Briefing aus Bern

Mit Gaskraft gegen Stromlücken, im Sexual­strafrecht solls bei «Nein heisst Nein» bleiben und Haus­krach bei den Freiheits­trychlern

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (180).

Von Reto Aschwanden, Elia Blülle, Dennis Bühler und Lukas Häuptli, 24.02.2022

Synthetische Stimme
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Bei den Freiheits­trychlern schepperts: In einem Macht­kampf sammelt sich das eine Lager um den Gründer Andy Benz aus Schwyz, das andere um den St. Galler Roland Schätti. Das geht laut dem «Sonntags­Blick» so weit, dass Benz mit einigen Getreuen bei Schätti daheim zum «Protest­trycheln» auftauchte, woraufhin Schätti die Polizei holte. Der Hauskrach dreht sich darum, wer öffentlich für die Trychler sprechen darf, aber auch um Marken­rechte und Einkünfte aus Spenden und Merchandise.

Die Selbstzerfleischung der Freiheits­trychler wiederholt ein Muster, das sich schon zuvor in Corona-Protest­gruppen zeigte. Im Dezember spaltete sich der Verein Mass-voll: Viele Mitglieder traten aus und gründeten einen eigenen Verein, seither ist die Kerngruppe um Präsident Nicolas A. Rimoldi arg dezimiert. Anfang Januar knallte es dann bei den «Freunden der Verfassung»: Der gesamte Vorstand trat kollektiv zurück. Auf der Website des Vereins ist von einem «internen Putsch» die Rede.

Damit zerlegt sich eine Bewegung selbst, die innert kürzester Zeit ein ernst zu nehmender, weil referendums­fähiger Polit­akteur geworden war. Für Gegnerinnen dieser Gruppen ist das aber weder Grund für Erleichterung noch zur Schaden­freude. Denn die Gräben innerhalb der Bewegung verlaufen zwischen Gemässigten und Radikalen. Schätti von den Freiheits­trychlern bezeichnet seinen Widersacher Benz als Diktator und sagt: «Einige in der Gruppe sind rechtsextrem und eine Gefahr für die Gesellschaft.» Verschärft wird diese Gefahr durch Neonazis, die in den letzten Wochen bei Demonstrationen gegen die Corona-Politik das Kommando übernommen haben. Die Neonazis sind gut organisiert und füllen das Macht­vakuum in der Szene der Massnahmen­kritikerinnen.

«Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern und Schwestern», paraphrasieren die Freiheits­trychler in ihrem Bekenntnis den Rütli­schwur aus Schillers «Wilhelm Tell». Doch erinnern die Massnahmen­gegnerinnen mittlerweile weniger an die alten Eidgenossen, die sich zu einem Bündnis zusammen­schlossen, als an Tell. Der war nämlich, ebenfalls gemäss Schiller, alles andere als ein Teamplayer. «Der Starke ist am mächtigsten allein», spricht er im Drama. Damit können sich offensichtlich viele der selbst ernannten Freiheits­kämpfer von heute identifizieren. Bloss bietet diese Geistes­haltung nicht die ideale Voraussetzung für eine längerfristig funktionierende Organisation, die sich im Rahmen des politischen Systems bewegt. Stattdessen droht eine weitere Radikalisierung von Teilen der Protest­bewegung.

Und damit zum Briefing aus Bern.

Energiepolitik: Gas­kraftwerke für Versorgungs­sicherheit

Worum es geht: Der Bundesrat will bis zu drei neue Gas­kraftwerke bauen. Sie sollen in Ausnahme­situationen zum Einsatz kommen, wenn der Strom­markt die Nachfrage nicht mehr decken kann. Kosten werden sie gemäss Bundesrat maximal 900 Millionen Franken. Ferner will die Regierung Betreiber von Wasserspeicher­kraftwerken gegen finanzielle Entschädigung dazu bewegen, bestimmte Mengen zurück­zubehalten, die im späten Winter bei Bedarf zum Einsatz kämen.

Warum Sie das wissen müssen: Der Schweiz könnte ab 2025 in den späten Winter­monaten zeitweise der Strom ausgehen. Weil der Bundesrat die Verhandlungen mit der EU um das Rahmen­abkommen abgebrochen hat, fiel auch das geplante Strom­abkommen mit der EU ins Wasser. Es hätte der Schweiz längerfristig den Zugang zum europäischen Strom­markt garantiert. Aufgrund neuer EU-Regulierungen kann die Schweiz ab 2025 nicht mehr darauf zählen, bei einer Strom­mangellage ihren Strom aus dem Ausland zu importieren. Deshalb möchte der Bundesrat die Strom­produktion mit Gaskraft­werken absichern, die im Notfall zum Einsatz kämen. Das dabei ausgestossene Kohlenstoff­dioxid soll mit CO2-Zertifikaten auf dem Emissions­markt kompensiert werden.

Wie es weitergeht: Die neuen Gas­kraftwerke werden kaum bereits im Jahr 2025 stehen. Volks­abstimmungen und Einsprachen in den Standort­gemeinden könnten den Bau um Jahre verzögern. Die Wasserkraft­reserve im Winter will der Bundesrat über den Verordnungs­weg einführen, damit sie bereits ab dem nächsten Winter zum Einsatz kommen kann.

Sexualstrafrecht: Kommission lehnt «Nur Ja heisst Ja»-Lösung ab

Worum es geht: Die ständerätliche Kommission für Rechtsfragen will in ihrem Entwurf für ein revidiertes Sexual­strafrecht nichts wissen von einem Wechsel zum Zustimmungs­prinzip («Nur Ja heisst Ja»). Eine 9:4-Mehrheit hält trotz Kritik in der Vernehmlassung an der «Nein heisst Nein»-Lösung fest. Das heisst: Sexuelle Nötigung beziehungs­weise Vergewaltigung liegen nur vor, wenn das Opfer verbal oder nonverbal kommuniziert, dass es den sexuellen Handlungen nicht zustimmt. Anders als zunächst geplant will die Kommission auf einen neuen Straf­tatbestand «sexueller Übergriff» verzichten. Dafür gilt neu eine Handlung als Vergewaltigung, die «mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist». Damit werden künftig auch Opfer männlichen Geschlechts von diesem Tatbestand erfasst.

Warum Sie das wissen müssen: Seit Jahren wird heftig über eine Reform des Sexual­strafrechts diskutiert – immer wieder auch in der Republik –, nun liegen die Vorschläge vor. Nach heutigem Schweizer Recht kann ein Gericht einen Täter nur dann wegen Vergewaltigung verurteilen, wenn er Gewalt anwendet oder damit droht, psychischen Druck ausübt oder sein Opfer zum Widerstand unfähig macht. Liegt kein solches «Nötigungs­mittel» vor, gilt die Tat nicht als schweres Delikt – auch wenn das Opfer Nein gesagt hat. Dann kommt nur der Tatbestand der sexuellen Belästigung infrage, der lediglich auf Antrag verfolgt wird. Deshalb verlangen diverse Organisationen einen Wechsel zum Zustimmungs­prinzip, wie es in Schweden seit 2018 gilt und wie es der von der Schweiz ratifizierten Istanbul-Konvention entspräche. Dass die ständerätliche Kommission die «Nur Ja heisst Ja»-Lösung nun definitiv ablehnt, überrascht aber nicht: Im Dezember sprach sich die kleine Kammer auf ihren Antrag hin gegen eine entsprechende Standes­initiative des Kantons Genf aus.

Wie es weitergeht: Bevor sich der Ständerat im Juni mit der Revision des Sexual­strafrechts befassen wird, nimmt zunächst der Bundesrat Stellung zu den von der Kommission eingebrachten Vorschlägen. Zu einem späteren Zeitpunkt wird der Nationalrat darüber befinden. Ist die Reform vom Parlament unter Dach und Fach gebracht, kann dagegen das Referendum ergriffen werden.

Menschenrechte: Schweizer Botschaft macht chinesische Zensur publik

Worum es geht: «Vor zwei Monaten verschwand der Menschen­rechts­anwalt Tang Jitian.» Das schrieb die Schweizer Botschaft in Peking vor zwei Wochen auf dem sozialen Netzwerk Weibo, dem chinesischen Pendant zu Twitter. Wie die Botschaft vergangene Woche publik machte, wurde der Post von den chinesischen Zensur­behörden innert 24 Stunden gelöscht. Dass die Schweiz einen mutmasslichen Menschen­rechts­verstoss Pekings auf diese Weise öffentlich anprangert, ist ein Novum. Kenner werten es als Zeichen eines Strategie­wechsels im Umgang mit China.

Warum Sie das wissen müssen: Vor einem knappen Jahr präsentierte der Bundesrat seine China-Strategie für die Jahre 2021 bis 2024. Ihr lag die Erkenntnis zugrunde, dass China nach der wirtschaftlichen Öffnung nicht liberaler geworden ist, sprich: Die «Wandel durch Handel»-Hoffnung hat sich zerschlagen. Für Schweizer Verhältnisse wählte Aussen­minister Ignazio Cassis damals deutliche Worte: «Politisch bleibt China faktisch ein Einparteien­staat mit zunehmend autoritären Tendenzen.» Der chinesische Botschafter in der Schweiz reagierte aufgebracht: Der Bundesrat versehe sein Land mit «böswilligen Labels». Nun führt das Verschwinden von Tang Jitian zu neuen diplomatischen Verstimmungen. Der prominente Regime­kritiker war letzten Dezember an einer Veranstaltung zum Tag der Menschen­rechte als Redner eingeladen. Doch er tauchte nicht auf und ist seither spurlos verschwunden. Gemäss einem Bericht von Radio Free Asia werde der 53-Jährige wie bereits 2014 gefoltert. Als sie vom chinesischen Aussen­ministerium «keine befriedigende Auskunft» über Tangs Verbleib erhielten, machten die deutsche, die französische und die schweizerische Botschaft die Affäre öffentlich. Amnesty International lobte das Vorgehen der Schweiz als «starkes Zeichen». Auch Parlamentarier von links und rechts begrüssten den klaren Positions­bezug.

Wie es weitergeht: Tang Jitian wird weiterhin vermisst. Und zwischen der Schweiz und China dürfte es in Zukunft vermehrt zu diplomatischen Verstimmungen kommen.

Antisemitismus: Immer mehr Vorfälle, Aktions­plan gefordert

Worum es geht: Juden­feindliche Vorfälle in der Schweiz haben im letzten Jahr deutlich zugenommen. Das ist das Ergebnis des Antisemitismus­berichts 2021, den der Schweizerische Israelitische Gemeinde­bund und die Stiftung gegen Rassismus und Anti­semitismus am Montag veröffentlicht haben. Im Bericht sind 859 Vorfälle aufgeführt. 806 davon ereigneten sich auf Social Media und in den Kommentar­spalten elektronischer Medien. 16 waren Beschimpfungen im öffentlichen Raum und 7 Schmierereien. In einem Fall kam es zu einer Sach­beschädigung. Im vorletzten Jahr lag die Zahl antisemitischer Vorfälle bei 532.

Warum Sie das wissen müssen: Die deutliche Zunahme der Vorfälle ist im Wesentlichen auf zwei Faktoren zurück­zuführen: Der erste sind die sozialen Netzwerke, in denen Beiträge von Einzel­personen und Gruppen kaum kontrolliert werden. Das betrifft in erster Linie den Messaging-Dienst Telegram. Der zweite ist die Pandemie. Die Verfasser des Antisemitismus­berichts schreiben: «Der mit Abstand grösste Trigger 2021 war die Corona­pandemie. (…) Darum überrascht es wenig, dass 51 Prozent aller Online-Vorfälle dieses Jahr zeitgenössische antisemitische Verschwörungs­theorien zum Inhalt haben.»

Wie es weitergeht: Der Israelitische Gemeinde­bund und die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus fordern «eine umfassende Strategie zur Bekämpfung der Umstände, die den Nährboden für Antisemitismus bilden». So brauche es zusätzliche Bildungs­massnahmen gegen Verschwörungs­theorien und ein staatliches Engagement beim Monitoring von Anti­semitismus und Rassismus. Unterstützung erhalten die beiden Institutionen von den Grünen. Diese verlangen eine nationale Strategie und einen Aktionsplan gegen Antisemitismus.

Kulturgüter: Bundesrat befürwortet eine neue Kommission zur Klärung von Streit­fragen

Worum es geht: Die Landes­regierung ist grundsätzlich bereit, eine unabhängige Kommission einzusetzen, die sich bei Streitigkeiten um Kunst­werke einschaltet. Das betrifft namentlich Werke, die zur Zeit des National­sozialismus den Besitzer wechselten, und Kultur­güter aus einem kolonialen Kontext.

Warum Sie das wissen müssen: Der Skandal um die Bührle-Sammlung im Zürcher Kunsthaus hat es einmal mehr gezeigt: Im Umgang mit Kunst­werken, die unter fragwürdigen Umständen verkauft wurden, besteht in der Schweiz Handlungs­bedarf. Der Bündner SP-Nationalrat Jon Pult hat deshalb Anfang Dezember eine Motion eingereicht, die von Mitgliedern aller Fraktionen mitunterzeichnet wurde. Der Vorstoss verlangt die Einsetzung einer unabhängigen Kommission, die «in Fällen von NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kultur­gütern Empfehlungen abgibt für ‹gerechte und faire Lösungen›», und formuliert auch gleich die Rahmen­bedingungen für ein solches Gremium. Diese Bedingungen will der Bundesrat allerdings noch nicht festlegen, das wäre «verfrüht und nicht zielführend».

Wie es weitergeht: Der Bundesrat beantragt, den ersten Teil der Motion anzunehmen: den Auftrag, eine Kommission einzusetzen. Damit kommt Pults Vorstoss in einem nächsten Schritt in den Nationalrat.

Ethik im Sport: Bundesrat will Verstösse finanziell ahnden können

Worum es geht: Der Bundesrat lanciert ein Massnahmen­paket, um die Sport­förderung ethischer zu gestalten. Besonders wichtig: Er will vorhandene Ethik­vorgaben rechtlich verankern – was es ihm erlauben würde, Unterstützungs­gelder zu kürzen oder zu streichen, wenn ein Sportverband oder -verein gegen diese Grundsätze verstösst.

Warum Sie das wissen müssen: Im vergangenen Herbst zeigte ein im Zusammen­hang mit Vorfällen im Nationalen Sportzentrum Magglingen erstellter Untersuchungs­bericht: Viele Schweizer Sportlerinnen erleben Erniedrigungen, Beschimpfungen und Kollektiv­strafen. Sportministerin Viola Amherd stellte klar: «Wir unterstützen den Leistungs­sport, aber nicht um jeden Preis.» In der Folge verabschiedete das Schweizer Sport­parlament Ende November ein Ethik-Statut, das Verhaltens­weisen auflistet, die nicht toleriert werden: Gewalt, Ausbeutung, sexueller Missbrauch oder auch Drohung und Mobbing. Tritt das vom Bundesrat geschnürte Massnahmen­paket in Kraft, werden sich alle Sport­verbände und -vereine an die vom Sport­parlament erlassenen Bestimmungen halten müssen, wenn sie Finanzhilfen des Bundes beanspruchen. Zudem sollen sie in Finanz­fragen transparenter werden, Amtszeit­beschränkungen einführen und in Leitungs­gremien eine ausgewogene Geschlechter­verteilung garantieren. Diese Vorschläge enthalten einige Sprengkraft, denn viele Verbände agieren in Geldfragen undurchsichtig und werden teilweise über Jahrzehnte von denselben (männlichen) Funktionären geführt.

Wie es weitergeht: Zum Massnahmen­paket wird eine Vernehmlassung durchgeführt, die bis zum 1. Juni dauert – während gut drei Monaten können sich nun also alle interessierten Kreise dazu äussern. In Kraft treten sollen die neuen Bestimmungen Anfang 2023.

Männer­versteherin der Woche

Die «NZZ am Sonntag» hat ihr Herz für linke Männer entdeckt. In der letzten Ausgabe rechnete sie vor, dass die SP in den letzten zwei Jahren bei kantonalen Wahlen total 31 Sitze verloren hat – mit einer Ausnahme traf es jedes Mal Männer. Weil Einzel­schicksale mehr berühren als Zahlen, schildert die Journalistin einfühlsam einen jüngst abgewählten Zürcher SP-Gemeinderat, der in einem Restaurant sitzend ins Leere schaut und sagt: «Heute habe ich manchmal den Eindruck, dass man als Mann in der SP doppelt so viel leisten muss.» Auch einen 2019 abgewählten Nationalrat aus Bern lässt sie seiner Partei ins Gewissen reden: «Wir müssen aufpassen, dass wir für Männer attraktiv bleiben.» Die Journalistin stellt fest: «Männer, die keine homosexuelle oder migrantische Geschichte erzählen können, haben es schwer.» Dann kommt sie zu den ganz grossen Fragen: «Wann ist Gleich­stellung erreicht? Und was, wenn sie darauf hinausläuft, dass links nur noch Frauen und rechts nur noch Männer politisieren?» Die Antwort darauf gibt SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer, die es durchaus bedauert, wenn verdiente Genossen abgewählt werden, aber findet: «Es ist nun an den Bürgerlichen, endlich ihren Job punkto Gleich­stellung zu leisten!»

Illustration: Till Lauer

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