Auf lange Sicht

Spekulieren fürs Klima

In Europa ist der Preis von CO2-Zertifikaten massiv gestiegen. Was sind die Gründe dafür? Und hilft das dem Klimaschutz? Ein Daten­briefing über den Handel mit Emissions­rechten.

Von Simon Schmid, 21.02.2022

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Kurzfristige Korrekturen sind möglich, da auch der Gasmarkt korrigieren dürfte, aber wenn sich der Preis der 50-Euro-Schwelle nähert, dann werden Emissions­rechte wohl gestützt durch Buy-the-dip-Käufe. Die Volatilität bleibt hoch.

Expertenzitat auf dem Portal «Energy Monitor».

Analysen zum europäischen Emissions­handel klingen neuerdings wie Börsen­kommentare. Da ist die Rede von spekulativer Nachfrage, von Hedging-Strategien, von technischen Korrekturen, von Aufwärts-, von Abwärts- und von Seitwärts­bewegungen – ganz so, als ginge es nicht um die Bewältigung der Klima­krise, sondern um den Dow-Jones-Aktienindex.

Grund dafür ist die spektakuläre Preis­entwicklung im vergangenen Jahr. Der Handels­preis für das Recht, in Europa eine Tonne CO2 auszustossen, hat sich 2021 verdreifacht: von rund 30 Euro auf über 90 Euro. Strom­produzenten, Zement­herstellerinnen, Plastik­fabrikanten oder Transport­unternehmen kommt es damit teurer zu stehen, wenn sie klima­schädliche Treibhaus­gase emittieren.

Wie bedeutsam ist diese Veränderung? Was sind die Ursachen, was die Folgen? Und was heisst es für die Klima­politik, wenn der Markt für Emissions­zertifikate zum Tummel­platz für Finanz­spekulantinnen wird?

Wer verschmutzt, soll bezahlen

Zunächst etwas Theorie. Der Emissions­handel ist ein Verfahren, um in der Klima­politik das Verursacher­prinzip durchzusetzen. Wer verschmutzt, soll bezahlen – putting a price on carbon. Kosten­wahrheit und ökonomische Anreize sollen her, damit die Dekarbonisierung der Wirtschaft vorankommt.

Ein Preis auf CO2 lässt sich grundsätzlich auf zwei Arten einführen:

  • Mit einer Steuer: Dabei müssen Produzenten oder Konsumentinnen für jede Tonne emittiertes CO2 einen fixen Preis bezahlen, der von der Politik festgelegt wird. So macht es die Schweiz zum Beispiel beim Heizöl.

  • Mit einem Emissionshandels­system: Hier legt die Politik im Voraus die Gesamt­menge an Treibhaus­gas fest, die ausgestossen werden darf. Firmen müssen in Auktionen anschliessend das Recht auf Emissionen ersteigern.

Die zwei Ansätze führen potenziell zu einem ähnlichen Ergebnis. Doch auf dem Weg dahin gibt einen zentralen Unterschied:

  • Bei der CO2-Steuer hat man die Gewissheit, dass Verschmutzer bezahlen, aber man weiss im Voraus nicht, wie viel tatsächlich verschmutzt wird.

  • Beim Emissions­handel weiss man, wie viel insgesamt verschmutzt wird, aber nicht, wie viel diese Verschmutzung die Verursacherinnen kosten wird.

Da die Europäische Union ihrer Natur nach weniger eine Steuer­behörde als vielmehr ein Markt­regulator ist, lag es in den Nuller­jahren nahe, nicht eine CO2-Steuer, sondern ein Emissions­handels­system ins Leben zu rufen.

Wo CO2 gehandelt wird

Das Emissions Trading System (ETS) der EU wurde 2005 als weltweit erstes Emissions­handels­system in Kraft gesetzt. Es deckt rund 40 Prozent der gesamten Treibhausgas­emissionen aller EU-Mitglieds­länder ab. Vor allem Unternehmen mit grossem CO2-Ausstoss sind daran angeschlossen.

Die grössten Systeme

Emissionshandel nach Volumen

China012’301 MtEuropäische Union03893 MtKorea0728 MtNordost-USA0564 MtKalifornien0425 Mt

Angaben in Megatonnen CO2-Äquivalenten. Quelle: icap

Bis vor kurzem war das europäische ETS auch das grösste. Die USA kennen den Emissions­handel nur auf regionaler Ebene: Kalifornien betreibt ein System, und auch eine Reihe von Glied­staaten im Nord­osten. Neben der Schweiz (deren System vor zwei Jahren mit dem der EU fusioniert wurde) betreiben nur eine Handvoll weiterer Staaten ebenfalls Emissions­handels­systeme, darunter Grossbritannien, Südkorea und Neuseeland, sowie einige substaatliche Einheiten wie die kanadische Provinz Quebec und der Grossraum um Tokio.

Vergangenes Jahr nahm allerdings auch China ein Emissions­handels­system in Betrieb. Es deckt mehr als dreimal so viele Emissionen ab wie jenes der EU und ist somit neu das grösste der Welt. Das chinesische System entstand als Klammer über eine Reihe von Pilot­projekten, die seit 2013 in sieben Städten liefen, darunter Peking, Shanghai und Shenzhen.

Wie das Instrument effektiv wurde

Auch das Emissions­handels­system der EU war ursprünglich ein Pilot­versuch. Es hat einige Zeit gedauert, bis daraus ein effektives Instrument der Klima­politik wurde.

Denn: 2005 bis 2007, während der ersten Phase, wurden noch 95 Prozent aller Zertifikate verschenkt. Unternehmen mussten dementsprechend nur für 5 Prozent ihrer Emissionen ein Zertifikat erwerben. Weil es zudem mehr Zertifikate gab, als die Unternehmen überhaupt benötigten, sank deren Preis bald auf null.

Der lange Marsch nach oben

Handelspreis eines EU-Emissions­zertifikats

2004201020162022050100 EuroPhase 1Phase 2Phase 3Phase 4Februar 202290 Euro

Ein Zertifikat berechtigt zum Ausstoss einer Tonne CO2. Quelle: Tradingeconomics.

Die zweite Phase des ETS begann 2008. Norwegen, Liechtenstein und Island wurden miteinbezogen, und die Gesamtmenge der verfügbaren Zertifikate wurde verringert – schliesslich ergibt Emissions­handel keinen Sinn, wenn es Zertifikate im Überfluss gibt, die niemand kaufen will. Nach wie vor wurden aber 90 Prozent aller Zertifikate gratis an Firmen abgegeben. Dann schlug auch noch die Finanz­krise ein, und die Nachfrage nach Zertifikaten ging zusätzlich zurück. So fiel der Handels­preis einer Tonne CO2 im Verlauf der zweiten Phase erneut: von rund 30 Euro auf gerade mal noch 6 Euro.

Phase 3 startete 2013, mit wesentlichen Neuerungen. Nicht mehr die Mitglieds­länder, sondern die EU bestimmte fortan, wie viele Zertifikate verfügbar waren und wie viele davon – basierend auf einer Methodik, die sich an der klima­freundlichsten Technologie orientiert – kostenlos an Firmen abgegeben wurden. Zudem wurde ein Automatismus eingeführt, der die Gesamtzahl der Zertifikate Jahr für Jahr um 1,7 Prozent sinken liess. Und es wurden in Phase 3 auch deutlich weniger Gratis­zertifikate abgegeben.

Damit wären die Voraus­setzungen für ein reges Bieten eigentlich vorhanden gewesen. Doch diesmal funkte die Eurokrise dazwischen und verhinderte, dass sich der CO2-Preis vom Fleck bewegte. Erneut war das Angebot an Zertifikaten zu gross und die Nachfrage zu klein. Dies änderte sich erst gegen Ende des Jahrzehnts. Die EU ratifizierte damals das Pariser Klima­abkommen, sie beschloss ein Netto-null-Ziel und modifizierte das Handels­system: Eine sogenannte Markt­stabilisierungs­reserve wurde geschaffen, die dem Emissions­handel während einer Flaute überflüssige Zertifikate entzieht.

Endlich stieg dadurch auch der CO2-Preis: Ende 2020 lag er bei rund 30 Euro. Klima­politisch wurde dies zum Abschluss der Phase 3 bereits als Erfolg gewertet. Doch es sollte in der Phase 4 noch ganz anders kommen.

Der Preisabflug

Ihr Start im Jahr 2021 fiel zeitlich zusammen mit dem Beschluss der EU, das unions­weite Klimaziel für 2030 zu verschärfen. Um dieses auch zu erreichen, schlug die Kommission weiter vor, das Absenk­tempo im Emissions­handel zu erhöhen: Statt wie aktuell um 2,2 Prozent soll die Gesamt­menge der Zertifikate neu jedes Jahr um 4,2 Prozent schrumpfen. Neben der Luftfahrt soll zudem auch die Schiff­fahrt am Emissions­handel teilnehmen. Diese Beschlüsse trieben den CO2-Preis nach oben, in den Bereich von 50 Euro.

An diesem Punkt begannen Markt­beobachter bereits zu werweissen: Könnte der CO2-Preis vielleicht noch viel höher steigen? Abwegig schien dies nicht – denn die generelle Richtung, in die sich der Markt für Emissions­rechte in den kommenden Jahren bewegen wird, gilt als ausgemacht: aufwärts.

Dass der Preis nun aber so rasch gestiegen ist – innert weniger Monaten auf 90 Euro –, liegt nicht primär an der Politik, sondern an der Gross­wetter­lage auf dem Energie­markt. Seit letztem Herbst herrscht weltweit eine Knappheit, was sich besonders in hohen Gaspreisen niederschlug. Die hohen Gaspreise wiederum führten dazu, dass in Europa vermehrt Elektrizität mit Kohle produziert wurde. Und weil Kohle­strom im Vergleich zu Gasstrom deutlich mehr CO2 verursacht, stieg auch die Nachfrage nach Emissions­zertifikaten.

So ist in Europa plötzlich wahr geworden, was sich Klima­ökonominnen sonst nur in ihren kühnsten Träumen ausmalen: Der CO2-Preis hat ein Niveau erreicht, auf dem er effektiv eine Wirkung entfaltet. Dies ist gemäss einer Umfrage ab rund 100 Dollar der Fall: Hier wird der Anreiz stark genug, dass Unternehmen ihre Technologien umrüsten und das Netto-null-Ziel erreichbar wird.

Ein volatiler Markt

Ungewiss ist allerdings, wie nachhaltig das Kurs­niveau ist. Frieden in der Ukraine und warmes Wetter würden genügen, damit die Gaspreise wieder fallen – und so auch die Nachfrage nach CO2-Zertifikaten gedämpft würde.

Unabhängig davon ist auch der Emissions­handel selbst unberechenbar geworden. Nicht nur Firmen handeln dort ihre Zertifikate: Auch weitere Akteure sind inzwischen in diesem Markt aktiv. Zu ihnen zählen etwa institutionelle Investoren (also Versicherungen oder Pensions­kassen), die sich mit Emissions­zertifikaten gegen steigende CO2-Preise absichern wollen, sowie Hedgefonds, die Zertifikate auf Vorrat kaufen, um auf steigende CO2-Preise zu wetten. Diese Akteure können den Handels­preis von CO2 nach unten treiben, genauso wie sie ihn zuletzt nach oben getrieben haben.

Der Preis von CO2 schwankt deshalb zunehmend – der Emissions­handel ist volatil. Für die Energie­wende sind das keine optimalen Rahmen­bedingungen. Denn die unklaren Preis­signale machen es für Unternehmen schwierig, die finanziellen Vor- und Nachteile von Emissions­reduktionen zu kalkulieren.

Trotzdem sind die hohen Zertifikats­preise ein Ausrufe­zeichen. Nicht nur für die teilnehmenden Firmen, sondern auch für das Emissions­handels­system selbst: Fast über Nacht ist dieses vom hässlichen Entlein zum internationalen Muster­beispiel in der Klima­politik geworden. Überall auf der Welt, wo CO2 sonst noch gehandelt wird, kosten Zertifikate maximal 30 Euro. Das ist deutlich zu wenig, um einen tiefgreifenden Wandel herbeizuführen.

Europa weist den Weg

Preis von CO2-Zertifikaten

Europäische Union080 EuroKorea026 EuroKalifornien025 EuroNordost-USA013 EuroChina08 Euro

Preise am 31. Dezember 2021. Quelle: icap

Im neu geschaffenen Emissions­handel von China liegt der CO2-Preis sogar unter 10 Euro. Das System ist deshalb noch ziemlich zahnlos. Erst der Strom­sektor macht darin mit, und die Firmen erhalten Gratis­zertifikate für sämtliche Emissionen, die ihnen pro Kraftwerks­typ gemäss einer Durchschnitts­rechnung zustehen.

Der einzige Anreiz, den dieses System den Strom­produzenten bietet, ist, dass sie ihre Kraftwerke effizienter betreiben: Wenn sie CO2-Einsparungen schaffen, können sie ihre ungenutzten Zertifikate verkaufen. Anreize für eine echte Energie­wende – also für den Wechsel von Kohle­kraftwerken auf Gas-, Atom- oder Solar­kraftwerke – bietet Chinas Emissions­handels­system den Teilnehmerinnen im Moment noch nicht.

Immerhin: Dank des Systems wissen die chinesischen Behörden jetzt, welches Kraftwerk überhaupt wie viele Emissionen verursacht. In einem Land mit chronischen Reporting­problemen ist das bereits ein Fortschritt.

Wenn alles gut geht, wird der chinesische Emissions­handel bald auf Sektoren wie Stahl und Zement ausgeweitet. Und irgendwann wird das System wohl auch eine bindende, kontinuierlich sinkende Obergrenze aufweisen – genau so, wie sie das Emissions­handels­system der EU es seit ein paar Jahren hat.

Der Ausblick

Europa zeigt der Welt also gerade auf, wie Emissions­handel funktionieren kann. Wichtig dabei ist allerdings, dass man den «Preis auf CO2» nicht als allein selig machende Formel zum Erreichen des Netto-null-Ziels begreift.

So hat sich die EU etwa Ausbau­ziele für erneuerbare Energien gesetzt, sie hat Normen zum Treibhausgas­ausstoss von Autos erlassen und investiert mit dem Corona-Wiederaufbau­fonds gezielt Mittel in klima­freundliche Projekte.

Nur im Zusammenspiel können all diese Massnahmen zum Erfolg führen, sagt Simon Evans, Experte beim Thinktank Carbon Brief. «Putting a price on carbon genügt vielleicht in einem ökonomischen Modell, in dem die Akteure über vollständige Informationen und perfekte Voraussicht in die Zukunft verfügen. In der realen Welt braucht es nebst dem CO2-Preis aber noch zusätzliche Massnahmen, um die Dekarbonisierung voranzutreiben.»

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