Einwohner von Kiew blicken auf einen Wohnblock, der von einem Raketenangriff beschädigt wurde. Emilio Morenatti/AP/Keystone

Wer die Bomben bezahlt, die jetzt auf die Ukraine fallen

Die freie Welt hat diesen Krieg ermöglicht. Was sie jetzt noch tun kann – und tun muss.

Ein Kommentar von Garri Kasparow (Text) und Oliver Fuchs (Übersetzung), 28.02.2022

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Vergangene Woche, am frühen Donnerstag­morgen, ist Deutschland in die Ukraine einmarschiert. Und mit ihm die Nieder­lande, Italien, Frankreich, Gross­britannien und jedes andere Land, das die Kriegs­maschinerie des russischen Diktators Wladimir Putin in den letzten zehn Jahren unterstützt hat. Die Raketen, die in Charkiw einschlugen, die Hubschrauber, die einen Flughafen in der Nähe der Haupt­stadt Kiew angriffen, jede Kugel für jede Waffe eines jeden russischen Fallschirm­jägers – alles wurde zum grössten Teil mit Geld aus der freien Welt gebaut oder damit gekauft. Und ebenjene freie Welt ist nun in Schock­starre darüber, dass diese Waffen genau zu jenem Zweck eingesetzt werden, für den sie gedacht sind.

Europa kaufte russisches Gas und Öl und hiess die Milliarden willkommen, die Putins Oligarchen­kumpane geraubt und geplündert haben bei Börsen­gängen, bei Immobilien­deals und über legale und illegale politische Spenden. Selbst nachdem Putin 2014 in die Ukraine einmarschiert war und die Krim annektiert hatte, versuchte Europa, Business as usual aufrecht­zuerhalten und Geschäftliches von Russlands Angriff auf die europäische Sicherheit und die globale Welt­ordnung zu trennen.

Am Donnerstag zahlte Putin ihnen die jahre­lange Appeasement­politik voll und ganz zurück.

Nachdem wochen­langes Getue und dramatische Aufrufe zu Gipfel­treffen und Verhandlungen weltweit für Schlag­zeilen gesorgt hatten, schickte er seine Truppen in Massen in die Ukraine, wie er es schon vor Monaten geplant hatte. Die grossspurige Pendel­diplomatie von Emmanuel Macron und Olaf Scholz erwies sich für alle Beteiligten als Zeit­verschwendung – ausser für Putin, der sie nutzte, um während­dessen seine Streit­kräfte für den Angriff vorzubereiten.

Diese Zeit hätte genutzt werden können, um die Ukraine mit den Waffen auszustatten, die sie dringend braucht, um sich gegen die überwältigende militärische Überlegenheit Russlands zu wehren. Sie hätte genutzt werden können, um Sanktionen zu verhängen und zu zeigen, dass der Westen es dieses Mal ernst meint mit der Abschreckung. Stattdessen wurde die Ukraine wie eine Bitt­stellerin behandelt, und die Sanktionen wurden in der Hinter­hand behalten, als Drohung, die ernst zu nehmen Putin wenig Grund hatte. Wenn ihr die Macht habt, mich aufzuhalten, und sie nicht nutzt – gebt ihr mir dann nicht grünes Licht? So seine Überlegung.

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Garri Kasparow (58) ist ein russischer Schach­grossmeister und ehemaliger Schach­weltmeister sowie Schrift­steller, politischer Aktivist und Kommentator. Er ist zudem Vorsitzender der amerikanischen NGO Renew Democracy Initiative. Kasparow wuchs in der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjet­republik auf und ist armenischer und jüdischer Abstammung. Ab 2013 lebte er in New York, 2014 erhielt er die kroatische Staats­bürgerschaft. Seit 2020 wohnt er in Podstrana bei Split.

Es ist nicht so, dass Putin zu verbergen versucht hätte, was er tat. Es bedurfte keiner Spione und Satelliten, um heraus­zufinden, dass Russland Rekord­summen in seine militärische Kapazität und seine Sicherheits­kräfte investierte; das konnten alle, die das wollten, bequem im alljährlichen Staats­budget nachlesen. Russland mag zerfallen und abgehängt werden, aber für Sicherheits­kräfte und Propaganda war immer genug Geld da. Das Budget eines Diktators.

Putin war sich der Ahnungs­losigkeit und Feigheit seiner möglichen Wider­sacher dermassen sicher, dass er im Lauf von zwei Monaten fast alle mobilen Einheiten des russischen Militärs an die ukrainische Grenze verlegte. Er gab sich kaum Mühe, einen der üblichen Vorwände für «Militär­übungen» anzuführen, selbst als er den ungewöhnlichen Schritt unternahm, eine grosse Streit­macht nach Belarus zu verlegen – wo sie nur ein paar Stunden Panzer­fahrt von Kiew entfernt in Stellung gebracht wurde.

Natürlich ist dies nicht das erste Mal, dass die Welt Putins Warnungen ignoriert – von meinen Warnungen ganz zu schweigen. Fünf Jahre nach seinem Amts­antritt in Russland erklärte Putin berüchtigter­weise, dass «der Untergang der Sowjet­union die grösste geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts» sei. Nur wenige nahmen diese Aussage wirklich ernst – oder verstanden sie so, dass Putin versuchen würde, diese Katastrophe rückgängig zu machen, sollte sich ihm die Möglichkeit dazu bieten. Ähnlich wie man Hitlers «Mein Kampf» bei dessen Veröffentlichung im Jahr 1925 als kaum mehr als eine hasserfüllte Hetz­schrift sah, wurde dieses klare Warn­signal ignoriert.

Nun ist in Europa ein Eroberungs­krieg ausgebrochen, der die grösste Bedrohung für die Grenzen und die Gesetze nach dem Zweiten Weltkrieg darstellt. Panzer rollen, ballistische Raketen fliegen, und Jets liefern sich Luft­kämpfe über Gross­städten. Putin hat sein Versprechen eingelöst und versucht, die Ukraine zu zerschlagen, in die er zum ersten Mal 2014 eingedrungen ist. Heute, acht Jahre später, sind Putin und seine Kriegs­maschinerie weitaus stärker als damals.

Anstatt politisch isoliert und wirtschaftlich abgeschnitten zu sein, hat sein Regime von rekord­hohen Gas- und Ölexporten profitiert. Die meisten Erträge landen auf Privat­konten, die Putin und seine Kumpels zu den reichsten Menschen der Welt machen. Ein grosser Teil des Rests ist buchstäblich in eine Kriegs­kasse geflossen, die Russlands Militär und Sicherheits­kräfte gestärkt hat und einen Reserve­fonds speist, der ihnen helfen soll, Sanktionen zu überstehen.

Die Zeit hat auch Putins Macht in Russland gestärkt: Alle wichtigen Kritikerinnen sind entweder tot, in Haft oder im Exil. Die letzten grösseren Proteste, die 2020 zugunsten des inhaftierten Oppositions­führers Alexei Nawalny stattfanden, wurden von einer Armee gut ausgerüsteter Bereitschafts­polizisten nieder­geschlagen. Ihre glänzenden neuen Helme und Schlag­stöcke waren von denselben europäischen Staaten bezahlt worden, deren Führerinnen kleinlaut gegen die Brutalität des Staats­apparats protestierten.

Putin ist nicht unverwundbar, und genauso wenig ist es seine Armee. Die Ukraine kämpft hart, und falls sie den ersten Ansturm abwehren kann und recht­zeitig Hilfe eintrifft, könnte Putin in eine schwierige Lage geraten. Er wird sich entweder zurück­ziehen oder sich für den totalen Krieg gegen eine städtische Bevölkerung entscheiden müssen – was selbst die schläfrige Nato zum Handeln bewegen könnte.

Die Russen haben in diesen Tagen so zahlreich gegen diesen Krieg protestiert wie seit 2020 nicht mehr. Allein am ersten Kriegstag wurden landes­weit mehr als 1700 Menschen verhaftet. Die meisten Russinnen beziehen ihre Nachrichten leider aus dem staatlich kontrollierten Fernsehen, wo ihnen eingetrichtert wird, dass es sich bei diesem Krieg um eine Selbst­verteidigung gegen die «Nazis» in der Ukraine und deren Herren in Amerika handelt. (Ja, wirklich.) Je länger dieser Krieg andauert, desto offensichtlicher wird, dass Putins unnötiger Krieg gegen die Ukraine auch Teil seines Kriegs gegen die Russen ist.

Russland verfügt über das grösste Atom­waffen­arsenal der Welt, und Putin verweist regel­mässig darauf. Aber es gibt viel, was getan werden kann, um ihn zu bremsen und Leben zu retten. Nachdem meine Warnungen und Vorschläge jahrelang ignoriert wurden und ich nun den ganzen Tag «Du hattest recht, Garry!» höre, wiederhole ich, was ich 2014 gesagt habe: Hören Sie auf, mir zu sagen, dass ich recht hatte – und fangen Sie jetzt an, zuzuhören.

Meine Empfehlungen:

  1. Ihr Land muss die Ukraine militärisch unter­stützen, sofort. Mit allem, ausser mit Truppen vor Ort, das heisst, mit der Lieferung von modernen Waffen, Geheimdienst­informationen und Cyber­kompetenzen. Und das muss jetzt geschehen. Wenn die Ukraine fällt, wird Putin sie ausbluten lassen, um die Sanktionen zu kompensieren und sich zu verschanzen, wie er es auf der Krim und in der Ostukraine getan hat. Ein Sieg der Ukraine ist auch der einzige Weg, um zu verhindern, dass sich das Ganze wiederholt, wenn Putin neue Angriffs­ziele braucht, um von der katastrophalen Lage seines Landes abzulenken.

  2. Ihr Land muss Putins Kriegs­maschinerie ruinieren, indem es russische Vermögens­werte einfriert und beschlagnahmt und vom Markt­zugang abschneidet. Russland muss aus dem Zahlungs­abwicklungs­system Swift und anderen Finanz­netzwerken sowie aus allen internationalen Institutionen rausgeworfen werden.

  3. Ihr Land muss die Vermögen von Putins Kumpanen und deren Unter­nehmen und Familien in der freien Welt finden und beschlag­nahmen. Es muss diesen Menschen die Visa entziehen – und sie in die Diktatur zurück­schicken, die sie mitaufgebaut haben.

  4. Ihr Land muss seinen Botschafter aus Russland abziehen. Es hat keinen Sinn, mit einer schurkischen Diktatur, die Krieg führt, Diplomatie zu spielen – oder zu kommunizieren. Übermitteln Sie Putin die klare Nachricht, dass er komplett isoliert sein wird, bis alle Aggressionen aufhören und die Ukraine wieder­aufgebaut ist und kompensiert wurde.

  5. Ihr Land muss alle Elemente von Putins globaler Propaganda­maschine deaktivieren, es muss Putins Medien ausschalten und seine Mitarbeiterinnen nach Hause schicken. Russia Today und andere Platt­formen pumpen Lügen und Hass in Millionen von Haushalte in der freien Welt, während Putin die absolute Kontrolle über die Medien in Russland aufrechterhält.

  6. Ihr Land muss Putins Lakaien in der freien Welt beschämen: die Lobbyistinnen, die Anwalts­kanzleien, die ehemaligen Politiker wie den deutschen Ex-Kanzler Gerhard Schröder, der zwei von Putins strategisch wichtigen Energie­unternehmen vorsteht. Dazu gehören die «fünften Kolumnisten» aller politischen Couleur, die sich aus ideologischen Gründen oder wegen des russischen Geldes auf die Seite eines Diktators stellen. Warum dulden Führungs­kräfte und Werbe­kundinnen, dass Leute wie Tucker Carlson auf Fox News zur besten Sendezeit Putin-Propaganda verbreiten? Trump und seine Gefolgs­leute im Kongress bringen immer noch kein schlechtes Wort über Putin über die Lippen – stattdessen wieder­holen sie die russische Propaganda, die der Nato und Präsident Biden die Schuld gibt, selbst wenn russische Bomben auf die Ukraine fallen. Ich habe jeden US-Präsidenten seit Reagan wegen seiner Russland­politik gescholten, aber einen blutrünstigen Diktator zu loben, um partei­politisch zu punkten, das ist widerlich und unamerikanisch.

  7. Ihr Land muss die russischen Energie­exporte ersetzen, indem es die Produktion erhöht und neue Quellen erschliesst, vom Fracking über die Atom­kraft bis hin zu erneuerbaren Energien. Es ist inakzeptabel, autoritären Kräften so viel Spielraum für Erpressungen zu geben. Es hat keinen Sinn, den Planeten zu retten, wenn man nicht auch die Menschen rettet, die ihn bewohnen.

Joe Biden ist durch seine Erfahrungen im Kalten Krieg besser vorbereitet als die meisten seiner europäischen Kolleginnen. Sein ernster Ton und die Ankündigung harter Sanktionen waren ein guter Anfang. Die meisten Staats- und Regierungs­chefs der EU, selbst diejenigen im Osten, die erkennen, welche Gefahr Putin darstellt, sind eine Generation zu jung, um Konfrontation und Konflikt zu kennen. Jetzt aber müssen sie der Ukraine helfen, gegen das Monster zu kämpfen, das sie miterschaffen haben.

Dies ist ein Krieg, ein heisser Krieg, keine Abschreckung mehr. Die Zeit drängt, die Ukraine mit Waffen zu versorgen, damit sie den Krieg für die Freiheit führen kann, den der Rest der Welt lieber für nicht real hält.

Wir müssen anerkennen, dass dies mit Opfern verbunden ist. Der Preis dafür, Putin zu stoppen, ist gestiegen, seit dieser 2008 in Georgien und 2014 zum ersten Mal in die Ukraine einmarschierte. Aber der Preis wird nur noch mehr steigen, wenn Putin jetzt nicht gestoppt wird. Wenn wir den Kampf jetzt nicht führen, verschieben wir das Unvermeidliche nur auf einen anderen Zeit­punkt und an einen anderen Ort.

Die Ukraine gegen Putin zu verteidigen, das heisst, die freie Welt gegen Putin zu verteidigen. Die Verteidigung des ukrainischen Lebens ist die Verteidigung der westlichen Werte. Ich erinnere mich aus meinem früheren Leben in der Sowjet­union, die Putin so sehr vermisst, dass sich Amerika früher um solche Dinge gekümmert hat. Es ist an der Zeit, zu tun, was nötig ist und was richtig ist. Es ist Zeit, zu kämpfen.

Dieser Beitrag erschien am 25. Februar 2022 unter dem Titel «How the Free World Gave Putin the Green Light» in den «New York Daily News».

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