal dazu geeignet ist, von der Liebe zu reden, im Spannungs­feld zwischen populären Formeln und individueller, dramatischer Aufladung.

Dazwischen öffnet sich sowohl bei Varatharajah als auch bei Rijneveld ein eigen­williger lyrischer Raum, der sich wiederum mit einem Zitat am besten fassen lässt.

Zum Kanon der zwie­lichtigen Liebes­geschichten zwischen erwachsenen Männern und kleinen Mädchen gehört auch der Entstehungs­mythos von «Alice im Wunder­land». Die Frage, ob Charles Lutwidge Dodgson aka Lewis Carroll wirklich pädophil war (wovon unter anderen der «Lolita»-Autor Nabokov überzeugt war), lässt sich nicht definitiv beantworten. Belegen lässt sich allerdings an den beiden «Alice»-Büchern, dass das Mädchen auf seinen Traum­reisen im Wunderland und im Land hinter den Spiegeln an die Grenzen der Sprache gelangt. Die Erfahrung, die Alice macht, als sie das Nonsense-Gedicht «Jabberwocky» entziffert – in dem Buch, das sie hinter den Spiegeln findet, ist es konsequenter­weise auch in Spiegel­schrift abgedruckt –, beschreibt sie mit diesen Worten:

«It seems very pretty», she said when she had finished it, «but it’s rather hard to understand!» (You see she didn’t like to confess, even to herself, that she couldn’t make it out at all.) «Somehow it seemed to fill my head with ideas – only I don’t know exactly what they are! However, somebody killed something: That’s clear, at any rate –»

(«Das klingt recht hübsch», sagte sie, als sie damit zu Ende war, «nur ist es leider etwas schwer verständlich!» (Dass sie sich überhaupt keinen Vers darauf machen konnte, wollte sie nämlich nicht eingestehen, nicht einmal sich selbst gegenüber.) «Irgendwie kommen mir dabei lauter Gedanken in den Kopf – aber ich weiss nicht genau, welche! Also, irgend­etwas ist von irgendwem erschlagen worden, so viel steht jedenfalls fest –»)

Lewis Carroll: «Alice hinter den Spiegeln» (Übersetzung von Christian Enzensberger). Berlin: Insel 1963.

In Rijnevelds Roman wiederholt sich die Lese­szene fast eins zu eins:

[…] das Gedicht «Jabberwocky» von Lewis Carroll […] fandst du glänzend, auch wenn du es kaum verstandst, du fandst, dass es wunderbar klang […]

Bei Carroll spricht Alice genauso durch die Stimme des Erzählers wie bei Rijneveld durch die Stimme des Liebhabers. Carrolls Erzähler mokiert sich zwar über den naiven Zugang des Kindes – und doch verstehen die Leserinnen sehr genau, dass Alice eine grund­legende Erkenntnis über ästhetische Erfahrung und das Denken an den Grenzen des Sagbaren formuliert.

Die Leser von Varatharajahs und Rijnevelds Romanen können sich ihr nur anschliessen; die Texte schockieren, provozieren und verstören gerade deshalb, weil ihr Sound so verführerisch ist, weil sie einen rasenden Sog entfalten und die Fragen um Sprache und Körper, Gewalt und Liebe so frisch erscheinen lassen wie, sagen wir, ein neugeborenes Kalb. Eines, das noch ganz blutig ist.

Zu den Büchern

Marieke Lucas Rijneveld: «Mein kleines Prachttier». Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Berlin: Suhrkamp 2021. 364 Seiten, ca. 36 Franken.

Senthuran Varatharajah: «Rot (Hunger)». Frankfurt am Main: S. Fischer 2022. 120 Seiten, ca. 35 Franken.

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