Oriana Fenwick

Sprachnotiz von Nicoletta Cimmino

#9: Die Welt retten

Warum Dostojewski mit der Macht der Schönheit recht hatte.

Von Nicoletta Cimmino, 15.03.2022

#9: Die Welt retten
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Liebe Hörer, liebe Leserinnen der Republik

Kann – wie Dostojewski schrieb – Schönheit die Welt retten?

Diese Audiokolumne, meine Sprach­notiz, war immer gedacht als Gedanken­flucht, als Ort, wo nicht die Aktualität das Tempo und den Inhalt vorgibt, sondern kleine Beobachtungen aus dem Leben Platz haben sollen. Meine Absicht war: keine unmittelbare Politik. Keine Kommentare zur Nachrichten­lage. Kein Corona, nicht auch noch hier – bitte.

Das Donnergrollen des Welt­geschehens durfte anderswo lärmen. Nun ist das Donner­grollen aber so laut, dass es schwerfällt, wegzuhören.

Keine Sorge, hier folgt keine Meinung, keine Analyse. Ich bin nicht Expertin, was die Ukraine angeht oder Russland. Ich weiss über diese beiden Länder zu wenig.

In der Ukraine war ich nie. In Russland ein paar Mal, als Touristin. Von mir käme nichts, dass zum besseren Verständnis dieses Krieges und seiner Umstände beitragen würde.

Aber – um den Faden von Dostojewski wieder aufzunehmen – ich glaube daran, dass Schönheit uns rettet. Vielleicht nicht die Welt, aber uns, immer wieder.

Und wenn ich Schönheit sage, dann meine ich nicht unbedingt das Liebliche, das, was nicht wehtut.

Schönheit tut manchmal weh, kann schneiden. Ganz bestimmt berührt sie uns und versichert sie uns unserer eigenen Lebendigkeit.

Schneidend schön für diese Zeiten ist das Gedicht «Juli 1914» der Dichterin Anna Achmatowa.

Achmatowa wurde in der Nähe von Odessa geboren, das in der heutigen Ukraine liegt. Sie wuchs in Sankt Petersburg auf. Sie wurde zu einer der bedeutendsten russischen Dichterinnen. War beliebt, begehrt und wurde verteufelt. Die kommunistischen Macht­haber in den frühen Jahren der Sowjet­union verschmähten sie und ihre Gedichte. Ihr Mann und ihr Sohn verbrachten viele Jahre in Arbeits­lagern und in der Verbannung. Erst viel später wurde sie wieder gedruckt und gelesen. Und verehrt.

Das Gedicht «Juli 1914» jedoch schrieb sie als junge Frau, mit 25. Es war der Vorabend des Ersten Welt­krieges. Sie verbrachte den Sommer auf einem abgelegenen Landgut.

Als die deutsche Kriegs­erklärung ans russische Zaren­reich sie an ihrem Sommer­sitz erreichte, verfasste sie diese prophetischen Zeilen, die heute noch so viel Wahrheit und Hellsichtigkeit in sich tragen wie damals, vor 108 Jahren.

Schreckenszeiten sind nahe,
frische Gräber dicht an dicht.
Erwartet Hunger, erwartet Strafen
Und der Sterne verfinstertes Licht.

Schön, nicht wahr? Und schmerzlich.

Wir hören uns – wenn Sie mögen – in zwei Wochen wieder.

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