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Antworten auf zehn Fragen zum Russland-Ukraine-Krieg

Ausgewählte Beiträge, die Hintergründe zum aktuellen Geschehen in der Ukraine aufzeigen und Orientierung geben.

Von Adrienne Fichter, Oliver Fuchs, Daniel Graf, Marie-José Kolly und Lucia Herrmann, 11.03.2022

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Seit acht Jahren ist Krieg im Osten der Ukraine. Und seit zwei Wochen im ganzen Land. Krieg ist ein abstraktes Wort. Welche Folgen der russische Einmarsch für das Leben der Menschen in der Ukraine hat, ist in den letzten Tagen immer deutlicher und auch für Aussen­stehende sichtbarer geworden. Bilder von zerstörten Wohn­häusern, zerbombten Stadt­teilen, von verletzten, getöteten Zivilisten und von Familien auf der Flucht zeigen das brutale Gesicht dieser neuen Realität.

Über 2 Millionen Menschen haben die Ukraine bereits verlassen. Sie kommen in den Nachbar­ländern an und auch in der Schweiz. Ihre Zukunft ist ungewiss. Der Uno-Hoch­kommissar für Flüchtlinge spricht von der «am schnellsten wachsenden Flüchtlings­krise in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs».

Der Krieg hat auch Auswirkungen auf das Leben in Russland. Ein Beispiel: Vor einer Woche hatten wir ein Interview mit dem Chef­redaktor der russischen Zeitung «Nowaja Gaseta» verlinkt (Punkt 9). Darin erzählte er vom wachsenden politischen Druck auf die Redaktion, beteuerte aber, dass die Journalistinnen weiterhin die Dinge beim Namen nennen, sprich: ausdrücklich von Krieg schreiben würden. In der Zwischen­zeit wurden die Gesetze in Russland derart verschärft, dass unabhängige Medien­schaffende kaum noch arbeiten können. Viele haben das Land verlassen. Die «Nowaja Gaseta» bleibt, aber sie hat ihre Ukraine-Bericht­erstattung vorsichts­halber eingestellt – wie sie in einer eindrücklichen Stellung­nahme schreibt.

Die Fragen, die uns in diesen Tagen beschäftigen, ändern sich ständig. Weniger sind es nicht geworden. Die folgende Sammlung von Beiträgen aus anderen Medien hat keinen Anspruch auf Voll­ständigkeit. Wenn sie Ihnen etwas Klarheit verschafft, dann hat sie ihr Ziel erreicht.

Wenn Sie die verlinkten Beiträge auf Englisch ins Deutsche übersetzen wollen, dann finden Sie hier eine Anleitung, wie Sie das im Firefox-Browser machen können. Und hier sind die Anleitungen für Chrome, für Safari und für Edge.

1. Wie erkläre ich meinen Kindern, was in der Ukraine passiert?

Die 7-jährige Tochter eines Republik-Crew-Mitglieds fragte am Wochen­ende ganz aufgeregt: «Ist jetzt auch hier Krieg»?, und: «Wer ist dieser Putin?», und: «Warum hört der nicht auf?», und: «Warum reden die nicht miteinander?» Vielleicht haben Sie auch Kinder in Ihrem Umfeld, die der Krieg in der Ukraine beschäftigt und die Ihnen jetzt gerade ganz viele Fragen stellen. Kein Wunder, Kinder sind neugierig und möchten verstehen, was um sie herum passiert. Aber wie erklärt man kinder­gerecht, was bei einem Angriffs­krieg passiert? Zum Beispiel, indem man sich Unter­stützung zur Seite holt. Die «Sendung mit der Maus» hat eine gute Übersicht zusammen­gestellt. Auf der Seite werden auch Fragen von Kindern gesammelt und beantwortet. Und es gibt konkrete Tipps, was Kinder, die sich Sorgen machen, tun können.

Alle diese Nachrichten zum Krieg in der Ukraine können ganz schön Angst machen. Das geht ganz vielen Menschen, auch den Erwachsenen, so und deshalb ist es ganz normal, wenn auch du dir jetzt manchmal Sorgen machst oder Angst bekommst.

Aus: «Krieg in der Ukraine».

2. Warum glaubt eine Mutter ihrer Tochter in der Ukraine nicht?

In diesem Krieg zeigt sich etwas so deutlich und brutal wie noch nie: wie die Gräben mitten durch Familien laufen können. Das geht so weit, dass sich beide Seiten oft über fundamentale Fakten nicht einig sind. Ein BBC-Artikel gehörte dabei zu den ersten, welche diese bizarre Folge von Putins Staats­propaganda thematisierten. Er porträtierte zwei junge Menschen, die beide in der Ukraine leben und Angehörige in Russland haben. In beiden Fällen glaubten die Eltern nicht, was ihnen ihre eigenen Kinder über die Lage vor Ort erzählen. Ein Grossteil der russischen Bevölkerung informiert sich über das Fernsehen über die Geschehnisse, zum Beispiel über den regierungs­treuen Fernseh­sender Perwy kanal (Erster Kanal). Das hat in den letzten Jahren einen tiefen Keil zwischen Menschen in Russland und der Ukraine getrieben – und verursacht nun doppelten Schmerz. Nämlich den Schmerz, seinen Schmerz nicht mit seinen Liebsten teilen zu können.

«Russians came to liberate you. They won’t ruin anything, they won’t touch you. They’re only targeting military bases.»

Aus: «Ukraine war: ‹My city’s being shelled, but mum won’t believe me›», vom 05.03.2022.

3. Wie muss man sich die Flucht von Kiew nach Lwiw vorstellen?

Letzte Woche entschied die «New York Times», ihre Journalisten aus der Ukraine abzuziehen. In einer bewegenden Folge des Podcasts «The Daily» dokumentieren zwei Reporterinnen ihre Reise von der Haupt­stadt Kiew nach Lwiw im Westen des Landes. Normaler­weise braucht man für diese Strecke sieben Stunden. Nun sind die beiden zwei Tage und zwei Nächte unterwegs. Unterwegs, im Stau, an Check­points, in Dörfern, am Bahnhof, begegnen sie Frauen und Kindern auf der Flucht, Männern, die bleiben müssen, Freiwilligen, die helfen. Die vielen unter­schiedlichen Stimmen, die Hintergrund­geräusche und die Eindrücke der Reporterinnen sind ein eindrückliches Zeit­dokument.

We finally got to Lviv in the afternoon on Thursday. The city was packed and overflowing. The train station was swarming with people. Lviv is a place where people say goodbye. Men go back to their towns because the men couldn’t leave Ukraine. Women and children go on to Poland.

Aus: «On the Road with Ukraine’s Refugees», vom 07.03.2022.

4. Welche Sprache spricht die Ukraine?

Ukrainisch. Natürlich. Aber nicht nur. Das beste Symbol für die lange Geschichte der Vielsprachigkeit im Land ist der ukrainische National­dichter Taras Schewtschenko. Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb er flammende Freiheits­gedichte gegen die zaristische Tyrannei im Russischen Reich. Er schrieb aber auch Erzähl­literatur und Essays – auf Russisch. Oder der Namens­geber der Kiewer Universität Iwan Franko: Er verfasste sein Werk auf Ukrainisch, Deutsch und Polnisch. Alles nur historische Einzelfälle? Keineswegs. Wie Annette Werberger, Spezialistin für osteuropäische Literaturen, in ihrem Essay für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» zeigt, prägt die Vielsprachigkeit die Ukraine bis heute. Nur betont Werberger auch: In Krisen­zeiten kann Mehr­sprachigkeit missbraucht werden. Denn Sprache lässt sich ideologisch aufladen und instrumentalisieren.

Gibt es (…) eine zweite, konkurrierende Sprache mit hohem Bekanntheits­grad, droht die Abwertung zum Dialekt. Bela­russisch und Ukrainisch wurden deshalb wiederholt als Dialekte des Russischen bezeichnet. Dabei hatte der Jiddist Max Weinreich einmal sarkastisch daran erinnert, dass der Unterschied zwischen Sprache und Dialekt nur darin bestehe, dass «eine Sprache ein Dialekt mit einer Armee und einer Flotte» sei.

Aus: «Wie die Vielsprachigkeit die Ukraine prägt», vom 28.02.2022.

5. Was passiert, wenn Putin Europa den Gashahn zudreht?

Als die deutsche Bundes­regierung erklärte, die geplante Gas­pipeline Nord Stream 2 nicht in Betrieb zu nehmen, fragte «Die Zeit», welche Folgen dieser Entscheid, die weiteren EU-Sanktionen gegen Russland und eine mögliche russische Reaktion darauf für Europa (und die Gaspreise) bedeuten würden. Im Podcast «Was jetzt?» hat Wirtschafts­redaktorin Lena Klimkeit zwei Szenarien (Best Case und Worst Case) anschliessend kurz und knapp ausgeführt (ab Minute 10:40). Da Wladimir Putin vor wenigen Tagen ausdrücklich damit gedroht hat, die Gaslieferungen an Europa auszusetzen, lohnt es sich, den Beitrag (noch) einmal zu hören.

Wir werden wohl deutlich stärker auf Flüssig­gas, zum Beispiel aus den USA angewiesen sein, wenn Russland den Gashahn schliessen sollte. Aber auch das wird definitiv eine teure Angelegenheit, weil wir uns mit Ländern in Asien einen Preis­kampf liefern müssten.

Aus: «Was, wenn Russland das Gas abdreht?», vom 23.02.2022.

6. Warum hat Russland nicht längst gewonnen?

Sie haben diese Videos wahrscheinlich auch gesehen – schier nie enden wollende Züge, vollbepackt mit russischen Panzern, Transportern, Haubitzen, die gegen Westen fahren. Und auch die Satelliten­aufnahmen vom kilometer­langen Konvoi nördlich von Kiew, wie er da tagelang rumsteht und scheinbar nicht vom Fleck kommt. Die beiden hängen zusammen, der Konvoi und die Züge. Wie genau, das erklärt der Logistik­kanal «Wendover» anschaulich, schlüssig und nüchtern. Und das könnte auch erklären, warum die Ukraine den Krieg gegen die übermächtige russische Armee nicht schon lange verloren hat – entgegen vielen Prognosen.

The Ukrainian defense included a recognition of what the Russian offense seemingly missed: the importance of logistics.

In the famous words of General John J. Pershing: «Infantry wins battles, logistics wins wars.»

So, Ukraine went for Russia’s logistics.

Aus: «The Failed Logistics of Russia’s Invasion of Ukraine», vom 05.03.2022.

7. Wie funktioniert ein Cyber­krieg?

Die Ukraine wird nicht nur in der realen Welt angegriffen, sondern auch im virtuellen Raum. Von geplanten Hacking-Angriffen und gar einem Cyberkrieg ist gerade viel zu lesen. Aber wie genau muss man sich das vorstellen? Wie funktioniert so ein Angriff, wer steckt dahinter und wie kann sich ein Land dagegen schützen? Für die Republik hat Tech­journalistin Eva Wolfangel an konkreten Beispielen analysiert, wie die Ukraine seit 2014 zu einem bevorzugten Übungs­platz für russische Cyber­attacken geworden ist – und wie von ukrainischer Seite dagegen­gehalten wurde.

Wer sich die Vorfälle der vergangenen acht Jahre genauer anschaut, kann dabei zusehen, wie die russischen Staats­hacker ihre Kapazitäten immer weiter ausbauen (…). In den Computer­systemen der Welt hat sich über die Jahre ein digitaler Feind eingenistet. Ob und wie heftig er als Nächstes zuschlägt: Niemand weiss es.

Aus: «Wie Russland für den Cyber-Krieg aufgerüstet hat», vom 07.03.2022.

8. Warum führen viele Karten, die uns den Krieg zeigen, in die Irre?

Die Pandemie hat viele Menschen daran gewöhnt, täglich auf eine Grafik zu schauen: Wo stehen wir? Die Chance ist gross, dass sie heute täglich auf eine Karte schauen: Wo stehen sie? Scharf abgegrenzte, rot eingefärbte Flächen sollen etwa zeigen, welche ukrainischen Gebiete schon unter der Kontrolle des russischen Militärs sind. Nun basieren Karten, die Daten darstellen, meist auf einer Abstraktion der Realität. Das ist oft okay. Ebenfalls oft führt es aber in die Irre. Oder es unterstützt – unabsichtlich – die Erzählung, die ein Macht­haber verbreiten will. Die roten Flächen auf Karten der Ukraine legen nahe, dass Russland grosse Gebiete kontrolliert. Betrachtet man diese Flächen vom Boden aus, ist die Realität aber eine ganz andere, wie der Historiker Mateusz Fafinski in «Foreign Policy» schreibt. Die Realität ist unschärfer, sie ist nuancierter. Aber es dient Wladimir Putins Zielen in der Ukraine, wenn Karten die Nachricht verbreiten, er kontrolliere grössere Flächen, als er tatsächlich kontrolliert.

We are used to clear lines in the sand, borders, and blotches of colors. Fronts are supposed to be lines, states are meant to control all their territory – at worst, with some contested areas checkered or painted in a less intensive color. […] Maps have made empires and helped to unmake them. They have always been about conveying a particular view of the world.

Aus: «In Putin’s War, the Map Is Not the Territory», vom 07.03.2022.

9. Wie wichtig sind die russischen Oligarchen?

Wem hört Putin eigentlich noch zu? Die Berichte häufen sich, dass nur ein kleiner, harter Kern um den russischen Präsidenten vorab wusste, dass der Einmarsch in die Ukraine beschlossene Sache war. Das führt zur nächsten Frage: Wer könnte ihn überzeugen, seinen Angriffs­krieg zu beenden? Vielleicht die Männer, die Putin reich gemacht hat – oder hat gewähren lassen: die sagen­umwobenen Oligarchen. Wenn ihnen die Sanktionen persönlich so richtig ins Geld gehen, werden sie ihn vielleicht zur Vernunft bringen? Sogar absetzen? Leider ist alles an dieser Argumentation ein bisschen zu einfach. Es würde voraus­setzen, dass a) diese Männer wirklich Einfluss haben, dass b) ihnen die Sanktionen richtig wehtun und dass c) ein Leben ohne Putin für sie wirklich besser wäre als mit ihm. Der grosse Artikel der «Süddeutschen Zeitung» zum russischen Reichtum zwischen Tegernsee und Highgate beantwortet diese Fragen zwar nicht abschliessend. Aber er ist ein ausgezeichneter Anfang.

Die Hoffnung: Dass diese milliarden­schwere Männerwelt gegen Putin aufsteht, ihm gut zuredet, ihn aufhält, wenn’s an ihr Portemonnaie geht. Die Realität: ein Treffen im Kreml, kurz nach der Invasion, Putin und die Geschäfts­leute des Landes. Es gibt Fotos davon, im Palast­saal sitzen auf einer Seite die Milliardäre, alphabetisch sortiert, auf der anderen Seite – mit inzwischen symbolisch weitem Abstand – Wladimir Putin. Der russische Präsident habe den Herren erklärt, warum die ‹militärische Operation› in der Ukraine nötig sei, teilte der Kreml mit, er hoffe auf die Unterstützung der Geschäfts­leute, denn, ja: ‹Russland bleibt Teil der Weltwirtschaft.›»

Aus: «Was kostet die Welt», vom 04.03.2022.

10. Wie kann man von der Schweiz aus helfen? Worauf muss man achten?

Wer dem in der Ukraine und jenseits der Grenzen stattfindenden Leid nicht ohnmächtig gegenüberstehen will und überlegt, wie von der Schweiz aus geholfen werden kann: Die WOZ hat eine Liste mit weiter­führenden Informationen zusammen­gestellt. Hier finden Sie die Namen von Hilfs­organisationen und NGOs, für die man spenden oder bei denen man sich direkt engagieren kann. Und noch konkreter: Der «Beobachter» liefert laufend Hinweise für alle, die sich in der Schweiz für Geflüchtete einsetzen wollen. Die wichtigsten Fragen und Antworten rund um die Einreise, das Anbieten und Organisieren einer Unter­kunft, die medizinische Versorgung und Geld.

Ich habe ukrainische Bekannte, die auf der Flucht sind und in die Schweiz kommen könnten. Können sie einreisen, und wie lange dürfen sie bleiben?

Aus: «Hilfe für Flüchtende aus der Ukraine: Was gilt in der Schweiz?», vom 03.03.2022, laufend aktualisiert.

Bonus: Spezial­vorführung des ukrainischen Dokumentar­films «Maidan»

Im Winter 2013/2014 erlebte die ukrainische Hauptstadt Kiew grosse Proteste gegen die Regierung. Der Maidan, Kiews zentraler Platz, an dem die Proteste stattfanden, wurde zum Symbol einer ganzen Bewegung. Der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa war damals mit seiner Kamera dabei und hat aus den entstandenen Aufnahmen einen Dokumentar­film gedreht. Am Sonntag, den 13. März, um 18 Uhr wird der Film im Arthouse Kino Uto in Zürich gezeigt. Der Eintritt ist kostenlos, im Anschluss werden Spenden gesammelt. Ausserdem steht er auf der Plattform Filmingo online als Stream zur Verfügung, auch diese Einnahmen fliessen an Hilfs­projekte.

MAIDAN setzt keine einzelnen Protagonisten in Szene – sein Protagonist ist die Revolution selbst. Das einmalige Zeugnis eines Landes im Wandel.

Aus: «Solidarität mit der Ukraine: Filmvorführung und Spendenaufruf».

Was lesen, was hören, was schauen Sie gerade, um den Krieg in der Ukraine besser zu verstehen? Lassen Sie es uns im Dialog wissen!

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