Am Gericht

Suizidhilfe für Gesunde?

Ein alter Mann erkrankt unheilbar an Krebs. Seine Frau will mit ihm zusammen sterben. Ein Arzt leistet dem Paar Suizid­hilfe – und landet darum vor Bundes­gericht. Dort sorgt der Fall für eine kontroverse Diskussion.

Von Daniel Hürlimann und Caroline Ruggli, 16.03.2022

Ihnen liegt etwas am Rechtsstaat? Uns auch. Deshalb berichten wir jeden Mittwoch über die kleinen Dramen und die grossen Fragen der Schweizer Justiz.

Lesen Sie 21 Tage zur Probe, und lernen Sie die Republik und das Justizbriefing kennen!

Eine Warnung: Dieser Beitrag behandelt das Thema Suizidalität. Im Text werden Suizid­gedanken und Angst vor Einsamkeit thematisiert. Anlaufstellen finden Sie am Schluss des Beitrags.

In der Schweiz ist die Suizid­hilfe grundsätzlich erlaubt. Nach dem Straf­gesetz­buch ist die Beihilfe zum Suizid nur dann strafbar, wenn sie aus egoistischen Motiven erfolgt. Für Ärztinnen gelten aber noch andere Gesetze und Regeln. Sie sollten unter anderem die Richt­linien einer privaten Stiftung einhalten, der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW). Diese Richt­linien legen fest, dass Krankheits­symptome und/oder Funktions­einschränkungen vorliegen müssen, damit Ärzte Suizidhilfe leisten dürfen.

Was aber gilt, wenn eine Ärztin das Mittel einem gesunden Menschen verschreibt?

Die Verschreibung des Sterbe­mittels Natrium-Pentobarbital an eine gesunde, betagte Frau hat zu einer Straf­untersuchung gegen einen Arzt und zur Anklage­erhebung geführt. Der Arzt wurde schuldig gesprochen, was er nicht akzeptierte. Er zog seinen Fall bis vors höchste Gericht.

Das Bundes­gericht erledigt rund 8000 Beschwerden pro Jahr. Die aller­meisten Urteile werden ohne öffentliche mündliche Beratung gefällt; vergangenes Jahr waren es nur gerade 30 Fälle, die öffentlich beraten wurden. Im Bundesgerichts­gesetz steht, dass ein Entscheid immer dann mündlich beraten wird, wenn sich im Richter­gremium keine Einstimmigkeit ergibt. Das heisst, das Bundes­gericht entscheidet in 99,6 Prozent der Beschwerden einstimmig.

Der Fall der gesunden, betagten Frau, die zusammen mit ihrem Ehemann sterben wollte, gehört also zu den restlichen 0,4 Prozent. Mit anderen Worten: Am höchsten Gericht herrschte Uneinigkeit.

Ort: Bundesgericht, Lausanne
Zeit: 9. Dezember 2021, 9.30 Uhr
Fall-Nr.: 6B_646/2020
Thema: Verletzung des Heilmittelgesetzes

Folgendes ist geschehen: Eine Suizidhilfe­organisation erhält vom betagten Ehepaar Rochat (das in Wirklichkeit anders heisst) einen Brief. Rochats sind seit über 60 Jahren zusammen und sehr eng verbunden. Der Ehemann ist krebskrank und möchte seinem Leiden ein Ende setzen. Die Ehefrau ist 86 Jahre alt und gesund, kann aber den Gedanken nicht ertragen, ohne ihren Gatten weiterleben zu müssen.

Das Paar bittet die Organisation, sie bei einem Doppel­suizid zu unterstützen.

Doktor Favre (der ebenfalls anders heisst) ist pensionierter Arzt und bei der Suizidhilfe­organisation tätig. Für ihn ist von grösster Bedeutung, unbegleitete Selbst­tötungen zu vermeiden. Favre möchte es jeder Person ermöglichen, Zeitpunkt, Ort sowie die Art ihres Todes selbst zu wählen.

Die Geschichte des Ehepaars berührt den Arzt sehr. Er führt mit den beiden mehrere Gespräche. Frau Rochat betont wiederholt, sie werde sich so oder so das Leben nehmen, ob ihr Favre nun helfe oder nicht. Sie schildert dem Arzt konkrete Ideen, wo sie sich das Leben nehmen könnte, ohne dass Dritte zu Schaden kämen. Die Frau ist entschlossen, zusammen mit ihrem Ehemann zu sterben; ein Weiter­leben ohne ihn kommt für sie nicht infrage.

Zu den Autorinnen

Daniel Hürlimann ist als Professor für Rechts­informatik und IT-Recht an der Berner Fach­hochschule tätig. Er war als Mitglied der zuständigen Kommission an der Erarbeitung der SAMW-Richtlinien zu Sterben und Tod beteiligt. Seine Habilitations­schrift mit dem Titel «Recht und Medizin am Lebens­ende» erscheint demnächst.

Caroline Ruggli ist Rechts­anwältin und Doktorandin bei Professor Marc Thommen an der Universität Zürich. Sie verfasst eine Dissertation im Bereich des Strafprozessrechts.

Frau Rochat gibt im Dezember 2015 bei ihrem Notar folgende Erklärung ab: «Ich kann die Aussicht, meinen Mann zu überleben, psychisch nicht ertragen und ergreife daher die notwendigen Massnahmen, um meine Verzweiflung zu bewältigen, falls ich meinen Mann überleben sollte. Ich bitte daher die Suizidhilfe­organisation, mir zu helfen, mein Leben in dieser Welt unverzüglich zu beenden.»

Der Arzt verschreibt Frau Rochat im April 2017 das Sterbe­mittel Natrium-Pentobarbital. Daraufhin nimmt die 86-jährige, gesunde Frau zusammen mit ihrem krebskranken Ehemann das verschriebene Mittel ein und setzt dadurch mit Unterstützung der Suizidhilfe­organisation ihrem Leben ein Ende.

All diese Vorgänge, Absichten und Aussagen werden Monate später im zweit­instanzlichen Urteil des Genfer Kantons­gerichts detailliert nachzulesen sein.

Eingespielte Abläufe

Schweizer Suizidhilfe­organisationen informieren nach einem Suizid oder Doppel­suizid standard­mässig die Polizei. Sie dokumentieren das Geschehen teilweise mit Film­aufnahmen und übergeben diese zusammen mit einer Bestätigung der Urteils­fähigkeit und weiteren Unterlagen der Polizei. Meist wird auch die Staats­anwaltschaft beigezogen. Die Abläufe sind eingespielt, und in der Regel wird kein Straf­verfahren eröffnet.

In diesem Fall war es jedoch anders, weil es unüblich ist, dass eine gesunde Person sich auf diesem Weg das Leben nimmt. Der Suizid von Frau Rochat hatte straf­rechtliche Konsequenzen.

In erster Instanz verurteilte das Polizei­gericht des Kantons Genf den beteiligten Arzt wegen Verletzung des Heilmittel­gesetzes. Favre wehrte sich gegen das Verdikt, weshalb sich auch das Genfer Kantons­gericht damit befasste – und das Urteil der Vorinstanz bestätigte. Der Verurteilte gab nicht auf und zog den Schuld­spruch bis vor Bundes­gericht. Dieses hatte zu entscheiden, ob die Bestrafung des Mediziners gestützt auf das Heilmittel­gesetz korrekt ist – oder nicht.

An einer mündlichen Beratung sind immer fünf Bundes­richter beteiligt. In einer ersten Runde äussert sich jede Richterin zum Fall – in aller Regel in ihrer Mutter­sprache. Im Fall des Arztes und Suizid­helfers hat sich der erste Richter in Französisch, die zweite und dritte Richterin in Deutsch, der vierte Richter in Italienisch und schliesslich die Abteilungs­präsidentin wieder in Französisch geäussert.

Ja? Nein? Die Spannung steigt

Diese erste höchst­richterliche Auslegungs­runde dauerte zwei Stunden lang. Die Spannung war gross, vergleichbar mit einem Penalty­schiessen: Die Richterinnen und Richter argumentierten abwechselnd für die Gutheissung der Beschwerde (also für die Aufhebung des Urteils) und dann wieder für deren Abweisung (Festhalten am Schuldspruch).

Doch während es beim Penalty­schiessen nur Schwarz oder Weiss gibt, lebt das Recht von Grautönen. So war es möglich, dass im ehrwürdigen Gerichts­saal auf Mon-Repos neben den zwei Ja-Voten (Freispruch) und den zwei Nein-Voten (Verurteilung) auch ein Ja-aber-Votum zu hören war.

Die betreffende Richterin war zwar der Auffassung, eine Bestrafung gestützt aufs Heilmittel­gesetz sei nicht möglich. Sie wies aber gleichzeitig darauf hin, dass eine Bestrafung gestützt auf das Betäubungsmittel­gesetz durchaus zu prüfen wäre. Ihre Begründung lautet, kurz zusammen­gefasst: Das Heilmittel­gesetz regelt Heilmittel, also Mittel zur Heilung von Krankheiten. Wenn eine gesunde Person ihrem Leben ein Ende setzen will, hat das nichts mit Heilung und somit auch nichts mit dem Heilmittel­gesetz zu tun.

Die Bundes­richterin hält es jedoch für möglich, dass die Verschreibung des Natrium-Pentobarbitals gestützt auf das Betäubungsmittel­gesetz bestraft werden müsste. Der Fall solle deshalb zur Klärung dieser Frage ans Genfer Kantons­gericht zurück­gewiesen werden.

Heil- oder Betäubungsmittel?

Am Ende einer mündlichen Beratung wird jeweils abgestimmt. Dabei ist zunächst zu entscheiden, ob eine Beschwerde gutgeheissen oder abgewiesen wird. Wird die Beschwerde gutgeheissen, kann das Bundes­gericht entweder selber entscheiden – oder die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück­weisen, wie das in diesem Fall ja beantragt wurde. Auch darüber muss anschliessend noch abgestimmt werden.

Im Suizidhilfe-Fall hat dieses Prozedere dazu geführt, dass in der ersten Abstimmungs­runde mit drei zu zwei Stimmen für die Gutheissung der Beschwerde votiert wurde.

Doch damit war der beschuldigte Arzt nicht etwa freigesprochen.

Die Spannung blieb, denn nun stand eine zweite Abstimmungs­runde an. In dieser Runde wurde darüber entschieden, ob die Sache ans Genfer Kantons­gericht zurück­zuweisen sei, damit die Vorinstanz eine Bestrafung des Arztes gestützt auf das Betäubungsmittel­gesetz prüfe.

Erneut lautete das Resultat drei zu zwei Stimmen – und zwar für eine Rückweisung. Jene Richter, die in der Runde zuvor für eine Verurteilung gestimmt hatten (und von der Mehrheit überstimmt worden waren), votierten nun für eine Rückweisung ans Kantonsgericht.

Ethik ist keine exakte Wissenschaft

Von dieser höchst kontroversen Diskussion, von den unterschiedlichen Argumenten oder vom knappen Abstimmungs­ergebnis wird im schriftlich begründeten Urteil (das noch nicht vorliegt) nichts zu lesen sein. Dort werden nur jene Argumente abgehandelt, die zum hart errungenen Resultat passen. Nur wer an einer der seltenen öffentlichen Beratungen des Bundes­gerichts teilnimmt, bekommt Einblick in die Meinungs­vielfalt unter den höchsten Richterinnen des Landes. Dissenting opinions werden nicht publiziert, anders als zum Beispiel am Verwaltungs­gericht des Kantons Zürich.

Der Ball liegt nun also wieder beim Genfer Kantons­gericht, das zu prüfen hat, ob der Arzt allenfalls gestützt auf das Betäubungsmittel­gesetz bestraft werden muss. Doch unabhängig davon, wie es entscheiden wird, ist davon auszugehen, dass der Fall anschliessend erneut ans Bundes­gericht weiter­gezogen wird. Bei einem Schuld­spruch dürfte der Arzt den Fall nach Lausanne bringen, bei einem Freispruch die Staats­anwaltschaft.

Die Genfer Richter werden sich mit der Argumentation des höchsten Gerichts auseinander­setzen müssen; und diese mag auf den ersten Blick erstaunen. Das Bundes­gericht ist wie erwähnt nicht einverstanden damit, dass der Schuld­spruch gegen den Arzt auf dem Heilmittel­gesetz basiert. Es weist aufs Betäubungsmittel­gesetz als mögliche Grundlage hin.

Beide Gesetze orientieren sich für die Zulässigkeit einer Verschreibung an den Regeln der medizinischen Wissenschaften. Doch es ist unter Juristen schon länger umstritten, ob die Richt­linien der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften als «anerkannte Regeln der medizinischen Wissenschaften» gelten.

Denn diese Richt­linien sind nicht rein medizinische, sondern medizin-ethische Regeln. Und die Ethik ist, wie das Recht auch, eine nicht exakte Wissenschaft. Gerade das Thema Suizid­hilfe zeigt, dass ein wissenschaftlicher Konsens in ethischen Themen kaum möglich ist.

Kein Verstoss ohne anerkannte Regeln

Vergleicht man den Wortlaut von Heilmittel- und Betäubungsmittel­gesetz, erscheint die Rückweisung ans Genfer Kantons­gericht dennoch nachvollziehbar. Denn das Heilmittel­gesetz verlangt, dass bei der Verschreibung von Arznei­mitteln die anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaften «beachtet» werden. Das Betäubungsmittel­gesetz hingegen hält fest, dass Ärztinnen verpflichtet sind, Betäubungs­mittel nur in dem Umfang zu verordnen, der nach den anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaften «notwendig» ist.

Das bedeutet konkret: Wenn für die Verschreibung eines Sterbe­mittels keine «anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaften» existieren, liegt auch kein Verstoss gegen das Heilmittel­gesetz vor. Denn wo es keine derartigen Regeln gibt, können diese auch nicht «beachtet» werden.

Die Verschreibung des Sterbe­mittels könnte aber als nicht «notwendig» und damit als Verstoss gegen das Betäubungsmittel­gesetz beurteilt werden. So auf jeden Fall das vorläufige Fazit des Bundes­gerichts – das in der Sache selbst allerdings nicht entschieden hat. Weder pro noch contra Suizid­hilfe für Gesunde.

Es bleibt also spannend – obwohl damit zu rechnen ist, dass das Genfer Kantons­gericht erneut einen Schuld­spruch gegen den Arzt aussprechen wird; dieses Mal gestützt aufs Betäubungsmittel­gesetz. Danach dürfte der Ball erneut beim Bundes­gericht liegen. Sollte es den Arzt in der zweiten Runde freisprechen, ist davon auszugehen, dass das Thema vom Bundes­parlament aufgenommen wird. Und nicht länger der Ärzteschaft überlassen bleibt.

Zu Anlaufstellen für Hilfe: Sie haben Suizid­gedanken? Reden Sie darüber!

Die Erfahrung zeigt: Menschen, die einen Suizid­versuch überlebten, waren froh, noch am Leben zu sein. Holen Sie sich bei Suizid­gedanken anonym Hilfe:

  • Plattform für psychische Gesundheit, speziell in der Corona-Zeit: «Dureschnufe»

  • Notfallnummern:
    Dargebotene Hand: 143
    Psychosoziale Beratung der Pro Mente Sana: 0848 800 858 (auch für Angehörige, Bürozeiten)
    Elternberatung der Pro Juventute: 058 261 61 61 (24/7)
    Elternnotruf: 0848 354 555 (24/7)

  • Suchmaschine für Therapeutinnen:
    Psychologie.ch oder Psychotherapie.ch (Psychologen)
    Psychiatrie.ch (psychiatrische Fachärzte)

  • Die Stiftung Pro Mente Sana bietet weitere Notfallnummern sowie einen «Erste-Hilfe-Kurs für psychische Gesundheit» an, in dem ein sinnvoller Umgang mit psychischen Krisen im nächsten Umfeld geübt werden kann.

Illustration: Till Lauer

Verpassen Sie keine Ausgabe von «Am Gericht»: Mit einem Abo haben Sie diese und weitere Geschichten immer griffbereit – am besten gleich Mitglied werden.