Briefing aus Bern

Schweiz will Ukrainer unbürokratisch aufnehmen, Gegen­vorschlag zur Gletscher­initiative – und neue Dienst­pflicht­varianten

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (182).

Von Elia Blülle, Dennis Bühler und Cinzia Venafro, 10.03.2022

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Bis gestern Mittwoch­mittag haben sich 1314 vor dem Krieg geflüchtete ukrainische Staats­angehörige in der Schweiz registriert – 40 Prozent von ihnen sind Kinder und Jugendliche, rund 70 Prozent Frauen und Mädchen. Laut Justiz­ministerin Karin Keller-Sutter will der Bundes­rat ihnen und allen weiteren Ukrainern, die ihre Heimat wegen der Kriegs­handlungen verlassen müssen, «pragmatisch und unbürokratisch» helfen.

Morgen Freitag wird der Bundes­rat die definitive Einführung des Schutz­status S beschliessen, für den er sich im Grundsatz bereits Ende letzter Woche ausgesprochen hat. Die Schweiz beschreitet damit fast deckungs­gleich den Weg der Europäischen Union, deren Rat erstmals die 2001 eingeführte «Temporary Protection Directive» aktiviert. Im Schweizer Asyl­gesetz verankert wurde der Schutz­status S vor einem Viertel­jahrhundert, nachdem im Zuge der Balkan­kriege in kurzer Zeit sehr viele Menschen gleichzeitig in die Schweiz geflüchtet waren.

Wie viele Menschen dieses Mal Schutz suchen werden, ist völlig offen und hängt nicht zuletzt von der Dauer des Krieges ab. Momentan rechne sie mit rund 1000 Personen pro Woche, sagte die Staats­sekretärin für Migration Christine Schraner Burgener am Montag bei einer Medien­konferenz. Ob die eingangs erwähnte Zahl von 1314 Geflüchteten die Situation adäquat abbildet, ist unklar, weil keine Registrierungs­pflicht besteht. Seit Juni 2017 dürfen sich Menschen aus der Ukraine ohne Visum während drei Monaten im Schengen-Raum aufhalten.

Insgesamt haben seit dem 24. Februar fast 2,2 Millionen Menschen die Ukraine verlassen. Mehr als die Hälfte von ihnen halten sich laut Uno-Flüchtlings­organisation UNHCR zurzeit in Polen auf.

Vermutlich wird die Schweiz nicht zu einem primären Flucht­ziel. Zum einen, weil hierzulande nur 11’000 Ukrainerinnen leben, wovon 4000 Doppel­bürgerinnen sind – während etwa in Italien rund 250’000 Menschen aus der Ukraine leben. Zum anderen, weil erste Erhebungen gezeigt haben, dass 98 Prozent der in die Nachbar­staaten der Ukraine Geflüchteten dort blieben und möglichst bald in ihre Heimat zurück­kehren wollten.

Mit dem S-Status werden in die Schweiz Geflüchtete ein Aufenthalts­recht erhalten, ohne ein ordentliches Asyl­verfahren durchlaufen zu müssen. Wer hier keine Verwandten oder Bekannten hat oder nicht bei diesen wohnen kann, kommt in ein kantonales Asyl­zentrum – und dann hoffentlich bald an einen angenehmeren Wohnort. An Angeboten für die private Unter­bringung von Geflüchteten mangelt es aktuell nicht: Gemeinsam mit der Kampagnen­organisation Campax halte man rund 30’000 Betten bereit, sagte Miriam Behrens, Direktorin der Schweizerischen Flüchtlings­hilfe, am Sonntag. Sie spüre eine «fantastische Solidarität» der Bevölkerung. «Wir sind dankbar für jedes zusätzliche Bett, sei es privat, in Hotel­zimmern oder leer stehenden Ferien­wohnungen.»

Nach einer Wartefrist von einem Monat sollen Ukrainer einer Erwerbs­tätigkeit nachgehen können, ihre Kinder sollen unverzüglich die Schule besuchen können. Familien­nachzug ist möglich. Der Schutz­status S befristet den Aufenthalt grund­sätzlich auf ein Jahr, er kann jedoch verlängert werden.

Schlechter sind die Aussichten für Menschen, die nicht über einen ukrainischen Pass verfügen, aber ebenfalls aus dem Land fliehen. Dritt­staatler sollen in ihre Herkunfts­länder zurück­geschickt werden. Immerhin sollen gemäss Bundes­rätin Keller-Sutter Personen Schutz erhalten, die schon in der Ukraine Asyl gesucht hatten.

Und damit zum Briefing aus Bern.

Gletscher­initiative: National­rat stimmt Gegen­vorschlag zu

Worum es geht: Der National­rat sagt Nein zur Gletscher­initiative, die ein Verbot von fossilen Energie­trägern ab dem Jahr 2050 fordert. Er setzt stattdessen auf einen direkten Gegen­vorschlag. Dieser lehnt ein Verbot ab, will aber – wie das Initiativ­komitee – das Netto-null-Ziel bis 2050 in die Verfassung und so die Pariser Klimaziele auf höchster Ebene festschreiben. Besonders umstritten war im National­rat die Frage, wie rasch die Schweiz ihre Treibhausgas­emissionen senken soll. Anders als vom Bundesrat vorgeschlagen sprach sich der National­rat dafür aus, Zwischen­ziele festzulegen, die die Bedürfnisse einzelner Wirtschafts­zweige berücksichtigen. Damit sollen energie­intensive Branchen mehr Zeit für ihre Dekarbonisierung erhalten.

Warum Sie das wissen müssen: Aus klima­wissenschaftlicher Sicht muss der Ausstieg aus fossilen Energien so schnell wie möglich erfolgen. Die bürgerliche Mehrheit im National­rat erwartet in den nächsten 20 Jahren einen Technologie­schub, der eine kosten­günstigere Dekarbonisierung als heute ermöglichen werde. Deshalb lehnt sie eine lineare Senkung der Emissionen ab. Diese würde schon heute viel drastischere Massnahmen erfordern.

Wie es weitergeht: Als Nächstes kommen sowohl die Initiative wie der Gegen­vorschlag in den Stände­rat. Gleichzeitig arbeitet die Energie­kommission des National­rats an einem indirekten Gegen­vorschlag. Details sind noch keine bekannt. Je nach Ausgestaltung stellen die Initianten in Aussicht, ihre Gletscher­initiative zurück­zuziehen.

«Lex Booking»: National­rat geht gegen «Knebel­verträge» vor

Worum es geht: Hotels sollen künftig Zimmer auf ihrer eigenen Website günstiger anbieten dürfen als auf Buchungs­plattformen wie Booking.com. Eine entsprechende Gesetzes­änderung hat der National­rat am Dienstag mit 109 zu 70 Stimmen bei 13 Enthaltungen beschlossen.

Warum Sie das wissen müssen: Das Parlament beschäftigt sich bereits seit längerem mit sogenannten Preisbindungs­klauseln, die Hoteliers dazu verpflichten, auf ihren eigenen Websites gleich hohe Preise wie auf Buchungs­plattformen zu verrechnen. Die jetzige Gesetzes­anpassung, auch als «Lex Booking» bezeichnet, geht auf einen Vorstoss von Mitte-Ständerat Pirmin Bischof aus dem Jahr 2016 zurück. Mit der aktuellen Änderung des Gesetzes über unlauteren Wettbewerb (UWG) soll die markt­beherrschende Stellung der grossen Portale beschnitten werden. Heute verfügt Booking.com über einen Markt­anteil von 78 Prozent. Booking.com wies in der Vergangenheit den Vorwurf zurück, dass die Hoteliers «Knebel­verträge» unter­schreiben müssten.

Wie es weitergeht: Das Geschäft geht nun in den Ständerat.

Mindestlohn: Gilt er bald auch für Angestellte aus der EU?

Worum es geht: Kantonale Mindest­löhne sollen auch für Arbeit­nehmende gelten, die aus der EU in die Schweiz entsendet werden. Das hat der National­rat entschieden. Es war ein seltener Moment, in dem sich SP-Co-Präsident Cédric Wermuth und der Präsident des Gewerbe­verbands Fabio Regazzi einig waren. «Ich bin eigentlich gegen Mindest­löhne», sagte Regazzi, «aber es geht hier darum, dass Firmen aus der EU keinen Wettbewerbs­vorteil haben.» Wermuth ergänzte, es gehe «darum, die Diskriminierung von Schweizer Unternehmen insbesondere dann zu verhindern, wenn Kantone Mindest­löhne erlassen, die nicht direkt auf entsandte Arbeit­nehmende anwendbar» seien.

Warum Sie das wissen müssen: Fünf Kantone haben in den letzten Jahren Mindest­löhne zwischen 19 und 23 Franken eingeführt: die Grenz­kantone Genf, Tessin, Neuenburg, Basel-Stadt und Jura. Es ist aber unsicher, ob diese im Fall von aus der EU entsandten Arbeit­nehmenden durchgesetzt werden können, da in diesen Fällen nationales und nicht kantonales Recht anwendbar ist. Deshalb droht ein gewisser Lohndruck oder eine Benachteiligung der inländischen Firmen, die sich an die Mindest­löhne halten müssen. Mit dem Beschluss des National­rats wird das Entsende­gesetz angepasst, um die Durch­setzung kantonaler Mindest­löhne zu ermöglichen.

Wie es weitergeht: Der National­rat ist der Erstrat. Die Vorlage muss noch vom Ständerat verabschiedet werden.

Armee: Bundesrat prüft Varianten für neue Dienst­pflicht

Worum es geht: Weil der Armee bis Ende Jahrzehnt gegen 30’000 Soldaten fehlen werden, prüft der Bundes­rat bis Ende 2024 zwei neue Dienst­pflicht­varianten. Das hat er vergangenen Freitag entschieden. Mit der «Sicherheits­dienst­pflicht» würden der als attraktiv geltende Zivil­dienst und der Zivil­schutz zu einer Katastrophen­schutz­organisation zusammen­gelegt. Die «bedarfs­orientierte Dienst­pflicht» wiederum würde die Dienst­pflicht auf Frauen ausweiten. Dabei würden nur so viele Personen rekrutiert, wie Armee und Zivil­schutz benötigen. Als weitere Massnahme plant der Bundesrat, die Teilnahme am Orientierungs­tag der Armee auch für Frauen für obligatorisch zu erklären.

Warum Sie das wissen müssen: Der Entscheid ist wegweisend, weil der Bundes­rat damit zwei von vier diskutierten Dienst­modellen eine Absage erteilt hat. Bei beiden fehle der klare Bezug zur Sicherheit. So hat die Regierung die Idee einer «Bürger­dienst­pflicht» verworfen, die die Dienst­pflicht auf Frauen ausgeweitet hätte, die Einsatz­möglichkeiten aber nicht auf Armee, Zivil­schutz und Zivil­dienst beschränkt hätte – auch Leistungen im Gesundheits­bereich, für die Natur und die Umwelt hätten angerechnet werden können. Noch weiter gegangen wäre die «Bürger­dienst­pflicht mit Wahl­freiheit», bei der alle dienst­tauglichen Frauen und Männer frei hätten entscheiden können, welche Art von Dienst sie leisten: Infrage gekommen wären auch Feuerwehr­dienst und politische Tätigkeiten.

Wie es weitergeht: Alle Anpassungen der Dienst­pflicht bedingen eine Verfassungs­änderung. Die Stimm­bevölkerung wird also das letzte Wort haben. Die Dienst­pflicht ist auch Thema einer anlaufenden Volks­initiative: Der Verein Service Citoyen will, dass alle Schweizerinnen und Schweizer einen allgemeinen Gemeinschafts­dienst leisten – die Idee ähnelt damit der vom Bundesrat verworfenen «Bürger­dienst­pflicht mit Wahlfreiheit».

Dissertation der Woche

Akademikerinnen sind im Parlament stark übervertreten: Über 60 Prozent der 2019 gewählten National­räte haben einen Hochschul­abschluss. Doch hilft ein Studien­abschluss auch, um in den eidgenössischen Räten erfolg­reich zu politisieren oder zumindest die Entscheidungen der Landes­regierung besser zu verstehen? Das ist wohl von Fall zu Fall unterschiedlich. Die Basler SP-Ständerätin Eva Herzog etwa profitiert im Alltag wohl wenig von ihrer Dissertation, die sie dem Thema Frauen­turnen im Kanton Basel-Landschaft im 19. und 20. Jahr­hundert widmete. Auch dem Thurgauer SVP-Stände­rat Jakob Stark hilft sein Wissen über das Scheitern der Ablösung von Zehnten und Grund­zinsen in der Helvetik kaum weiter. Der Urner Mitte-Stände­rätin Heidi Z’graggen dürfte ihre Dissertation schon mehr bringen, befasste sie sich doch mit der «Professionalisierung von Parlamenten im historischen und internationalen Vergleich».

Aber niemand hat momentan mehr von seiner Dissertation als der Ausser­rhoder FDP-Ständerat Andrea Caroni: «Finanz­sanktionen der Schweiz im Staats- und Völker­recht, dargestellt am Beispiel der Sperrung von Geldern.» So lautet der Titel seiner im November 2008 angenommenen Dissertation («summa cum laude»). Wie kommentiert also der Experte den Kurs­wechsel der Regierung, die die EU-Sanktionen gegen Russland vorige Woche nach vier Tagen Zögern und Zaudern doch noch übernommen hat? «Dieser kriminelle Aggressions­krieg ist ein existenzieller Angriff auf die europäische Friedens­ordnung», sagt er und lobt den Bundes­rat: «Putins Frevel gehört schärfstens verurteilt und sanktioniert.»

Illustration: Till Lauer

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