Sie fristen ein Schatten­dasein beim spiegelnden Prime Tower: Die Maag-Hallen in Zürich-West.

Stoppt die Vorschlag­hämmer!

In der Stadtplanung ist Verdichtung die Losung der Stunde. Überall wird abgerissen und neu gebaut. Jetzt rufen junge Architektinnen in Zürich zum Widerstand auf – endlich.

Von Antje Stahl (Text) und Saskja Rosset (Bilder), 14.03.2022

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In Zürich-Oerlikon soll ein neues Sport­zentrum entstehen, vielleicht hat der eine oder die andere ja schon von diesem Geschenk an die Bevölkerung gehört.

Auf dem Papier sieht das neue geplante Haupt­gebäude, in dem es ein Hallen­bad und eine Eissport­anlage geben wird, auch gar nicht so schlimm aus. Filigrane Freitreppen laufen vor der Fassade in Spiralen um dicke Säulen aus Lehm, durch die das Wasser fliesst, das wohl irgendwie durch die Abwärme aus der Eisproduktion erhitzt werden soll. Auf dem Dach können Kinder neben einer besonders tollen Fotovoltaik­anlage Fussball spielen, was mit Sicherheit nicht nur dafür sorgt, dass ihre Eltern (die sich am Spielfeld­rand ja meistens eher langweilen) wenigstens einen schönen Ausblick auf Dächer und vielleicht sogar die Berge in der Ferne geniessen können, sondern auch niemand ein schlechtes Gewissen gegenüber der Umwelt haben muss.

In einer der Sitzungen im Zürcher Gemeinde­rat, in denen über das viele Geld, das so eine neue Anlage nun einmal kostet (nach jüngsten Schätzungen rund 210 Millionen Franken), gestritten und entschieden wurde, hatte ein SVP-Mitglied noch darauf hingewiesen, wie absurd es sei, «ohne Bedenken einem Megabau» zuzustimmen, «damit im Winter Wasser aufgeheizt und im Sommer Eis gekühlt werden kann. (…) Wer den Klima­notstand ernst nehmen würde, müsste (…) im Zürichsee schwimmen und in Davos Schlittschuh laufen gehen», meinte dieser Mann.

Allerdings konnten solche Polemiken bisher herzlich wenig gegen das wahnwitzig grosse Versprechen solcher neuen Gebäude setzen, in Zukunft so wenig CO2-Emissionen in die Luft zu jagen, dass das Klima überhaupt nicht mehr davon beeinträchtigt werde. Das Projekt weise eine so hervor­ragende CO2-Bilanz auf, betonte auf Nachfrage der Republik das Hochbau­amt, dass es sogar «einen Beitrag zur Erreichung des städtischen Netto-null-Ziels leisten» könne! Aber damit nicht genug.

Die neue Anlage soll nämlich auch noch dem «Boom» des Schwimm­sports Rechnung tragen. Rund die Hälfte der stetig wachsenden Bevölkerung springt offenbar ins Wasser, um sich körperlich zu betätigen, wusste ein Mitglied der Grünen in der bereits erwähnten Ratssitzung. Und für das Wasser­springen und Synchron­schwimmen haben sich die Normen auch noch geändert. Das alte Hallen­bad, das immerhin noch steht und fröhlich von jungen und alten Wasser­ratten beschwommen wird, kann nicht mehr für Wettbewerbe gebucht werden, die Becken müssten um ein paar Bahnen erweitert werden. Okay.

Planschbecken, Nichtschwimmer­becken, Sprung­anlage, Töggeli­kasten, Aussen­spielplatz: Das Hallenbad Oerlikon hat alles …
… was ein Hallenbad so braucht. Ausser eine Zukunft.

Vor dem Hintergrund so vieler schlagender Argumente – also Umwelt­schutz, höhere Nutzungs­kapazität und, jawohl, Wettbewerbs­fähigkeit! – muss nur leider auch das gesamte alte Sport­zentrum Oerlikon mitsamt seiner Eishalle, seinen Eislauf­bahnen und Fussball­feldern unter freiem Himmel auf den Müll geschmissen werden. Und ja, Sie deuten den tendenziösen Ton an dieser Stelle genau richtig: Mit ihrem Widerstand gegen solche sogenannten Ersatz­neubau­projekte steht die SVP weiss Gott nicht mehr alleine da.

Im Kollektiv gegen die Bürokratie

Junge, kluge und auch ziemlich coole Architektinnen gehen neuerdings in Opposition gegen die Vorschlaghammer-Mentalität einer Stadt wie Zürich, rund zwanzig Leute sind es insgesamt. Wer hätte das gedacht? Sie haben zu Zeiten des ersten Shutdowns ihr Studium an der ETH oder einer der anderen ausgezeichneten Architektur­schulen des Landes zum Abschluss gebracht, sich dann aber nicht vollkommen depressiv in ihre Studenten­buden zurück­gezogen oder von einem der grossen, erfolg­reichen Büros verhaften lassen, um in Akkord­arbeit Küchen für Luxus­wohnungen zu planen.

Stattdessen vernetzten sie sich über Zoom und gründeten ein Kollektiv namens ZAS*, um den Status quo der «Auseinander­setzung mit Bestehendem» zu hinter­fragen. Das mag auf Anhieb etwas schüchtern klingen. Im Detail zeigt sich jedoch schnell, dass man es mit Revoluzzern zu tun hat, die schlicht und einfach das Vokabular der Bürokratie des Bauwesens beherrschen. Und das Beste daran ist, dass sie sich auf Vorbilder berufen, die eher in die Kategorien links, grün und sogar kommunistisch passen.

ZAS ist ein Akronym für Zürcher Arbeits­gruppe für Städte­bau, und eine Organisation mit diesem Namen hat es schon einmal gegeben. Zwischen 1959 und 1989 kämpfte die ursprüngliche ZAS für eine humane Stadt, die nicht von General­unternehmen flächen­deckend neu überbaut und um ihre Eigenheiten und Wahr­zeichen gebracht wird. Im Zentrum ihrer ersten Projekte stand eine alte Halle am Limmatquai.

Seit Mitte des 19. Jahr­hunderts war der Metzger­markt, das Internet erinnert sich, in einem von Zürcherinnen offenbar gerne als «Kalbshaxen­moschee» bezeichneten Hallenbau mit byzantinischem Einschlag beheimatet, er lag wie ein langes Schiff an der schönen Rathaus­brücke. Sobald dieses blutige Gottes­haus im Jahr 1866 eröffnet wurde, änderten sich nur leider auch schon die Hygiene­regeln, und Fleischereien waren nicht länger auf den zentralen Verkaufs­ort angewiesen. Die Halle leerte sich peu à peu, fing auch noch an, den stetig zunehmenden Tram- und Autoverkehr zu behindern, und sollte schliesslich abgerissen werden. Die alte ZAS rief zum Protest auf, um das Denkmal vor der Zerstörung im Jahr 1962 zu bewahren. Lange Zeit trug ihr das den Ruf ein, «zu wenig revolutionär und in ihrem Aufbruch schluss­endlich eher konservierend» gewesen zu sein.

Angesichts des Klima­wandels haben sich die Kriterien für die Beurteilung von Gebäuden jedoch so drastisch geändert, dass ein politisches Schubladen­denken nach dem Motto: Wer für den Erhalt von altem Gemäuer ist, ist ein konservativer Heimat­schützer, zu den Akten gelegt werden muss.

Hand in Hand mit dem Klimaschutz

In Zürich zeigte nicht zuletzt der Protest gegen den geplanten Abriss der Maag-Hallen, wie sich auf doch recht neue Art und Weise plötzlich eine Liebe zum architektonischen Erbe mit der Sorge um den Klima­wandel zusammen­schliesst. Als entschieden wurde, dass die Hallen aus dem Schatten des Prime Tower verschwinden sollen, um drei neuen Gebäude­klötzen des Architektur­büros Sauerbruch Hutton aus Deutschland Platz zu machen, gründete sich ein Rettungs­komitee aus Architektinnen, Anwohnern und Aktivistinnen, das in offenen Briefen und auf Internet­seiten die «letzten Zeitzeugen des Industrie­zeitalters» zu einem «Schmelz­tiegel aller Farben, Formen und Kulturen» stilisierte, der zu einem «Anker­punkt» für «sehr viele freischaffende Künstler*innen und Companien» geworden sei.

Offizielles Baudenkmal: 1942 wurde die Härterei der Maag-Zahnrad­fabrik gebaut.

Die ausländische Presse liess keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Ersatzneubau-Strategie des Bauherrn Swiss Prime Site «ein abschreckendes Beispiel» und «der absolute Irrsinn in Sachen Nachhaltigkeit» sei: «Im Angesicht der Klima­katastrophe sollte eigentlich klar sein: Das Nieder­reissen von Gebäuden ist immer die schlechteste Lösung.»

Die junge ZAS* verfolgte diesen Protest aus nächster Nähe, unterschrieb auch den einen oder anderen offenen Brief. Das Gender­sternchen, um das sie das Kürzel der historischen Gruppe (die vor allem aus Männern bestand) ergänzte, unterstreicht ebenfalls, wo sie steht: Sie agiert zeitgemäss.

Zum ersten Mal traf die Republik im Spät­sommer vergangenen Jahres, kurz nachdem über das Sieger­projekt für das neue Sport­zentrum Oerlikon entschieden worden war, drei Mitglieder der ZAS* auf einer alten Fabrik­etage im Zürcher Quartier Schwamendingen – und zwar Jakob Junghanss, Lukas Ryffel und Oliver Burch. Das Automobil­unternehmen Amag hat seine einstige Grossgarage vor Jahren verlassen, und die darf nun von Kreativen zwischen­genutzt werden. Breite Autorampen führen durch die riesige Parkgarage in die Obergeschosse. Es gibt auch einen alten Lasten­lift, der sich als Filmset für eine Eröffnungs­szene über Andy Warhols Factory in New York eignen würde. Hier haben sie es sich mit alten Sofas, Seifen­spendern von Aesop, Kaffee­maschinen, die bitteren Espresso ausspucken, Aschen­bechern und natürlich grossen Arbeits­tischen, auf denen Apple-Computer stehen, eingerichtet.

Bahnschienen auf dem Areal sind Hindernisse für Velofahrerinnen.
In den Gebäuden des Areals entstanden unter anderem Eventhallen.

Das Gebäude ähnelt eher einer Bohrinsel als einem Kreuzfahrt­schiff, aber gerade hat die ZAS* dazu eingeladen, gemeinsam mit ihnen auf dem Amag-Dampfer Urlaub zu machen und den Lärm der Autobahn, die gerade überdacht wird, als ein «ewiges Rauschen des Auto­meers» zu geniessen. «Wenn die Gäste der Titanic gewusst hätten, dass ihr Schiff sinken wird, wären sie sicher trotzdem zugestiegen», steht in einer Kolumne, die die ZAS* nun regelmässig für das Online-Medium «Tsüri» schreibt, um die Öffentlichkeit unter anderem davon zu überzeugen, dass selbst Autowerkstatt-Beton­bunker einen ästhetischen Wert haben.

Über Geschmack muss man streiten

Es ist zwar nicht gesagt, dass Geschmacks­urteile die Diskussion um Abriss oder Erhalt von Architektur in neue Bahnen lenken werden. Das Denkmal-Potenzial von einem alten Metzger­markt oder den Maag-Hallen scheint so gut wie allen klar zu sein – und trotzdem werden sie dem Erdboden gleich­gemacht. Und das Hallen­bad des Sport­zentrums Oerlikon hat 1979 einen internationalen Stahlpreis gewonnen, weil es unter der lustigen abgestuften Dachform und hinter der schönen Glasfassade eine so hohe «Leistungs­fähigkeit» und «Wirtschaftlichkeit» garantiere. In der Glasfront sitzen sogar Luftkanäle, die eine durchatmungs­fähige Stimmung verbreiten. Sobald es um die Freigabe von Geldern für Ersatz­neubauten geht, spielen ästhetische Kriterien aber dennoch eine Rolle – es müssen schliesslich gute Argumente gefunden werden, weshalb der Wert des alten Gemäuers mir nichts, dir nichts durch einen Neubau ersetzt werden darf.

Auf der Fabriketage des Kreuzfahrt­schiffs in Schwamendingen zeigen die Mitglieder der ZAS* auf ein Architektur­modell, das eine Reihe von Wohnungs­bauten am Stadtrand in Altstetten auf die Grösse von Streichholz­schachteln bringt. Wie so oft wurde ein offener Wettbewerb ausgeschrieben, über den die Stadt im Sommer 2021 eine Verdichtung für eine alte Siedlung, in diesem Fall die Siedlung Salzweg, ermitteln wollte. Die Siedlungs­bauten wurden von dem Architekten Manuel Pauli in den 1960er-Jahren entworfen und befinden sich laut Stadt «bautechnisch und energetisch in einem sehr schlechten Zustand», sodass «ein Ersatz­neubau einer umfassenden Instand­setzung vorgezogen» werde.

Gestaffelte Platten­bauten: Im Zürcher Quartier Altstetten entstanden von 1965 bis 1969 die Häuser der Siedlung Salzweg.
Vier dieser «Hofraum­gruppen» sollten es werden …
… am Ende wurden zwei gebaut. Nun werden auch diese ersetzt.

Jakob Junghanss, Lukas Ryffel und Oliver Burch schlossen sich mit zwei weiteren Mitgliedern der ZAS* – Jens Knöpfel und Tamino Kuny – kurz, um sich diese Bauaufgabe genauer anzuschauen. (In der Gruppe gibt es auch eine ganze Reihe von Leuten, die sich mit dem weiblichen Pronomen sie, she oder anderen identifizieren, nicht dass durch diese Jungs ein falscher Eindruck entsteht.) Wie alle anderen teilnehmenden Büros durften sie dann ein Modell der Umgebung abholen gehen: Die alte Siedlung, die noch steht und bewohnt wird, war darin allerdings gar nicht mehr vorhanden, das heisst, die Stelle, an der sie in Miniatur hätte auftauchen müssen, wurde wie eine Baulücke präsentiert.

Aus Sicht der ZAS* ist diese Geste symptomatisch, eine Art Reflex in Sachen Verdichtung, die nur ein Ziel hat: «Abriss, Tabula rasa, Neubau». Sie verfassten daher einen Wikipedia-Artikel, um den Platten in all den Rottönen, die Eva Pauli, die Frau des Architekten, den Gebäuden immerhin als Kunst am Bau aufgedrückt hatte, wenigstens eine kleine Würdigung im digitalen Gedächtnis zu verleihen. Als Nächstes setzten sie einen Fragebogen auf, um aus all den Schlag­wörtern schlau zu werden, die immer auftauchen, wenn es um den Willen zum Abriss und Neubau geht. Was genau, wollten sie wissen, ist eigentlich eine «Quartier­aufwertung», «besonders gute Gestaltung» und «neue Siedlungs­identität»?

In Zukunft nur noch 2000 Watt

Hinter so einer Frage steht natürlich die von vielen Leuten geteilte Empörung, dass eine bewohnte Siedlung wie jene am Salzweg in den Köpfen von Entscheidungs­trägerinnen nur in etwa so viel zählt wie eine kaputte Kommode von Ikea. Und dass, wenn diese Entscheidungs­träger dazu gezwungen werden, ihre ästhetischen und sozialen Kriterien einmal offen­legen oder überhaupt definieren zu müssen, wahrscheinlich heraus­kommen würde, dass der neue Mensch allein in auf Effizienz getrimmten Gebäuden, hinter glatten Wänden und dicken, schall­isolierten Fenstern zu seinem Glück finden darf – nur dort, im verdichteten Wohnen, kann er schliesslich so wenig Heizungsluft wie möglich in die Atmosphäre blasen und verschwenden.

Die Schweiz hat diese Zukunfts­vision ja sogar auf eine Formel, die 2000-Watt-Gesellschaft, gebracht und auch schon das ein oder andere Mal vorgeführt, in welcher gebauten Welt sie eines Tages leben soll. Allein in Zürich wurden zwischen 2004 und 2014 ganze 12’200 von 18’000 neuen Wohnungen auf Grund­stücken gebaut, die von ihren Altlasten, also jenen Vorgänger­bauten, befreit wurden, wie sie in einer Siedlung Salzweg oder auch auf dem Maag-Areal an der Hardbrücke noch etwas länger überleben sollten.

In einem Bericht über diese erste Phase der Verdichtung werden über 600 solcher Ersatz­neubauten gefeiert, weil sie den «Wachstums­schub» der Stadt ermöglichten. Beim Durchblättern fällt einem jedoch auf, dass darin wohl auch deshalb solche Unmengen an Grafiken und Zahlen veröffentlicht werden, weil verschleiert werden soll, was für eine gesichtslose Masse aus der Summe der neuen Architektur à la quadratisch, praktisch, gut auftauchte.

Würde man all diese Neubauten auf einer Fläche zusammen­stellen, ergäbe sich der schmerzliche Anblick von unzähligen Strassen­zügen, ja von ganzen über Jahrhunderte gewachsenen Quartieren, die in nur zehn Jahren zertrümmert und «ersetzt» wurden.

So sieht eine Einhausung aus: Ein Projekt des Bundes­amts für Strassen und von Kanton und Stadt Zürich in Schwamendingen hat sich dem Kampf gegen den Lärm verschrieben (August 2021).

Die Architektinnen der ZAS* müssen sich nicht auf den Werbe­slogan einer Schokolade (quadratisch, praktisch, gut) berufen, um ihren Zweifel an dieser Raum­planung zum Ausdruck zu bringen. Die Behörde, die sie mit ihrem Fragebogen um Stellung­nahme baten, erledigte das selber. Phrasen zu «Quartier­aufwertung», «besonders guter Gestaltung» oder «neuer Siedlungs­identität» werden mit weiteren Phrasen aufgeladen: «Siedlungs­identität bedeutet z. B. Quartier­bezug, Aufenthalts­qualität, Wohnlichkeit, Massstabs­bezug», antwortete das Wettbewerbs­komitee. Und: «Der architektonische Ausdruck der neuen Siedlung ist qualitativ hochwertig und vermittelt Wohnlichkeit.» Aha.

Alte Salzweg-Platten­bauten, die entfernt auch immer etwas von Sowjet­union haben, sind damit definitiv nicht gemeint.

Die schönen Garten­städte, die an den Stadt­rändern in den 1950er-Jahren für die Schweizer Kernfamilie gebaut wurden, auch nicht. Sie sind grössten­teils «durch ihre zentrums­nahe Lage einer neuen Klientel mit erhöhten Ansprüchen gewichen».

Und noch nicht allzu alte Büro­komplexe, die besonders gerne als «reine Spekulations­objekte» behandelt werden und daher «eher eine geringe Wert­schätzung im Vergleich zu anderen Bautypen» erfahren, werden ebenfalls fröhlich abgerissen.

In einem Booklet der ZAS*, das sich wie eine Mischung aus Trauer­anzeige und Protest­plakat liest, werden deshalb auch der Orion-Komplex in Zürich-West – «1989 gebaut, 30’000 Quadratmeter Nutz­fläche, 2019 ersetzt» – und das Mythen­schloss am Mythen­quai – «1987 gebaut, 20’000 Quadrat­meter Nutzfläche, 2020 abgebrochen» – aufgelistet. Und last, but not least das besagte Sport­zentrum Oerlikon.

Die Sünde der Jugend

Aus dem Eintrag liest man bereits heraus, dass sich junge Leute nicht mehr durch strategische Entscheide vertreten sehen, die vor über zwanzig Jahren gefällt wurden, als sie noch die Primar­schule besuchten. Bei so manch einem Ersatz­neubau­projekt wird, wenn es laut und protestig wird, ja gerne auf den demos, das Stimm­volk, verwiesen, das nach allen politischen Regeln über Sonder­bauvorschriften, Projektierungs­kredite und what not abgestimmt hat, damit die Bauherren dann später frei walten und gestalten dürfen. So geschehen auch beim Maag-Areal, auf dem nun der Turm und bald nicht mehr die alten Industrie­hallen stehen. «Sollen Private über die kollektiv erinnerten, historischen Schichten einer Stadt verfügen dürfen? Das Quartier wehrt sich. Wir denken ebenfalls nein. Diese Schichten sind ver-dicht-bar», hält dem die ZAS* in einer E-Mail an die Republik entgegen, die nach dem Treffen verschickt wurde.

Auch eine leise Verwunderung über die Baustellen­politik in Oerlikon spricht aus dem Schreiben. Um den Schwimm­spass über die gesamte Neubau­phase der neuen Halle zu gewährleisten, soll diese nämlich auf einem anderen Grund­stück realisiert werden, einer Parzelle auf der nördlichen Seite der Wallisellen­strasse, die – Achtung! – unbebaut ist. Erst wenn diese neue Halle dann in einigen Jahren fertig­gestellt wird, soll das alte Bad abgerissen werden, um – Achtung! – wiederum Platz für eine freie Fläche, für Sport­felder, zu schaffen. Und das bedeutet, dass auch die alten Rasen­flächen um ein paar Meter verrückt werden. Architektur wird hier wie Schach­figuren behandelt, die man einfach austauschen und rochade­mässig von einem Feld zum nächsten schieben kann.

Auf dem Areal Brunaupark in Zürich ist die Strassen­überquerung auch für Katzen sicher …
… doch die vielen Wohnungen müssen vielleicht einem modernen Stadtteil weichen.

Für äusserst problematisch, das geben die ZAS*-Architekten auf der Fabrik­etage im Gespräch zu Protokoll, halten sie schliesslich, dass die Grundstücks­fläche der bisherigen Eishalle nach ihrem Rückbau dann auch noch als Reserve für eine mögliche Erweiterung der Messe verhandelt wird, jedoch niemand auf die Idee zu kommen scheint, die bestehende Architektur für solche Zwecke zu erhalten und umzunutzen. (Die Hockey­profis von den ZSC Lions, die hier das ein oder andere Training absolvierten, freuen sich schon lange auf ihre neue Megahalle in Altstetten, nur verzögert sich ihr Einzug, weil im Neubau offenbar ein paar Schrauben locker sind, wie der «Blick» kürzlich berichtete. Nun ja.)

Graue Energie für einen grünen Planeten

Die Bedürfnisse ändern sich. Und die Architektur muss sich diesen unterordnen. Ihr Haltbarkeits­datum verfällt nach 60 bis 80, maximal 100 Jahren. Keines der Mitglieder der ZAS* ist Anhänger von kruden Anti-Wachstums-Ideen, auch die berühmte Verdichtung, die so viele Abrisse und Ersatz­neubauten rechtfertigt, ist in ihrem Sinne. Schliesslich soll sie das schöne Land vor den Toren der Städte davor bewahren, zu weiterem Agglo-Territorium verwüstet zu werden. Nur sollte Verdichtung eben nicht wie zusammen­pressen oder dicht machen aussehen und ausschliesslich auf ökonomischen Regeln beruhen, die der Profit­maximierung dienen.

Im Sinne der Romantiker könnte man Ver-Dichtung auch als poetisches Programm verstehen, das die Städte in Wimmel­bilder verwandelt, in denen Menschen, Maschinen, Tiere und Pflanzen auf einem alles miteinander verbindenden Abenteuer­spielplatz zusammen­leben: eine Art Ver-City-Dichtung. Eine Stadt wie Zürich steht nun aber leider im Begriff, das Fundament für so eine Poesie – die vielen niedlichen Stöckli, rostroten Platten, monströsen Fabrik­gebäude und mausgrauen Betontürme – auszuhebeln.

Im Abriss-Fall der Personal­türme des Triemli­spitals hinkt so eine Metapher ein wenig: 2023 sollen sie bis auf ihr Untergeschoss rückgebaut werden, das heisst, ihr Fundament wird gar nicht ausgehebelt. In ihrer Kolumne über die Beton­teile fällt aber das eine grosse Stichwort, das den Aktivismus der ZAS* am stärksten antreibt: die sogenannte «graue Energie». Der Gruppe geht es nicht nur um den Fortbestand von heterogenen Stadt­räumen, sondern um den Schutz, den sie für die Umwelt bieten.

Bei drei Türmen à 15 Stock­werken kommt einiges an Beton zusammen. Die graue Energie umfasst allerdings weitaus mehr als das verbaute (graue) Material, die Rohstoffe. Für den Bau werden Transport­mittel und -wege gebraucht, Bagger, Kräne, Zement­mischer und so weiter. Und dann wären da noch die vielen Bauarbeiter, die harte körperliche Arbeit verrichten. Einige plädieren sogar dafür, das Kapital in die Berechnung dieser grauen Energie aufzunehmen, sich also zu fragen, was wann wie wo geschehen musste, damit eine Bauherrin zig Millionen Franken in die Hand nehmen konnte, um einen Neubau zu stemmen.

Ach ja: Auch der Aufwand des Recyclings und der Entsorgung, also all das, was getan werden muss, damit ein Gebäude sich praktisch in Luft auflösen kann, sollte noch bedacht werden.

Wäre Architektur ein Körper, könnte man die Berücksichtigung der grauen Energie auch als ganzheitlichen Ansatz verstehen, der den gesamten Kreislauf des Lebens eines Gebäudes – mit allem, was zu seiner Entstehung und Beerdigung beigetragen hat – ins Auge fasst. Das verändert auch den Blick auf die Lebens­dauer von Architektur, die bisher ausschliesslich im Rahmen der aktiven Gebäude­nutzung berechnet wurde. Allein in einer Stadt wie Zürich mit all den alten Gebäuden, von denen hier ein paar mühsam aufgezählt und aus Berichten über Ersatz­neubauten heraus­gesucht wurden, kommt da am Ende so viel an Energie, CO2-Emissionen und Dreck zusammen, dass es die Vorstellungs­kraft beinahe sprengen muss.

Geschichte versus Zukunft

Aber das ist nicht das grösste Problem einer Klima­bilanz, welche die graue Energie miteinbeziehen will. Die eigentliche gesellschaftliche Heraus­forderung für ein Land wie die Schweiz besteht darin, dass so eine historische Rückschau, wenn sie präzise durchgeführt würde, die 2000-Watt-Zukunfts­vision aller Wahrscheinlichkeit nach ausbremsen, um nicht zu sagen begraben würde.

Die Architekten der ZAS*, die sich an dem Wettbewerb für die Ersatz­siedlung Salzweg beteiligt haben, beliessen es jedenfalls nicht bei ihren Nachfragen über die Ästhetik von Fassaden und Strassen­zügen. Sie wollten, dass das Hochbau­amt alle Dokumente und Zahlen offenlegt, auf denen sein Entscheid für das Abriss­urteil beruht. Laut Stadt befinden sich die alten Platten­bauten angeblich, wie bereits zitiert, «bautechnisch und energetisch in einem sehr schlechten Zustand», sodass sie einen «Ersatz­neubau einer umfassenden Instand­setzung vorgezogen» hat. Jakob Junghanss, Lukas Ryffel, Oliver Burch, Jens Knöpfel und Tamino Kuny verlangten deshalb Angaben zu den Bestands­plänen, die Grundrisse, Schnitte, Konstruktions­details, Bau­materialien und so weiter. Auf dieser Basis hätten sie heraus­finden können, welche Menge an grauer Energie gegen die Energie, die ein Ersatz­neubau einsparen würde, aufgerechnet werden muss und welche Potenziale es geben könnte für eine Sanierung oder einen Umbau.

«Die Frage bezüglich Erhalt oder Ersatz der Bestands­bauten ist ein strategischer Entscheid, welcher nicht einem Wettbewerbs­verfahren überlassen werden soll», lautete die Antwort, die sie bekamen. Ausserdem: «Weiter­gehende Unterlagen zum Zustand des Bestandes und Unterlagen, die zum Entscheid für den Ersatz­neubau geführt haben, werden nicht ausgegeben.» Die Architekten hakten nach, die Antwort der Behörde: «Ja, es wurden Studien gemacht. Nein, diese Studien werden nicht ausgegeben.» «Nein.» «Nein.»

«Produktive Verunsicherung»

Zwei weitere Mitglieder des Kollektivs – der Architekt Christoph Zille und die Künstlerin Leonie Wohlgemuth – reichten trotzdem einen Entwurf ein, durch den ein grosser Teil des Salzweg-Bestandes erhalten worden wäre und dennoch mehr Bewohnerinnen in lichteren Wohnungen hätten untergebracht werden können. Die Bauvorschriften ändern sich im Laufe der Jahre, an so manch einer Stelle in der Siedlung darf die neue Gebäude­höhe gar nicht mehr die alte erreichen. Wenn alles abgerissen wird, verliert die Stadt also die Dichte, die sie an anderer Stelle mit einem Neubau wettmachen möchte. Hallo, da wären sie wieder, die Schach­figuren und die schöne neue absurde Baubürokratie. Endlich wird sie von jungen Architekten infrage gestellt und sichtbar gemacht.

Wenn dereinst alles zugedeckelt ist, sollen sich die Schwamendingerinnen an einem grünen Freiraum erfreuen können (August 2021).

Immerhin wurde der Beitrag von Zille und Wohlgemuth namens Bronko mit dem 7. Preis ausgezeichnet, bekam dann allerdings einen Stempel aufgedrückt, der ihn wie ein Kind dastehen lässt, das zwar schlau sein mag, aber einfach nichts zu melden hat: «Produktive Verunsicherung» habe das alles gebracht. Yes. Auf so eine Kategorie muss man erst einmal kommen. Für die junge ZAS* mit dem Gender­sternchen ist es aber vielleicht keine unangemessene.

Viele Ideen, wie das Ökosystem Erde mit dem Bauwesen zu vereinen ist, stecken noch in den Kinder­schuhen (um in dem Jargon zu bleiben). Wenn Architektur immer nur eine vorläufige Antwort auf gegenwärtige Bedürfnisse ist – und das beweisen Sport­zentren wie in Oerlikon mit ihren Schwimm­bahnen und von Eishockey­spielern im Stich gelassenen Eishallen ja besonders drastisch –, dürfte eigentlich kein weiterer Stein und Sand mehr aus der Erde gebrochen werden. Alle Ressourcen, die bereits ausgebeutet und in Umlauf gebracht worden sind, müssten dokumentiert werden. So bekäme auch jedes Gebäude einen Material­pass, eine Identität, und wäre nicht nur anonymer Abfall, der irgendwann zur Seite geschafft wird, ohne dass es jemanden jucken würden. Für die begrenzte Fläche der Erde gibt es bereits ein Register, das alle Liegenschaften und Grund­stücke verzeichnet, den sogenannten Kataster. In Zukunft braucht es einen «Madaster», der Aufschluss über die begrenzten Materialien gibt, Wissen darüber vermittelt, was sich wo auf der Erde gerade aufhält, um benutzt und wiederverwertet werden zu können.

Gegenwärtig ist so ein Szenario noch eine Utopie, die anlässlich der letzten Architektur-Biennale in Venedig aber schon einmal ausführlich diskutiert wurde. Beruhigend, dass es nun auch in der Schweiz, in Zürich, eine neue Generation von Architektinnen gibt, die Bauherren dazu bringen wollen, sie in die Tat umzusetzen.

Das ehemalige Flaggschiff des Automobil­unternehmens Amag in Schwamendingen ist weder eine Bohrinsel noch ein Dampfer. Es ist ein Dinosaurier, sagte ein Kollege neulich am Telefon.

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