Gegen die Ohnmacht

Bei Kriegs­anfang beginnt eine Ukrainerin in Zürich Windeln, Medikamente und Kleider zu sammeln. Dann kommt eine Schweiz-Russin hinzu. Eine Woche später betreiben sie eine der grössten freiwilligen Schweizer Hilfs­aktionen für die Ukraine.

Eine Reportage von Elia Blülle (Text) und Anne Gabriel-Jürgens (Bilder), 08.03.2022, Update: 16.03.2022

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Mit einem Hilfs­projekt kämpft die Ukrainerin Alessia Keyer gegen das Gefühl der Hilflosigkeit an.

Anmerkung der Redaktion: Das Netzwerk «Zurich Helps Ukraine» und Alessia Keyer arbeiten mittler­weile nicht mehr zusammen, und das Netzwerk distanziert sich ausdrücklich von ihr. Die Räumlichkeiten für die Sammel­aktion an der Albisrieder­strasse werden von der Stiftung «Orphan Healthcare» zur Verfügung gestellt und betrieben. Alle weiteren Informationen finden Sie in den Telegram-Chats der Aktion «We4Ukraine».

Montagabend, vergangene Woche. Jetzt wird ihr alles zu viel. Alessia Keyer verharrt auf der Treppe am Bahnhof Stadelhofen in Zürich, zittert und umklammert das Geländer. Der graue Mantel, perfekt geschnitten, ist viel zu dünn für die Eises­kälte. Gerade hat sie noch einige Bissen gegessen. Es war die erste Mahlzeit in 20 Stunden. Den geplanten Auftritt an der Mahnwache in der Stadt sagt sie ab.

«Ich bin sehr müde», schreibt sie später auf Instagram ihren 16’000 Followerinnen. «Wir sind alle sehr, sehr, sehr müde.»

Keyers Leben hat sich auf einen Schlag verändert. Ihre Heimat wurde überfallen. Die Eltern verbunkern sich in der Ukraine, während russische Bomben auf das Land niedergehen. Hunderte Menschen sterben und flüchten. Doch von all dem will Keyer gerade nichts wissen, sehen und hören. Es würde sie nur von ihrer neuen Arbeit ablenken, sagt sie. Mit der Mutter hat sie vereinbart, dass diese ihr keine Kriegs­nachrichten schicken darf, solange die Eltern sich in Sicherheit befinden.

Aufgewachsen ist Keyer in Kiew, direkt neben dem Zoo. Nach der Schule schleicht sie manchmal mit ihrem Bruder durch ein Loch im Zaun auf das Gelände. Als Teenager wird sie als Model entdeckt und landet auf der Titel­seite eines Mode­magazins. Lange Beine, hohe Wangen­knochen, Stolz und Selbst­bewusstsein – Keyer bringt mit, was es für das Model­business benötigt. Bald arbeitet sie in Singapur oder Mailand, wo sie während vieler Jahre lebt und Schmuck­design studiert.

Heute wohnt sie mit ihrem Mann mitten in Zürich, an bester Adresse, wenige hundert Meter vom See entfernt. Es sei immer ihr Traum gewesen, irgend­wann in der Schweiz zu leben, sagt sie. Das Modeln hat sie mittler­weile hinter sich gelassen.

2014, als die Ukrainer in Kiew auf dem Maidan protestieren, ist Keyer dabei.

Als nun Russland die Ukraine angreift, schreibt Keyer auf Instagram, sie habe Angst und mache sich Sorgen um ihre Familie. «Ich fühle mich machtlos. Ich kann nichts tun. Es ist so ungerecht!» Um gegen die Ohnmacht anzukämpfen, bietet sie der Botschaft und dem Roten Kreuz Hilfe an, doch diese antworten nicht oder zu spät. Also postet sie einen Aufruf im Internet und beginnt, im Erdgeschoss unterhalb ihrer Wohnung an der Stadelhofer­strasse selbst Sachspenden entgegen­zunehmen.

Er will auch helfen – seine Mutter ist Ukrainerin.
Die Reaktion auf Alessia Keyers Spendenaufruf ist überwältigend.

Ihr Instagram-Post wird hundertfach geteilt. Dutzende Menschen bringen Windeln, Kleider, Nahrungs­mittel, Tierfutter, Medikamente vorbei, sogar ein Defibrillator ist dabei. Selbst in der Nacht empfängt Keyer noch Menschen an der Stadelhofer­strasse. Viele davon Ukrainerinnen, aber auch Belarussen, Argentinierinnen, Bulgaren und viele Schweizerinnen finden ihren Weg zu Keyer. Autos verstopfen die Strasse vor dem Haus, Dutzende Kisten und Säcke die Gänge zur Wohnung.

«Es ist so rührend», schreibt Keyer am Sonntag auf ihrem Instagram-Profil.

«Es ist schrecklich, Russin zu sein in diesen Tagen»

Auch Olesia sind die Instagram-Posts von Keyer aufgefallen. Die 31-jährige Russin, die nicht mit ihrem ganzen Namen medial auftreten will, arbeitet als Social-Media-Managerin bei einer grossen Investment­bank, unweit des Parade­platzes in Zürich. Als am 24. Februar morgens um sechs eine Nachricht ihres Vaters auf dem Handy aufblinkt, weiss sie sofort: Etwas stimmt nicht. Das letzte Mal, als er sich gemeldet hatte, war gerade ihre Grossmutter gestorben.

«Olesia», sagt ihr Vater in einer Sprach­nachricht. «Es ist Krieg.» Er wohnt neben einem Militär­flugplatz nahe der Grenze, sieht und hört, wie die Maschinen abheben und Kurs auf die benachbarte Ukraine nehmen.

Olesia fährt zur Arbeit und verfasst noch im Zug einen Beitrag für Linkedin – das erste Mal seit langem. Denn nachdem sie von prorussischen Stalkern belästigt worden war, hörte sie auf, politische Inhalte im Internet zu teilen. «Alle reden von sinkenden Portfolios aufgrund der Spannungen zwischen Russland und der Ukraine», schreibt sie auf der Plattform für Geschäfts­kontakte. «Nun, es sind keine Spannungen, und das, was hier passiert, geht über Portfolios und Aktien hinaus. (…) Ich bete, dass dieser Irrsinn jetzt aufhören möge.»

Zu ihrer Nachricht postet sie ein Foto zweier Hände, die nacheinander greifen. Eine ist mit den ukrainischen, die andere mit den russischen Landes­farben bemalt. Hundert­tausend Menschen sehen sich den Post an.

Als Olesia kürzlich einige russisch­sprachige Freundinnen im Restaurant trifft, diskutiert die Gruppe, ob es nicht besser wäre, auf Englisch oder Deutsch miteinander zu sprechen.

«Es ist schrecklich, Russin zu sein in diesen Tagen», sagt sie.

Olesia hat seit Dezember auch einen Schweizer Pass. Sie wuchs im Ural auf, dem Herzen Russlands. Mit 16 geht sie für ein Austausch­jahr in die USA, lernt eine andere Welt kennen: Meinungs­freiheit, Gleich­stellung und liberale Mitsprache. Zurück in Russland realisiert Olesia, die sich als Feministin bezeichnet, dass sie nicht mehr im «patriarchalen» Heimat­land leben möchte, das bereits von Putin regiert wurde, als sie noch ein Kind war. Sie studiert im Ausland. Seit sieben Jahren wohnt sie in der Schweiz.

Olesia glaubt nicht, dass Demonstrationen in Zürich etwas verändern werden. Doch als Social-Media-Managerin kennt sie die Macht von sozialen Netzwerken. Als sie am letzten Wochen­ende in der Stadelhofer­strasse auf das ukrainische Ex-Model Keyer trifft, bietet sie ihre Hilfe an, setzt Telegram-Chats auf, in denen sie die freiwilligen Helferinnen koordiniert. Am Anfang treten einige Dutzend pro Tag bei, später Hunderte. Heute sind es über 1000.

Während Olesia bei der Bank in Konferenz­schaltungen sitzt, beantwortet sie von nun an Fragen in den Chats. Als sich eine Frau meldet und schreibt, ihre Schwester stehe mit zwei Kindern an der polnischen Grenze und wisse nicht weiter, ruft Olesia ihren älteren Bruder an. Er lebt in Warschau, 900 Kilo­meter vom Grenz­übergang entfernt. Vier Stunden später fährt er los.

Olesia erhält später ein Foto der beiden Knaben, 5 und 6 Jahre alt – sie sind in der Schweiz. Die Grossmutter der beiden, die in der Ukraine ausharrt, schickt ihr eine Sprach­nachricht und bedankt sich schluchzend bei ihr.

Meterhohe Türme mit Hilfs­gütern

Anfang letzte Woche bringt Alessia Keyer in Begleitung von Helfern die erste Ladung an Hilfs­gütern zur ukrainischen Botschaft nach Bern. Der Pförtner ist überfordert angesichts des Ansturms, der den Garten der Villa in ein Logistik­zentrum verwandelt: Kisten und Müllsäcke türmen sich meter­hoch, bevor sie später von der Botschaft mit Lastwagen abtransportiert werden. Das Personal verteilt Listen mit Medikamenten, die in Spitälern dringend benötigt werden. Zwei freiwillige Helferinnen aus Bern sortieren – eine Schweizerin und eine Russin, die «pst» macht, als Erstere dem Journalisten ihre Herkunft verrät.

Auch bei Keyer in Zürich wird es irgendwann eng. Also wechselt sie in eine Lager­halle. Neu wollen sie und ihre Helferinnen auch selbst Güter in die Ukraine transportieren und auf dem Rückweg Geflüchtete mitnehmen. An verschiedenen Orten gehen neue Sammel­stellen auf, die sich über Telegram-Chats koordinieren.

Die Hilfsgüter werden sortiert …
… verpackt …
… und abtransportiert.
Alessia Keyer organisiert und berichtet über die Hilfsaktion.

Bald wird auch klar, dass nicht alle Hilfs­güter wirklich hilfreich sind. Zu viele Kleider, zu viele Decken, zu viel Sperriges. Einige kritisieren auch, dass es keinen Sinn ergebe, in der Schweiz frische Windeln, Unter­wäsche und Hygiene­artikel zu kaufen, die man in Polen für einen Bruchteil des Preises erhält. Spendet lieber Geld an professionelle Hilfs­organisationen, die bereits vor Ort sind und wissen, was gebraucht wird, sagen einige aus der Community. Auch die gespendeten militärischen Ausrüstungen wie Gefechts­helme und kugel­sichere Westen stellen ein Problem dar. Die unbewilligte Ausfuhr von solchen Gütern ist in der Schweiz verboten.

Doch davon lässt sich die von Keyer initiierte Hilfs­aktion nicht beirren. Sie passen sich an. Im neuen Depot an der Albisrieder­strasse, in einem Zürcher Aussen­quartier, arbeiten seit Dienstag rund 20 Freiwillige von morgens bis abends. Mehr Frauen als Männer, manche haben extra freigenommen. Kleider und allzu sperrige Gegen­stände nehmen sie nicht mehr entgegen, stattdessen kommen immer mehr Hygiene­artikel, Medikamente und andere Medizin­produkte dazu. Jemand hat 40’000 Chirurgen­masken gespendet.

Überwältigender Support

Die schweizerisch-russische Bank­angestellte Olesia organisiert derweil die Chats im Hintergrund. Immer mehr davon entstehen. Auch in anderen Kantonen. Mittlerweile helfen ihr einige andere bei der Administration. Der Support sei überwältigend, sagt sie. Vor kurzem hat sich ein Logistiker gemeldet, der sie bei der Organisation von Transporten unterstützen wird.

Olesia will sich nicht verstecken, sagt aber, in Russland werde sie nach diesen Wochen nicht mehr sicher sein. In einem eigenen Telegram-Channel hat sie bisher für russische Bekannte vom Leben in der Schweiz berichtet, über Wein und Bücher geschrieben. Jetzt versucht sie auch da, der Staats­propaganda entgegen­zuwirken. Die geplante Reise nach Sankt Petersburg hat sie abgesagt.

Ihre neue ukrainische Bekanntschaft ist innert einer Woche zu einem der Aushänge­schilder ihrer Community geworden und entsprechend beschäftigt. Die Journalisten stehen Schlange. Alle wollen etwas von ihr. Über Instagram berichtet Keyer mehrmals täglich aus ihrem neuen Leben. «Bitte vergebt mir, wenn ich in diesen Tagen einige von euch verletzt habe», schreibt sie einmal. «Ich habe so viel Stress. Denkt aber daran, dass unsere Ukrainer viel mehr leiden.»

«Bitte vergebt mir, wenn ich in diesen Tagen einige von euch verletzt habe. Ich habe so viel Stress.»

In den Interviews, die Keyer im Moment gibt, verschlägt es ihr oft die Sprache. Ihre Mutter ist mittler­weile in der Schweiz, der Vater immer noch in der Ukraine. Keyer ringt um ihre Kräfte. Doch wenn sie an ihre mutigen Bekannten denke, sei es klar, dass sie sich keine Pause gönnen könne, sagt sie. Dann erzählt sie die Geschichte einer ukrainischen Freundin, die sie vor ein paar Jahren bei einem Foto­shooting in Mailand kennen­gelernt hat. Nachdem der Krieg ausgebrochen war, flüchtete sie per Autostopp Tausende Kilometer in den Westen. Später, aus der Sicherheit, schrieb sie mit Galgen­humor: «Wenn du als Model Mailand überlebt hast, dann überlebst du alles andere auch.»

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