«Es ist, als ob die Schweiz mit sich selber verhandeln würde»

Der Bundesrat will mit der EU Bilaterale III abschliessen. Gerne – sobald die grund­sätzlichen Fragen gelöst sind, sagt Petros Mavromichalis, EU-Botschafter in der Schweiz. Und stellt klar: Weiter wie bisher sei keine Option mehr.

Ein Interview von Priscilla Imboden, 01.03.2022

Journalismus kostet. Dass Sie diesen Beitrag trotzdem lesen können, verdanken Sie den rund 27’000 Leserinnen, die die Republik schon finanzieren. Wenn auch Sie unabhängigen Journalismus möglich machen wollen: Kommen Sie an Bord!

Wartet auf Nachrichten vom Bundesrat: Petros Mavromichalis, EU-Botschafter in der Schweiz, muss ein geduldiger Mensch sein. Pierre-Yves Massot/13 Photo

Die Schweiz ist so isoliert wie schon lange nicht mehr inmitten Europas. Seit der Bundesrat vor neun Monaten den Verhandlungs­tisch zum Rahmen­abkommen verlassen hat, herrscht eine Art Eiszeit zwischen der Schweiz und der Europäischen Union. Die Schweiz droht den Anschluss an die EU-Forschungs­programme und den Zugang zum EU-Binnen­markt zu verlieren. Nun will der Bundesrat mit Brüssel neue Verhandlungen aufnehmen, allerdings ohne die institutionellen Fragen für alle Bereiche gleich zu lösen.

EU-Botschafter Petros Mavromichalis ist skeptisch gegenüber diesem Vorschlag. Die Schweiz betreibe in der Europa­politik eine Nabel­schau, kritisiert er. Und er verrät, warum die EU lange schwieg zur Schweizer Europa­politik und sich nun viel stärker einbringen will.

Herr Mavromichalis, ist Ihnen langweilig in der Schweiz?
Überhaupt nicht.

Ich frage, weil Sie seit neun Monaten auf einen Vorschlag des Bundes­rats warten, wie der bilaterale Weg weitergehen soll. Was haben Sie in der Zwischen­zeit gemacht?
Ich bin seit anderthalb Jahren in der Schweiz. Ich habe mich in dieser Zeit mit so vielen Menschen getroffen wie unter der Pandemie möglich. Ich habe die meisten Bundes­räte kennen­gelernt, mich mit vielen Partei­führern und Parlamentariern ausgetauscht. Ich habe offizielle Besuche in fünf Kantonen durchgeführt, Reden gehalten, in meiner Freizeit Bücher über die Schweiz gelesen – ich habe versucht, das Land kennen­zulernen.

Was ist hier anders, als Sie es erwartet haben?
Mich hat überrascht, dass sich alles so langsam bewegt. Ich habe festgestellt, dass wir seit zehn, fünfzehn Jahren dieselben Themen diskutieren. Seit wir 2007 die EU-Delegation in Bern eröffnet haben, diskutieren wir über das Rahmen­abkommen und wie wir den bilateralen Weg stärken wollen, wie wir die Probleme, die es gibt, lösen werden. Und es gibt immer noch keine Lösung. Das ist schon merkwürdig. Die Zeit scheint sich hierzulande sehr langsam zu bewegen.

Frustriert Sie das?
Ein bisschen schon.

Der Bundesrat hat nun erklärt, wie es mit der Europa­politik weiter­gehen soll. Er will keine Neuauflage des Rahmen­abkommens und schlägt vor, dass die institutionellen Fragen in jedem sektoriellen Abkommen einzeln gelöst werden. Ist das für die EU ein gangbarer Weg?
Wir müssen nun abwarten und analysieren, was der Bundes­rat konkret vorschlagen wird. Es ist auf jeden Fall positiv, dass er sich dazu bekannt hat, alle offenen Fragen angehen zu wollen, auch jene, welche die EU interessieren. Dass ein sektorieller Ansatz für die Lösung der institutionellen Fragen praktikabel und zielführend ist, bezweifle ich im Moment. Es wird auf jeden Fall komplizierter. Und was wir sicher nicht wollen, ist, dass dadurch die Personen­freizügigkeit ausgenommen wird oder für sie ganz andere Regeln gelten. Die Personen­freizügigkeit gehört untrennbar zum Binnen­markt und muss wie die anderen Sektoren der dynamischen Rechts­angleichung und dem juristischen Streit­beilegungs­mechanismus unterstehen.

Wie rasch erwartet die EU eine Lösung der institutionellen Fragen?
Es gibt keine Fristen oder dergleichen. Aber wir brauchen klare Ziele und einen Fahrplan. Es wäre ja vor allem im Interesse der Schweiz, vorwärts­zumachen. Denn ohne Lösung der institutionellen Fragen werden bestehende bilaterale Verträge nicht mehr automatisch aufdatiert, und es gibt keine neuen Markt­zugangs­abkommen. Ohne eine Gesamt­lösung bleiben wir noch lange in dieser Sackgasse. Es ist meine tiefe Überzeugung, dass unsere Beziehung Besseres verdient.

Zur Person

Petros Mavromichalis ist seit September 2020 Botschafter der EU in der Schweiz. Er ist in Athen geboren und verbrachte seine Kindheit und Jugend als Sohn von griechischen Diplomaten in Italien, Bulgarien, Deutschland, Grossbritannien, Griechenland, der früheren Tschechoslowakei und Frankreich. Nach seinem Jurastudium in Strassburg und London trat er in den Dienst der Europäischen Union und blieb über seine gesamte bisherige Karriere in den europäischen Institutionen tätig. Vor seiner heutigen Position in Bern leitete er die Abteilung Open Source Intelligence des Lage­zentrums des Europäischen Auswärtigen Dienstes. Davor besetzte Mavromichalis verschiedene Positionen innerhalb der Europäischen Kommission, die sich mit Aussen- und Sicherheits­politik, Handel und der EU-Ost­erweiterung befassten.

Die Beziehungen mit der EU sind momentan schwierig. Wie nehmen Sie die europa­politische Debatte in der Schweiz wahr?
Nun, das klingt jetzt nicht sehr schmeichelhaft, aber auf Französisch würde man sagen: nombrilique. Es ist eine Nabel­schau. Als ob die Schweiz mit sich selber verhandeln würde und es kein Gegenüber gäbe. Man lässt ausser Betracht, dass die EU auch Erwartungen und Bedürfnisse hat. Die Debatte ist nach innen gerichtet und von Kompromissen zwischen den Parteien geprägt. Natürlich geht es stets darum, die Bevölkerung zu überzeugen, das kann ich verstehen. Aber in der Aussen­politik muss man auch die Ansicht des Partners einbeziehen.

Früher war die politische Stimmung in der Schweiz EU-freundlicher. Es gab eine aktive EU-Beitritts­bewegung, die mittlerweile verstummt ist. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Die Zeiten haben sich geändert. Die Schweiz reichte ein Beitritts­gesuch während der goldenen Jahre der europäischen Integration in den 1990er-Jahren ein. Der gemeinsame Binnen­markt war eben geschaffen worden, die Berliner Mauer gefallen, alle Länder Europas drängten in die EU. Die Schweiz wollte nicht aussen vor bleiben. Nun sind wir in einer Stabilisierungs­phase. Die EU erscheint als weniger attraktiv, wiederholt hat man ihr Ende prophezeit. Aber das ist nicht eingetroffen, die EU hat die Krisen erfolg­reich überwunden.

Die Schweiz blieb draussen und lebte gut damit. Sehen Sie das anders?
Die Schweiz hat es sich bequem eingerichtet und ist zufrieden mit der aktuellen Beziehung zur EU. Aber hier liegt eines der grossen Miss­verständnisse: Es war nie vorgesehen, dass die bilateralen Verträge, wie sie heute sind, dauerhaft sein sollten. Als diese Verträge abgeschlossen wurden, hatte die Schweiz ein EU-Beitritts­gesuch eingereicht. Die Bilateralen waren als Übergang gedacht, um den Weg zum Beitritt zu ebnen. Aber so weit kam es nie. Es blieb bei der provisorischen Lösung.

Die Schweiz will den bilateralen Weg weiterführen.
Ja, aber dann müssen wir diesen Weg stabilisieren, ihm klare Regeln geben. Aktuell ist es, als würde ich in den Fitness­club um die Ecke gehen und sagen: Ich möchte vielleicht Mitglied werden, aber ich weiss noch nicht recht. Der Betreiber antwortet: Also gut, ich mache Ihnen ein vergünstigtes Schnupper­abo für drei Monate. Und nach drei Monaten sage ich dann: Ich will dieses vergünstigte Schnupper­abo für immer. So ist das mit der Schweiz. Es tut mir leid, wenn ich nicht sehr diplomatisch bin: Aber wir sind mit dem bilateralen Status quo nicht zufrieden. Er war nie als langfristige Lösung gedacht. Wenn also die strukturellen Probleme mit diesem mass­geschneiderten bilateralen Weg nicht gelöst werden, wird er erodieren und zu Ende gehen.

Das sind harte Worte.
Verstehen Sie mich richtig: Die Schweiz hat Zutritt zum Binnen­markt. Gleichzeitig hat sie sich nur dazu verpflichtet, die Regeln zu übernehmen und zu respektieren, wie sie zum Beispiel im Jahre 1999 galten. Jetzt sind wir aber im Jahr 2022, das EU-Regelwerk hat sich weiter­entwickelt. Und die Schweiz sagt: Ich behalte meinen Zugang zum Binnen­markt, aber ich will die neuen Regeln nicht respektieren und ich kann dafür auch nicht belangt werden, weil es kein Gericht gibt, das im Streitfall entscheidet. Das sind für uns zwei riesen­grosse Probleme. Die Schweiz ist ein Rechts­staat, in dem alle Regeln respektiert werden müssen. Man kann nicht hierher­kommen und sagen: Ich respektiere 90 Prozent der Gesetze und die 10 Prozent, die mir nicht passen, respektiere ich nicht. Das geht einfach nicht.

Um diese Fragen zu lösen, haben die Schweiz und die EU sieben Jahre lang ein Rahmen­abkommen verhandelt, ehe der Bundes­rat letzten Mai die Verhandlungen ohne Alternative abbrach. Hat Sie das erstaunt?
Ja, es hat mich ehrlich gesagt sehr überrascht und auch enttäuscht. Denn ich kann nicht verstehen, was die Schweiz damit erreichen will. Unsere Beziehung ist frostig geworden. Die Schweiz ist wichtig für uns, aber wir sind auch sehr wichtig für die Schweiz. Ich glaube, es hat nicht nur mich, sondern alle in Brüssel überrascht. So wie ich die Schweiz verstehe, ist es auch unschweizerisch, die Tür so zu schliessen.

Der Bundesrat prüft ebenfalls, neue Abkommen mit der EU auszuhandeln, etwa in den Bereichen Strom und Lebens­mittel­sicherheit oder Forschung, Gesundheit und Bildung. Das würde die Verhandlungs­masse verbreitern, sozusagen im Sinne von Bilateralen III, damit für beide Seiten mehr drin wäre. Wäre Brüssel dazu bereit?
Wir haben uns immer bereit erklärt, den bilateralen Weg zu stärken und weitere Abkommen mit der Schweiz abzuschliessen, wenn – und nur wenn – die grund­sätzlichen Fragen gelöst sind: die dynamische Rechts­übernahme und die Streit­beilegung. Wir erwarten ebenfalls, dass die Schweiz einen regel­mässigen substanziellen Kohäsions­beitrag zahlt. Die bisherigen schweizerischen Beiträge betrugen nur ein Fünftel dessen, was zum Beispiel das Nicht-EU-Mitglied Norwegen zahlt. Wir sind also bereit, das Paket zu vergrössern. Aber wir sind nicht bereit, unsere grund­sätzlichen Anliegen auf die Seite zu legen oder in die Zukunft zu verschieben. Und ich muss es sehr klar sagen: Die Personen­freizügigkeit ist ein zentraler Teil des Binnen­markts, und wir werden nicht darauf verzichten, sie einzubeziehen.

Das heisst, die Personen­freizügigkeit kann von der dynamischen Rechts­entwicklung und der Streit­beilegung nicht ausgenommen werden?
Wie das Wort es sagt, setzt die Ausnahme immer voraus, dass es eine Regel gibt. Es kann also Ausnahmen nur im Kleinen geben. Wenn man zum Beispiel 99 Prozent der Regeln respektiert, aber in einem Punkt eine andere Lösung benötigt. Aber es ist nicht möglich, die ganze Personen­freizügigkeit oder einen grossen Teil davon auszunehmen. Die Ausnahmen müssen sich auf das Minimum beschränken, das nötig ist, um einen Zweck zu erreichen. Verstehen Sie mich?

Nein.
Ich höre immer wieder die Forderung, dass die Personen­freizügigkeit integral von den institutionellen Fragen ausgeklammert wird. Das ist nicht möglich. Die heutige Personen­freizügigkeits-Richtlinie ist zwar neu im Vergleich zu 1999, als die Schweiz und die EU den bilateralen Vertrag über die Personen­freizügigkeit abgeschlossen haben. Aber sie kodifiziert sehr viel Recht, das von früher stammt. 90 Prozent der Direktive betreffen Recht, das die Schweiz wegen der geltenden bilateralen Verträge sowieso anwenden muss. Reden wir also über die restlichen 10 Prozent und schauen wir, was ein Problem darstellt und wie wir das lösen können.

Also gibt es doch eine gewisse Flexibilität.
Ja. Wenn die eine oder andere Bestimmung Probleme schafft, kann man eine Schutz­klausel einbauen. Schutz­klauseln müssen aber genau definierte Probleme betreffen und zeitlich befristet sein. Zum Beispiel: Wenn in einem Kanton mehr als ein gewisser Prozent­satz der Arbeits­losen aus einem bestimmten EU-Land stammt und das ein Problem darstellt, kann man zum Beispiel während sechs Monaten gewisse Einschränkungen vorsehen.

Die EU setzt viel Druck auf. Nach einem Treffen von Aussen­minister Ignazio Cassis und EU-Kommissions­vize­präsident Maroš Šefčovič letzten November erzählten beide verschiedene Dinge: Cassis sprach von einem Dialog, Šefčovič sagte, die EU erwarte konkrete Vorschläge. Was wurde wirklich gesagt?
Ich kann Ihnen versichern, dass es ein sehr gutes Treffen war. Und in diesem Treffen hat die Schweizer Seite vorgeschlagen, einen politischen Dialog zu führen. Und die EU-Seite hat gesagt: Ja, sicher, aber der politische Dialog muss den Zweck haben, die Probleme zu lösen. Deshalb braucht es eine Roadmap und Fristen. Das ist kein Druck. Beide Seiten waren damit einverstanden.

Es gibt durchaus Druck: Die EU hat die Schweiz vom Programm Horizon Europe und dem Studenten­austausch­programm Erasmus plus ausgeschlossen. Bei diesen Programmen geht es nicht um den Markt­zugang, den die EU mit der Schweiz regeln will. Weshalb nehmen Sie die Forschung in Geisel­haft, um andere Ziele zu erreichen?
Zwei Dinge dazu. Erstens: Die Schweizer Forscherinnen und Forscher sind vom Horizon-Europe-Programm nicht ausgeschlossen. Sie dürfen daran teilnehmen, sie werden aber nicht mehr vom europäischen Steuer­zahlenden finanziert. Die Schweiz ist ein reiches Land, sie hat für die Forschung zusätzliches Geld gesprochen, sie kann also die Teilnahme ihrer Forscherinnen und Forscher am Horizon-Europe-Programm bezahlen.

Aber die Forscherinnen und Forscher können keine Programme mehr leiten – und es sind nicht mehr alle für sie zugänglich.
Es gibt gewisse Nachteile, das stimmt. Und hier kommt mein zweites Argument: Man kann nicht sagen, dass Programme wie Horizon Europe nichts mit dem Binnen­markt zu tun haben. Die EU investiert sehr viel Geld in diese Programme, um die Wettbewerbs­fähigkeit der europäischen Firmen zu stärken, die sich im Binnen­markt bewegen. Ich bin nicht der Meinung, dass sich diese beiden Dinge trennen lassen.

Weshalb dürfen die Nicht-EU-Mitglieds­länder Türkei und Israel und viele andere Länder daran teilnehmen – im Gegensatz zur Schweiz?
Das muss man von Fall zu Fall anschauen. Die Türkei beispiels­weise ist EU-Beitritts­kandidatin und damit in einer anderen Kategorie als die Schweiz. Länder wie Israel, die unter die europäische Nachbarschafts­politik fallen, sind das ebenfalls. Die Schweiz hingegen hat entschieden, nicht mehr EU-Beitritts­kandidatin zu sein, nicht dem EWR beizutreten und nicht der EU-Nachbarschafts­politik unterstellt zu sein. Das war ihr souveräner Entscheid. Wir diskriminieren die Schweiz nicht. Man kann nur von Diskriminierung sprechen, wenn Länder, die in der gleichen Situation sind, unterschiedlich behandelt werden. Das ist hier nicht der Fall.

Die Forschungs­gemeinschaft in der EU ist mit dieser Massnahme nicht einverstanden. Sie hat eine Kampagne lanciert unter dem Namen «Stick to Science» und verlangt, dass die Schweiz und Gross­britannien wieder an den Forschungs­programmen teilnehmen können. Ist der Ausschluss falsch?
Die Forschungs­gemeinschaft verteidigt ihre Interessen. Das tut sie auch in der Schweiz: Sie setzt den Bundes­rat unter Druck, der EU Vorschläge zu unterbreiten, damit sie an den Horizon-Programmen teilnehmen kann. Aber der Bundes­rat fällt seine Entscheide basierend darauf, was er als generelles Interesse des Landes erachtet. Die EU tut das auch.

Der Ausschluss der Schweiz schadet der Forschung generell. Weshalb nimmt die EU in Kauf, dass führende Institute in hoch­spezialisierten Bereichen nicht mehr an EU-Programmen teilnehmen können?
Schauen Sie: Grundsätzlich bin ich davon überzeugt, dass man gemeinsam stärker ist. Das gilt für die Forschung, das gilt für den gemeinsamen Markt, das gilt aber auch ganz generell für das europäische Projekt. Aber was wir nicht wollen, ist der wahlweise Zugang: Wir wollen eure Forschung, aber nicht eure Taxifahrer und auch nicht eure Klempner und Maler. Das geht nicht.

Selbst EU-Freundinnen in der Schweiz finden, dass die EU sehr dogmatisch kommuniziere. Ist das für Sie nicht kontraproduktiv?
Unsere Kommunikation ist nicht dogmatisch. Ich versuche hier in der Schweiz die Position der EU so einfach und verständlich wie möglich zu erklären. Während vieler Jahre haben wir uns auf Wunsch des Bundes­rats zurück­gehalten. Er hat uns gebeten, nicht zu kommunizieren, nicht über die bilateralen Beziehungen mit der Schweiz zu reden und insbesondere nicht über das Rahmen­abkommen. Dies, um das Projekt nicht zu gefährden. Was dabei rausgekommen ist, haben wir gesehen. Nun sehen wir einen grossen Erklärungs­bedarf.

In der Schweiz entscheidet letztlich die Bevölkerung über die weiteren bilateralen Beziehungen. Wie gehen Sie damit um?
Das ist eine verfassungs­mässige Tradition der Schweiz, die wir selbst­verständlich respektieren. Ein System, das in der Schweiz gut funktioniert hat. Seit meiner Ankunft hat es verschiedene Volks­abstimmungen gegeben wie etwa über die Begrenzungs­initiative. Ich habe die Kampagne verfolgt und festgestellt, dass das Interesse gross war, die bilateralen Beziehungen mit der EU weiterzuführen. Und dass sich die Bevölkerung mit grosser Mehrheit für die Personen­freizügigkeit ausgesprochen hat. Es ist also schwierig zu begründen, weshalb die Schweizer Bevölkerung einer weiter­gehenden Beziehung mit der EU partout nicht zustimmen sollte.

Verstehen Sie die Sorge, dass die hohen Schweizer Löhne unter Druck geraten könnten durch eine weitere Integration in die EU?
Natürlich. Diese Sorge gibt es nicht nur in der Schweiz: Schweden oder Dänemark haben auch höhere Löhne als etwa im Baltikum. Es gibt im EU-Raum unterschiedliche Löhne, doch es gelingt, gegen das Sozial­dumping und gegen den Lohn­druck vorzugehen. Auch innerhalb der EU kann nicht jede und jeder in irgendein Land gehen und zu irgend­welchen Bedingungen arbeiten. Die nationalen Bestimmungen und Arbeits­bedingungen müssen respektiert werden.

Sie kritisieren aber die flankierenden Massnahmen, mit denen die Schweiz versucht, die Einhaltung ihrer Arbeits­bedingungen zu garantieren.
Manche dieser Massnahmen sind aus unserer Sicht diskriminierend und unverhältnis­mässig. Es konnte mir bisher niemand erklären, warum es nötig ist, dass ein Maler oder ein Klempner aus der EU sich acht Tage im Voraus bei den Schweizer Behörden melden muss, bevor er einen Auftrag ausführt. Das sind Arbeiten, die oft kurzfristig und wetter­abhängig erledigt werden. Und warum muss ein Unternehmer aus der EU Tausende Franken Kaution zahlen, die er erst sechs Monate später zurück­erhält? Das ist doch unverhältnis­mässig. Wir sind zu 100 Prozent einverstanden mit dem Ziel, Lohn­dumping und eine Schwächung der Schweizer Arbeits­bedingungen zu verhindern, aber nicht mit den aktuellen Mitteln.

Die Gewerkschaften wollen nicht, dass der Schweizer Lohn­schutz dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) unterstellt wird. Sie befürchten, dass der EuGH gewisse Elemente des Schweizer Lohn­schutzes für gesetzes­widrig erklären könnte. Ist diese Furcht unbegründet?
Ich denke schon. Der EuGH ist da, um zu garantieren, dass unsere gemeinsamen Regeln eingehalten werden. Wir haben in der neuen Binnenmarkt­richtlinie das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» integriert. Man stellt hier den Europäischen Gerichtshof als Schreck­gespenst dar. Der Gerichtshof ist da, um die Einhaltung der europäischen Gesetze zu garantieren. Er ist weder neoliberal noch planwirtschaftlich.

Es stellt sich aber die Frage, wie konsequent der Grundsatz «gleicher Lohn am gleichen Ort» in der EU umgesetzt wird. Der Schweizer Lohn­schutz wird von der EU als nicht verhältnis­mässig eingeschätzt. Das Problem bleibt für die Schweiz bestehen.
Das glaube ich nicht. Bei der Osterweiterung bestand die Furcht, dass Arbeit­nehmende aus dem Osten die Löhne in den Hochlohn­ländern drücken würden. Das ist aber nicht geschehen. Deshalb gibt es diese Debatte nicht mehr: Es ist gelungen, das Problem EU-intern zu lösen. Ich weiss nicht, warum das in der Schweiz nicht möglich sein soll.

Für die Lastwagen­chauffeure etwa sind die Löhne sehr stark gesunken. Die Einwanderer aus Tieflohn­ländern im Osten gelten als wesentlicher Grund, weshalb die Briten und Britinnen dem Brexit zugestimmt haben.
Die wissenschaftlichen Untersuchungen weisen keinen Lohn­druck auf. Und zum Fall des Brexit: Bei der Osterweiterung hatten die damaligen Mitglieds­länder die Möglichkeit, die Personen­freizügigkeit während einer Übergangs­zeit einzuschränken. Alle Mitglieds­länder ausser zwei haben dies für fünf bis sieben Jahre getan. Gross­britannien hat eigenständig entschieden, das nicht zu tun. Die damalige Regierung befand, dass das nicht nötig sei und dass die Zuwanderung aus dem Osten dem Land Wachstum bringen würde. Die Menschen in Gross­britannien empfanden dann die Einwanderung als Bedrohung. Aber der Fehler liegt nicht in der EU-Politik, sondern darin, wie die Regierung Gross­britanniens sie umgesetzt hat. Nun, da viele Arbeit­nehmer aus dem Osten weggegangen sind, stellen wir fest, dass es zu Engpässen kommt bei Lastwagen­fahrern, Metzgern und in der Land­wirtschaft. Das zeigt sehr schön, dass die ausländischen Arbeit­nehmer keine Profiteure sind, sondern zum allgemeinen Wohlstand beitragen.

Bei der Unionsbürger­richtlinie stellen sich andere Heraus­forderungen. Sie erlaubt es EU-Bürgerinnen, überall in der Union von Sozial­werken zu profitieren. Es wird befürchtet, dass EU-Bürger stärker Zugang zu den Sozial­versicherungen erhielten als heute und nicht mehr ausgeschafft werden könnten, wenn sie straffällig würden. Ist diese Befürchtung unbegründet?
Ich denke schon. Die Regel gibt es in der EU seit Jahren, und sie funktioniert. Es ist nicht so, als könnte jemand einfach nach Deutschland oder Schweden reisen und dort direkt von der Sozial­hilfe Geld beziehen. Man muss mindestens fünf Jahre lang dort gelebt und gearbeitet haben. Niemand kann mir erklären, weshalb eine Kranken­schwester, die fünf Jahre lang in der Schweiz gearbeitet hat und arbeitslos oder krank wird, weniger Rechte haben soll als ein Schweizer, der in ein EU-Land arbeiten geht. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Es geht hier um grundsätzliche Rechte unserer Bürgerinnen und Bürger – auch jener der Schweiz.

Was braucht es, damit sich die verfahrenen bilateralen Beziehungen wieder verbessern?
Wir müssen den Dialog erneuern und ein Klima des Vertrauens schaffen. Dafür muss jede Seite verstehen, was die Erwartungen des anderen Partners sind. Wir haben verstanden, dass die Schweiz wünscht, ihre Beziehungen mit der EU weiterhin über bilaterale Verträge zu regeln, die auf sie zugeschnitten sind. Aber die Schweiz muss auch verstehen, dass es dafür Änderungen braucht, auf denen wir seit fünfzehn Jahren bestehen: Diese strukturellen Probleme müssen gelöst werden. Ich will nicht als Schwarz­maler dastehen: Wir haben enge und gute Beziehungen, die das Potenzial haben, ausgezeichnet zu werden. Wir sind Nachbarn und Freunde, teilen dieselbe Kultur, dieselben Sprachen und Werte. Es gilt im Grossen und Ganzen nur ein paar begrenzte Probleme zu lösen.

Wenn Sie weiterhin unabhängigen Journalismus wie diesen lesen wollen, handeln Sie jetzt: Kommen Sie an Bord!