Die Schriftstellerinnen: Juri Andruchowytsch, Yevgenia Belorusets, Serhij Zhadan, Tanja Maljartschuk (von links).

Sie erzählen vom Krieg

Was passiert da? Die ukrainische Literatur der letzten Jahre hilft beim Verstehen. Welche Bücher jetzt das Lesen oder Wiederlesen lohnen.

Von Daniel Graf (Text) und Agata Nowicka (Illustration), 12.03.2022

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Putins Krieg hat das westliche Europa überrumpelt. Aus ukrainischer Perspektive dürfte die Überraschung vor allem darin bestehen, wie überrascht Europa war.

Schon seit Jahren herrscht im Osten der Ukraine Krieg. Seit Jahren schreiben die bekanntesten Schrift­stellerinnen des Landes in unterschiedlichsten Formen und Text­sorten darüber. Und schon lange bevor Putins Armee nun damit begonnen hat, das ganze Land zu überfallen, haben Autoren der Bedrohung durch imperialistische Bestrebungen im Kreml literarisch Ausdruck verliehen.

Welche Bücher lohnt es jetzt zu lesen? Welche Autorinnen sollte man unbedingt kennen?

Wir stellen vier von ihnen vor.

Prophetische Schreckens­vision – Juri Andruchowytsch

«Dann wird unsere letzte und endgültige Auferstehung kommen», beginnt Schwarz­strumpf wieder zu sprechen und übertönt die Welle von Applaus und Enthusiasmus. «Die amputierten Arme und Beine wachsen wieder zu einem Ganzen zusammen. Die Idee der, pfui, Unabhängigkeit erleidet eine globale Niederlage und wird im Bewusstsein der Menschen gleich­gesetzt mit National­sozialismus oder sogar mit sexueller Perversion. Alle gelüstet es nach der verbotenen Frucht des Imperiums.»

Aus «Moscoviada» von Juri Andruchowytsch.

1992. Man kann es im Rückblick kaum glauben, dass Juri Andruchowytsch diesen Text tatsächlich schon 1992 geschrieben hat. «Moscoviada», 1993 in der Ukraine und 2006 in der Übersetzung von Sabine Stöhr auf Deutsch erschienen, liest sich, von heute aus betrachtet, wie die Vorweg­nahme eines nun eingetretenen Horrorszenarios.

Andruchowytsch porträtiert das Moskau der allerersten Nachwende­tage, unmittelbar nach dem Zerfall der Sowjet­union. Der «ukrainische Dichter Otto von F.», in vielem ein Alter Ego des Autors, ist für sein Studium am Gorki-Literatur­institut in das zugehörige Wohn­heim gezogen. Moskau ist das Mekka der post­sowjetischen Intelligenzija, zugleich ein Ort, für den das Wort Moloch hätte erfunden werden können. Und das neue Freiheits­versprechen, das sich mit der Stadt verbindet, ist von Beginn an durchsetzt mit sowjet­nostalgischen Grossmacht­fantasien, die bereits wieder kräftiger erblühen als die einheimische Wirtschaft (selbst der Wodka ist knapp).

Vollgepackt mit Anspielungen auf die osteuropäische Literatur­szene und den Kanon von Dante bis Joyce, ist der Roman als Höllen­fahrt seines Helden angelegt.

Eine Roman­hälfte lang lässt Andruchowytsch den hoffnungs­vollen Jung­dichter mal breitbeinig, mal desolat durch Moskaus Stuben, Strassen und Spelunken irren, dann geht es nur noch abwärts: in die Katakomben und in die Abgründe der Geschichte. Und das alles, weil Otto von F. losgezogen ist, um im Kaufhaus «Kinder­welt» Geschenke zu besorgen.

In teils zotigen, teils suadahaften Sätzen, die bis zum Bersten gespannt sind, fängt Andruchowytsch die explosive Atmosphäre einer Stadt in der Epochen­wende ein: das orientierungslose Taumeln und Delirieren, «die ganze Lebens­unfähigkeit von Mama Imperium», das Aufeinander­prallen unvereinbarer Zukunfts­hoffnungen. In einer Art Schock-Collage entsteht das Sitten­gemälde einer zutiefst brutalisierten, vulgarisierten Gesellschaft.

Überdeutlich zeigt sich die Gegenwart durchdrungen und belastet von der Geschichte (und ihren Instrumentalisierungen). Unausweichlich wirkt der Verortungs­zwang, mit dem jede und jeder sofort in ein Raster von Herkunft und Zugehörigkeit einsortiert wird. Durchweg wird das Ineinander von National­chauvinismus und Sexismus greifbar, und es gehört zu Andruchowytschs erzählerischer Konsequenz, dass er auch seinen Helden von einer chauvinistischen Macker­haltung nicht frei hält. Wenn der angehende Jung­dichter Otto von F. in Du-Anrede die eigene Irrfahrt kommentiert, erscheint er immer auch als unzuverlässiger und keineswegs nur sympathischer Erzähler, mit dem wir eben doch mitleiden, weil er uns mit schneidendem Witz und durch die maliziösen Pointen seiner Fabulier­kunst für sich einnimmt.

Wenn Ottos Weg dann immer weiter in die Untiefen der Moskauer Unterwelt führt, steuert der Roman auf seine Höhepunkte zu.

In einem Flashback geht es zunächst zurück in die 80er-Jahre. Otto, der versucht, «in diesem Meer aus Scheisse sauber zu bleiben», wird vom KGB als potenzieller Spitzel umworben.

Die Episode über die perfiden Psycho-Strategien des KGB ist fulminant. Und sie bekommt vor dem Hintergrund jüngerer Putin-Reden neue Aktualität. Otto nämlich wird von den russischen Agenten durch die Drohung erpresst, ihn als Enkel von faschistischen ukrainischen Kriegs­verbrechern öffentlich zu diskreditieren. Die Instrumentalisierung von Faschismus­vorwürfen gegen ukrainische Bürger: Auch Andruchowytsch hätte sich wohl nicht träumen lassen, dass Putin heute noch viel skrupelloser auf dieser Klaviatur spielt und bar jeden Realitäts­bezugs selbst die Regierung eines jüdischen Präsidenten als «Bande von Drogen­abhängigen und Neonazis» diffamiert (was einer antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr gleichkommt).

Zu einem geradezu prophetischen Text aber wird Andruchowytschs Roman durch seine Schlussszene.

Als Otto von F. endlich das Kaufhaus «Kinder­welt» erreicht und sich ihm die Erkenntnis aufdrängt, dass vielleicht «unseren Kindern genau hier ihre Kindheit verloren» geht, folgt er einem Taschen­dieb bis ins Kaufhaus-Keller­geschoss. Dort kommt es nicht nur zu einem brutalen Kampf; Otto von F. gerät von hier aus auch immer tiefer in die Unterwelt der Stadt. Ausgerechnet der Keller der «Kinder­welt» wird zum Symbol für den Morast, das Abgründige der Kreml-Stadt und das Bodenlose aller Freiheits­hoffnungen.

Über eine für diesen Roman typische Kaskade von immer neuen, sich ins Groteske steigernden Episoden landet Otto schliesslich in einem surrealen Fratzen-Karneval: eine Art Partei­tag als finsterer Maskenball.

Der Redner vorne hat einen schwarzen Strumpf über den Kopf gezogen, «mit einem Schlitz für den Mund» (weshalb der Erzähler ihn fortan Schwarz­strumpf nennt). Publikum und Präsidium, sie alle lassen in ihren Verkleidungen Figuren der russischen Geschichte auferstehen: Da sind Lenin, Iwan der Schreckliche, Katharina II. und weitere Gestalten aus den Geschichts­büchern: «ein Toten-Symposion über unsere Zukunft».

«Eine Grossmacht sein oder nicht sein», predigt Schwarz­strumpf sein Motto und kündigt die Auferstehung des Imperiums an. «Die amputierten Arme und Beine wachsen wieder zu einem Ganzen zusammen», verkündet er der jubelnden Zuhörerschaft, die Idee der Unabhängigkeit werde endgültig eine globale Niederlage erleiden. Man habe «ein tausendjähriges Ziel», und dieses «heisst Unterwerfung der Welt».

Mit Schwarz­strumpfs Rede vor einem Grusel­kabinett der Geschichts­klitterung hat Andruchowytsch bereits Anfang der 90er die Bedrohung durch einen sowjet­nostalgischen Imperialismus ins Bild gesetzt, dem der Zerfall der Sowjet­union nur als Triebkraft eines erneuten Grossmacht­anspruchs dient. Die Schluss­szene von «Moscoviada» ist eine literarische Farce, deren beklemmend realistischer Hintergrund heute grell vor Augen tritt. Andruchowytsch, so muss man schlussfolgern, hat die konkrete Kriegs­gefahr durch imperialistische Ideologen bereits im Moskau der ersten Nachwende­zeit ausgemacht.

Im Roman verlässt der Erzähler schliesslich die Stadt Richtung Kiew – wie zuvor schon der Autor selbst. Im Nachwort zur deutschen Ausgabe von 2006 schrieb Andruchowytsch, er habe damals gehofft, die «imperialen Gespenster» würden bald vertrieben sein, doch:

Heute, vierzehn Jahre später, muss ich konstatieren: Sie sind viel stand­fester, lebendiger, mithin überhaupt keine Gespenster. Bewaffnet mit einer Gaspipeline verfolgt Schwarz­strumpf seinen superambitionierten Plan weiter.

Weitere 16 Jahre später wäre hinzuzufügen: Schwarz­strumpf sitzt im Kreml an einem sehr langen Tisch, und statt der Gas­pipeline hat er längst zu ganz anderen Waffen gegriffen.

Aufruf zum Selberdenken – Yevgenia Belorusets

Er beschloss, das sagte er am Anfang nur zu sich selbst, zu heiraten, aber keine Frau, sondern jemand anderen, jemand Wichtigeren und Seriöseren. Er suchte eine Lebens­aufgabe, der er gewachsen war, und fand sie. Er heiratete den Krieg.

Aus «Glückliche Fälle» von Yevgenia Belorusets.

Andere Entstehungs­zeit, ganz andere Art von Literatur.

Es sind kurze, oft nur zwei bis drei Seiten lange Erzählungen, die Yevgenia Belorusets in ihrem Text- und Fotoband «Glückliche Fälle» versammelt. Jahrelang hat die in Kiew (und zeitweise in Berlin) lebende Fotografin und Schrift­stellerin das Leben in der Ukraine zur Zeit des Krieges im Donbass festgehalten, hat an unterschiedlichen Orten von der Ostukraine bis in den Westen des Landes Interviews mit den sogenannten «kleinen Leuten» geführt und deren Geschichten aufgeschrieben.

Die ukrainische Ausgabe des Buches von 2018 ist bewusst mehrsprachig gestaltet: Cover und Einführungs­text auf Ukrainisch, die Geschichten auf Russisch – der Sprache, in der Belorusets sie auch geschrieben hat. 2019 erschien der Band in der Übersetzung von Claudia Dathe auf Deutsch.

Es ist ein Buch, das auf ganz eigene Weise das Leben im Krieg dokumentiert. Denn was Belorusets beschreibt und abbildet, findet abseits der Kampf­zonen statt. Und auch wenn die Komposition des Bandes zweifellos auf ein dokumentarisches Anliegen deutet, sollte dies nicht darüber hinweg­täuschen, wie sehr sich ihre Foto­arbeit einem illustrativen Verhältnis zu den Texten entzieht. Und wie bewusst literarisch ihre Prosa gearbeitet ist. Mal mit programmatischem Nachdruck, mal mit gezielter Ironie setzt sich Belorusets gleich zu Beginn denkbar weit vom Genre der Kriegs­reportage ab.

«Die inhaltlichen Linien dieses Buches», so heisst es im Vorwort, «widmen sich nicht den Umbruchs­geschichten der Gegenwart, sondern, wie man beim flüchtigen Hinsehen glauben könnte, ihren Rändern.» Diese Geschichten haben ihren Ort also abseits der Frontlinie. Aber – das bringt der Einschub vom «flüchtigen Hinsehen» ganz beiläufig auf den Punkt – damit sind sie keineswegs «Rand­geschichten», sondern Erzählungen vom Krieg: reale Erfahrungen zur Zeit des Konflikts.

Die Autorin hat es «geschafft, ein Vorwort zu schreiben, von dem man sich nur schwer losreissen kann. Noch jetzt zittern mir die Hände, wenn ich an dieses Muster­beispiel für einen in eine grandiose Form gekleideten Inhalt denke.»

Sagt wer? Der Rezensent?

Nein, die Autorin selbst, gleich im nächsten kurzen Text, einer Art Nachwort zum Vorwort. Und damit ist klar, wie spielerisch und selbst­ironisch dieses Buch stellen­weise eben auch ist. Das liegt allerdings nicht an blosser Pointen­lust der Autorin. Vielmehr folgt Belorusets konsequent einer aufklärerischen Ästhetik, in der das Durchkreuzen von eingeübten Erwartungs­haltungen und Rezeptions­mustern eine zentrale Rolle spielt. Es geht ihr, um noch einmal das Vorwort zu zitieren, um eine «Absage an den Einsatz von jeglichen Instrumenten der Vergewisserung». Produktive Irritation, könnte man auch sagen. Ein Aufruf zum Selber­schauen und Selber­denken, zur Ausprägung eines Sinns für das vermeintlich «Unbedeutende und Kleine, das Zufällige und Überflüssige».

Da ist etwa die Floristin mit dem «Kamillen­blüten­gesicht», die «exotische, eigentlich gar nicht existierende Wörter für Blumen, Farbtöne und Blüten­blätter» so euphorisch ausspricht und betont «wie ein Kind die ersten Gedichte»: «Sie wusste, dass die Leute bei ihr weniger Blumen als vielmehr Namen kauften.» Dann aber stockt die Erzählstimme.

Was erzähle ich hier eigentlich? Hat es überhaupt Sinn, die Geschichte fortzusetzen? Eigentlich gibt es gar keine Geschichte, die Erzählung hört auf, bricht ab.

Doch mehr Geschichte als das, was sie dann noch im Zusammen­fassungs-Sound nachschiebt, geht gar nicht:

Die Floristin ist verschwunden. Das Haus, in dem sie gewohnt hat, ist zerstört, ihr Blumen­laden zu einem Depot für Agitations­literatur geworden. Ihre Stamm­kunden haben Donezk längst verlassen.

Es sind kurze, oft skurrile Anti-Fabeln, die Belorusets erzählt. Ihre Fotos: Still­leben aus Natur und verfallenden Artefakten. Das Verbindende zwischen Text und Bild ist bei Belorusets allerdings nicht der doppelte Zugriff auf dieselbe Wirklichkeit, sondern ein bestimmtes Verständnis von Aufmerksamkeit: für das Überraschende und Übersehene.

Dadurch gehört «Glückliche Fälle», der Band mit dem durchaus abgründigen Titel, zu den Büchern, die in einem sehr konkreten Sinn unsere Perspektive erweitern.

Das gilt, in anderer Weise, auch für Tanja Maljartschuk. Bei ihr geht der Blick noch einmal tief in die Historie.

Die Archäologin – Tanja Maljartschuk

Die Einrichtung des Lehr­stuhls [für ukrainische Sprache] stellte in Slawistiker­kreisen eine anti­wissenschaftliche Sensation dar, denn die Mehrheit hielt das Ukrainische für einen Dialekt des Russischen oder des Polnischen oder beider Sprachen zusammen. Das Studium eines Dialekts auf Universitäts­niveau erschien völlig absurd.

Aus «Blauwal der Erinnerung» von Tanja Maljartschuk.

«Wieso gerade er?» Nein, so fängt Tanja Maljartschuk keine Liebes­geschichte an. Und doch beginnt die Heldin ihres Romans, selbst eine Schrift­stellerin, in diesen Worten von dem Mann zu erzählen, dem sie wie besessen ihre Zeit widmet, seit er durch die Meldung von seinem Tod in ihr Leben trat.

«Wjatscheslaw Lypynskyj ist tot»: So lautete die Schlag­zeile im Juni 1931 auf der Titel­seite der Zeitung «Swoboda», die in den USA von der ukrainischen Diaspora heraus­gegeben wurde. Ein Zufalls­fund im Archiv. Doch seither lässt sie die Frage nicht mehr los: Wer war der Mann, dessen Nachruf in jener Ausgabe der «Swoboda» wichtiger war als alles andere sonst? Was hat er mit ihrem eigenen Leben zu tun, ausser dem blossen Zufall, dass er «am selben Tag geboren» ist, «allerdings exakt hundert Jahre vor mir»? Warum sucht sie in ihrer tiefen Lebens­krise plötzlich Halt in der manischen Erforschung einer nahezu vergessenen Biografie?

Tanja Maljartschuk, die in Iwano-Frankiwsk geboren wurde und seit 2011 in Wien lebt, verknüpft in ihrem Roman «Blauwal der Erinnerung» den fiktiven Plot um ihre Protagonistin mit der historischen Lebens­geschichte von Wjatscheslaw Lypynskyj, einem Gelehrten, Botschafter und wort­mächtigen Vertreter der ukrainischen Unabhängigkeit. Dabei war Lypynskyj 1882 als Sohn einer polnischen Adels­familie unter dem Namen Wacław Lipiński zur Welt gekommen. Was mitten in die Themen dieses Romans führt.

«Nennt mich nicht Wacław. Ich heisse Wjatscheslaw», bittet Lypynskyj im Alter von 19 seine Familie. Längst spricht er Ukrainisch, bald wird er in Krakau nicht nur Agrar­wissenschaften studieren. Ab 1903 hört er Vorlesungen in Ukrainistik, kommt über seinen Professor mit bedeutenden ukrainischen Geistes­grössen in Kontakt – und widmet sein ganzes, von chronischer Krankheit geprägtes Leben dem Ziel eines unabhängigen ukrainischen Staates.

Mit Lypynskyj wurde die ukrainische Noblesse zu Grabe getragen. Er war ein verrückter Tuberkulose­kranker. Ein Einsiedler. Jahrelang hatte ihn niemand gesehen. Doch alle lasen, was er schrieb.

Im Lypynskyj-Strang ihres Romans liefert Maljartschuk nicht nur die Roman­biografie eines damals viel beachteten und zugleich hoch umstrittenen Gelehrten, der später selbst in Osteuropa fast in Vergessenheit geriet. Sie macht auch zwei zentrale Aspekte des bis ins Heute reichenden Konfliktes fassbar.

Erstens: Wie hochpolitisch seit jeher die Frage nach der ukrainischen Sprache ist.

Nicht nur Lypynskyjs polnische Adels­familie in Maljartschuks Roman hielt das Ukrainische für einen primitiven dörflichen Dialekt, für eine «Mischung aus Polnisch und Russisch», die «doch keine Sprache» im eigentlichen Sinne sei und die man «noch nie aus dem Mund eines gebildeten Menschen gehört» habe. «Im Russischen Reich», so heisst es bei Maljartschuk weiter, «bestand ein Druck­verbot für Schriften in der ‹klein­russischen Mundart›, das Verstecken eines der seltenen ukrainischen Wörter­bücher kam revolutionärer Tätigkeit gleich und wurde mit Gefängnis oder Verbannung bestraft.» Und als 1903 in Poltawa ein Denkmal für Iwan Kotljarewskyj als Begründer der ukrainischen Literatur aufgestellt werden sollte, wurde die Plakette mit dem Satz «Das Heimat­land seinem ersten Dichter Iwan Kotljarewskyj» untersagt:

Die zaristische Zensur verbot die Aufschrift, da sie offenbar fürchtete, auf den ersten Dichter könnten weitere folgen.

Zweitens: Maljartschuk schildert anschaulich die Zerstrittenheit der damaligen ukrainischen Autonomie­bewegung.

In der Figur Lypynskyjs kreuzen sich dabei progressives und konservatives Denken. Einerseits entwickelte er ein multiethnisch gedachtes «Prinzip der Territorialität», das «jegliche Feindschaft zwischen Klassen und Nationen» ausschloss, wie es die Roman­erzählerin schildert. So trat er auch der Kriegs­begeisterung weiter Teile der ukrainischen Elite vehement entgegen, die den «Krieg als einzige Möglichkeit der nationalen Befreiung» sah. Andererseits stand Lypynskyj der Demokratie­bewegung fern und blieb Anhänger einer konstitutionellen Monarchie.

Tanja Maljartschuk bindet den historischen Stoff in beeindruckender motivischer Dichte mit der fiktiven Geschichte um ihre Erzählerin zusammen. Beide Handlungs­stränge sind von einer ebenfalls politisierten Liebes­geschichte durchzogen (Lypynskyjs Frau Kazimiera, eine scharf­sinnige Intellektuelle und Anhängerin des Frauen­wahlrechts, ist der faszinierendste Charakter des gesamten Buches). Ausserdem ist der Roman eine literarische Philosophie der Erinnerung und eine Geschichte über transgenerationelle Traumata.

Das Buch lohnt die Lektüre aber auch, weil es nicht nur durch sein Glossar am Ende eine zentrale Erkenntnis vor Augen führt: wie wenig wir im Grunde von der ukrainischen Geschichte wissen. Romane wie dieser helfen, das zu ändern.

Apropos: Der vielleicht wichtigste ukrainische Autoren­name der letzten Jahre ist in diesem Text bislang nicht gefallen. Höchste Zeit, auch dies zu ändern.

Chronist des Kriegs – Serhij Zhadan

Die Soldaten stehen auf dem Vorplatz und rauchen. Wenn sie das Schul­gebäude betreten, putzen sie sich die Stiefel achtsam an einem frischen Lappen ab. Das Blut lässt sich nur schwer abputzen. Aber es geht.

Aus «Internat» von Serhij Zhadan.

Wollte man nur drei Seiten aus der ukrainischen Gegenwarts­literatur lesen, es müsste wohl die Einleitung zu Serhij Zhadans Buch «Warum ich nicht im Netz bin» von 2016 sein. (Allerdings: Wer würde nach der Lektüre noch an der absurden Drei-Seiten-Beschränkung festhalten?)

Was Zhadan dort an grund­sätzlicher Reflexion über den Zusammen­hang von Sprache und Krieg leistet, ist von ungebrochener Aktualität und der Grund, warum dieser kurze Text – ähnlich wie Andruchowytschs «Moscoviada» – in diesen Tagen wieder auf Bühnen vorgetragen wird (die Republik berichtete). Das Buch im Ganzen, Zhadans «Gedichte und Prosa aus dem Krieg», wie es im Untertitel heisst, gehört schon jetzt zu den bleibenden literarischen Dokumenten über den seit mittler­weile acht Jahre dauernden Krieg im Donbass.

Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk geboren und seit langem in Charkiw lebend, ist in den vergangenen Jahren zum populärsten Autor der Ukraine geworden, was auch mit seiner Doppel­begabung als Schriftsteller und Musiker zu tun hat. Seine Auftritte sind für unzählige Ukrainerinnen, insbesondere im Osten des Landes, bestärkende und Zuversicht spendende Solidaritäts­erfahrungen.

Der Krieg im Donbass ist auch das Thema seines Romans «Internat», der 2018 in Übersetzung von Juri Durkot und Sabine Stöhr erschien.

Obwohl darin nie ein konkreter Ort genannt wird, lässt sich als historischer Hintergrund der Kampf um den strategisch wichtigen Eisenbahn­knoten­punkt Debalzewe im Winter 2015 erkennen. Die von Russland unterstützten Truppen der selbst proklamierten «Volks­republiken» Donezk und Luhansk kesselten damals Debalzewe ein und zerstörten die Stadt weitgehend – während gerade das Friedens­abkommen Minsk II ausgehandelt wurde.

Vor dieser Folie erzählt Zhadans Roman die Geschichte des Ukrainisch-Lehrers Pawlo, der wegen der eskalierenden Kampf­handlungen seinen Neffen Sascha aus dessen Internat nach Hause holen möchte. Doch zwischen den beiden liegen unübersichtliche Front­verläufe, der fast völlige Zusammen­bruch der öffentlichen Infrastruktur und eine Wegstrecke, die in jedem Abschnitt tödlich sein kann. Pawlo, der bisher sein ganzes Leben lang klare Positionen und jegliche Verantwortung scheute, muss plötzlich seine eigenen Grenzen überschreiten. Und bald wird nicht nur das Leben seines Neffen von seinen Entscheidungen abhängen.

Zhadan hat dem Roman eine unerbittlich klare Struktur gegeben: Pawlos Weg führt zum Internat und, mit Sascha, wieder zurück. Doch das betrifft nur das Ziel. Für den Weg ist keinerlei Geradlinigkeit denkbar. Die vertraute Stadt ist vom Krieg zur Unkenntlichkeit entstellt. Alles ist dominiert von einer lebens­bedrohlichen Unübersichtlichkeit. Kaum irgendwo ist erkennbar, ob es besser ist, Ukrainisch oder Russisch zu sprechen. Nie ist klar, wo die eigene Stadt schon Feindes­land ist.

Das Internat, an dem unmittelbar die Front­linie verläuft, erscheint zunächst, wie Kafkas «Schloss», umso unzugänglicher, je näher Pawlo ihm kommt. Und als er seinen Neffen doch endlich erreicht, hat sich die Schlinge erst recht zugezogen: Das Internat wird zu einem Gefängnis, zu einem Symbol für die ganze eingekesselte Stadt. Noch innerhalb der Internats­mauern schliessen sich die verbliebenen Schüler vor der Bedrohung in kleinsten Zimmern ein – und sind dem äusseren Geschehen dadurch erst recht ausgeliefert. Krieg, das macht Zhadans Text auf beklemmende Weise sichtbar, bedeutet die maximale Unfreiheit.

Auch Zhadan, der Lyriker, hat an diesem Roman mitgeschrieben. Allein durch das Motiv des Fensters gelingt es ihm, im Grunde die ganze Geschichte zu erzählen.

Aus den zerbombten Häusern schauen keine Menschen, sondern nur «die zerbrochenen, böse starrenden Scheiben». Anderswo sind die Fenster «mit Sperrholz vernagelt. Auf dem Sperrholz alle möglichen Zeichen und Warnungen – was schon verübt worden ist und was noch verübt werden wird.»

Exakt in der Mitte des Buches, als Pawlo und sein Neffe aus dem Internat aufbrechen und die Direktorin und den Turnlehrer Valera als letzte Verbliebene zurücklassen, dann dieses Bild:

Sie umrunden die Schule. Im Fenster dunkelt der Turnlehrer­mantel. Man könnte fast glauben, es sei Valera, der ihnen zum Abschied zuwinkt. Nur dass das Gesicht nicht zu sehen ist. Und die Hände. Als ob es die Kleidung noch gäbe, den Menschen aber nicht mehr.

Zhadan schildert auch in drastischen und ungeschönten Szenen die Schrecken des Krieges. Doch es sind die Bilder wie jenes vom Turnlehrer­mantel, die das Grauen indirekt zeigen, die einen in diesem Text am stärksten erschüttern. Auch weil die Welt diesen längst stattfindenden Krieg viel zu lange ignoriert hat.

Das ist die vielleicht verstörendste Erkenntnis bei der Lektüre dieser Bücher: Wir hätten das alles wissen können.

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Es versteht sich eigentlich von selbst, aber vielleicht muss es dennoch gesagt werden: Das oben Vorgestellte ist ein winziger Ausschnitt aus der ukrainischen Gegenwarts­literatur. Selbst die Genannten haben ein viel breiteres Werk vorzuweisen. Und die Literatur der Ukraine, eines Landes der komplexen Vielsprachigkeit, ist nicht allein ukrainische Literatur.

Mehr noch: Selbst­verständlich leben Autoren mit ukrainischer Familien­geschichte auch in anderen Ländern und schreiben in den unter­schiedlichsten Sprachen. Die deutsch­sprachige Gegenwarts­literatur etwa wird von Autorinnen wie Katja Petrowskaja, Natascha Wodin, Yevgeniy Breyger, Lana Lux oder Dmitrij Kapitelman mitgeprägt, die Literatur der Romandie von Autorinnen wie Marina Skalova. Auch ihre Texte bieten sich jetzt für eine erneute Lektüre an.

Für die wenigsten Autoren in der Ukraine wird aktuell eine Zeit der Romane sein. Doch sie alle schreiben weiter. Sie dokumentieren den Krieg in öffentlichen Tage­büchern wie Yevgenia Belorusets, geben Interviews, schreiben Aufrufe und Essays, informieren via Social Media. Und nicht zuletzt: Sie treten bei Solidaritäts­lesungen und Protest­veranstaltungen auf, zusammen mit Autorinnen aus anderen post­sowjetischen Staaten – und gemeinsam mit oppositionellen russischen Kollegen. In Zeiten aufkommender Kulturboykott-Forderungen ist dies ein gewichtiges Signal.

Solidarität, die den eigenen Kern­gedanken ernst nimmt, reicht über Länder­grenzen hinweg. Sich stattdessen gegen­einander ausspielen zu lassen, diesen Gefallen sollte man dem Schwarz­strumpf im Kreml nicht tun.

Zu den Büchern

Juri Andruchowytsch: «Moscoviada». Roman. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006. 223 Seiten, ca. 18 Franken.

Yevgenia Belorusets: «Glückliche Fälle». Aus dem Russischen von Claudia Dathe. Matthes & Seitz, Berlin 2019. 154 Seiten, ca. 30 Franken.

Tanja Maljartschuk: «Blauwal der Erinnerung». Roman. Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 288 Seiten, ca. 32 Franken.

Serhij Zhadan: «Warum ich nicht im Netz bin». Gedichte und Prosa aus dem Krieg. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe und Esther Kinsky. Suhrkamp, Berlin 2016. 180 Seiten, ca. 24 Franken.

Serhij Zhadan: «Internat». Roman. Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr. Suhrkamp, Berlin 2018. 300 Seiten, ca. 32 Franken.

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